Die bekanntesten Werke von Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow
er sich wieder an den Gast: »mein Ehegespenst hat einen mordsgroßen Roman vollendet und wird ihn heute vorlesen.«
»Jeanchen,« wandte sich Wjera Iossifowna an ihren Mann, »dites que l'on nous donne du thé.«
Starzew lernte auch die Tochter Jekaterina Iwanowna kennen, die der Mutter sehr ähnlich sah und ebenso schmächtig wie diese war. Der Ausdruck ihres hübschen Gesichts war noch kindlich, und ihre Figur schlank und graziös; auch der jungfräuliche, schon erblühte, schöne Busen atmete Frühling, echten Frühling. Sie tranken Tee mit Marmelade, Honig, Konfekt und außerordentlich schmackhaftem Gebäck, das im Munde schmolz. Als der Abend anbrach, versammelten sich auch die anderen Gäste, und Iwan Petrowitsch sah einen jeden von ihnen mit seinen lachenden Augen an und sagte:
»Ich grütze Sie!«
Später saßen alle mit sehr ernsten Gesichtern im Salon, während Wjera Iossifowna ihren Roman vorlas. Er begann mit den Worten: »Der Frost nahm zu ...« Die Fenster standen weit offen, man hörte die Messer in der Küche klopfen und roch die gerösteten Zwiebeln ... In den weichen, tiefen Sesseln saß es sich so bequem, das Lampenlicht flackerte so freundlich im Dämmer des Salons; und wie man so an diesem Sommerabend saß, die Stimmen und das Lachen von der Straße her hörte und den Fliederduft, der vom Garten kam, einatmete, konnte man sich schwer vorstellen, wie der Frost zunahm und die untergehende Sonne mit ihren kalten Strahlen die schneeverwehte Steppe und den einsamen Wanderer beleuchtete; Wjera Iossifowna las von einer jungen hübschen Gräfin, wie sie in ihrem Dorfe Schulen, Krankenhäuser und Bibliotheken errichtete und wie sie sich in einen wandernten Künstler verliebte; sie las von Dingen, die im Leben niemals vorkommen, und doch war es so angenehm und gemütlich, ihr zuzuhören: allerlei schöne, beruhigende Gedanken kamen einem in den Sinn, und man hatte gar nicht Lust, aufzustehen.
»Nicht übelhaft ...« sagte leise Iwan Petrowitsch.
Und einer von den Gästen, der mit seinen Gedanken irgendwo sehr weit weg war, sagte kaum hörbar:
»Ja ... in der Tat ...«
So vergingen an die zwei Stunden. Im nahen Stadtgarten spielte ein Orchester und sang ein Bauernchor. Als Wjera Iossifowna ihr Manuskript zuklappte, herrschte an die fünf Minuten lang Schweigen, und alle lauschten dem Volksliede, das der Chor sang und das von Dingen erzählte, die es im Roman nicht gab, die aber im Leben wohl vorkommen.
»Lassen Sie Ihre Werke in den Zeitschriften erscheinen?« fragte Starzew Wjera Iossifowna.
»Nein,« antwortete sie, »ich lasse sie nirgends erscheinen. Wenn ich etwas fertig habe, so tue ich es in meinen Schrank. Wozu soll ich es auch drucken? Wir haben ja Mittel.«
Alle seufzten aus irgendeinem Grunde leise auf.
»Und jetzt spiel du etwas vor, Kätzchen,« wandte sich Iwan Petrowitsch an die Tochter.
Man hob den Deckel des Klaviers und schlug das Notenheft auf, das schon bereit lag. Jekaterina Iwanowna setzte sich hin und schlug mit beiden Händen in die Tasten; gleich darauf schlug sie noch einmal mit aller Kraft hin, und dann noch einmal, und noch einmal; ihre Schultern und Brust bebten, sie schlug hartnäckig immer auf die gleiche Stelle los, und man hatte den Eindruck, daß sie nicht eher aufhören wollte, als bis sie die Tasten tief ins Klavier hineingejagt haben würde. Der Salon füllte sich mit Donner; alles dröhnte: der Fußboden, die Decke, die Möbel ... Jekaterina Iwanowna spielte ein schwieriges Stück, das sehr lang und eintönig, aber gerade durch seine Schwierigkeiten interessant war. Starzew hörte zu und stellte sich vor, daß von einem hohen Berge Steine herabrollen, unaufhörlich herabrollen, und er hatte den Wunsch, daß sie nicht mehr herabrollen; aber Jekaterina Iwanowna, die vor Anspannung ganz rosig war, und so stark und energisch, dreinschlug, während ihr eine Locke auf die Stirne gefallen war, gefiel ihm sehr gut. Es war ihm so angenehm, so neu, nach dem Winter, den er in Djalisch unter den Bauern und Kranken verbracht hatte, hier im Salon zu sitzen, dieses junge, hübsche und wahrscheinlich keusche Wesen anzublicken und diesen lauten, ennuyanten, aber immerhin von Kultur zeugenden Tönen zu lauschen ....
»Kätzchen, du hast heute so gespielt, wie noch nie,« sagte Iwan Petrowitsch mit Tränen in den Augen, als die Tochter fertig war und sich von ihrem Platze erhob. »Nun kannst du ruhig sterben: besser spielst du deinen Lebtag nicht.«
Alle drängten sich um sie, beglückwünschten und bewunderten sie und behaupteten, daß sie schon lange keine solche Musik gehört hätten, sie aber hörte schweigend, leise lächelnd zu, und ihr ganzes Wesen drückte Triumph aus.
»Wunderbar! Herrlich!«
»Wunderschön!« sagte auch Starzew, sich von der allgemeinen Begeisterung hinreißen lassend. »Wo haben Sie Musik studiert?« fragte er Jekaterina Iwanowna: »Am Konservatorium?«
»Nein, aufs Konservatorium will ich erst kommen, vorläufig habe ich hier Stunden genommen, bei der Madame Zawlowska.«
»Haben Sie auch das hiesige Mädchengymnasium besucht?«
»Oh nein!« antwortete Wjera Iossifowna für ihre Tochter. »Wir haben stets Privatlehrer im Haus, Sie werden doch zugeben, daß im Gymnasium oder einem Institut schädliche Einflüsse möglich sind; ein junges Mädchen soll aber nur unter dem Einflusse ihrer Mutter stehen.«
»Und doch gehe ich aufs Konservatorium!« erklärte Jekaterina Iwanowna.
»Nein, Kätzchen liebt die Mama. Kätzchen wird Papa und Mama keinen Kummer machen wollen.«
»Nein, ich gehe doch hin! Ganz bestimmt!« sagte Jekaterina Iwanowna halb im Scherz und stampfte trotzig mit dem Füßchen.
Während des Abendessens zeigte auch Iwan Petrowitsch seine Künste. Nur mit den Augen allein lachend, erzählte er Witze, stellte Scherzfragen, die er sofort selbst beantwortete, und sprach die ganze Zeit seine eigentümliche Sprache, die er sich offenbar durch langjährige Uebungen im Witzemachen angeeignet hatte und die ihm wohl zur Gewohnheit geworden war: nicht übelhaft; leben Sie sowohl, als auch; ich grütze Sie; ich danke vergebens und dergleichen.
Das war aber noch nicht alles. Als die Gäste, satt und zufrieden, sich im Vorzimmer drängten und ihre Mäntel und Stöcke suchten, half ihnen dabei der Lakai Pawluscha, oder Pawa, wie man ihn nannte, ein vierzehnjähriger Junge mit kurzgeschorenem Kopf und Pausbacken.
»Nun, Pawa, produziere dich!« sagte ihm Iwan Petrowitsch.
Pawa stellte sich in Positur, hob einen Arm in die Höhe und sprach in tragischem Ton:
»Stirb, Unselige!«
Und alle lachten.
– Nicht uninteressant, – sagte sich Starzew, als er draußen war.
Er ging noch in ein Restaurant, trank ein Glas Bier und begab sich dann zu Fuß nach Djalisch. Im Gehen sang er ununterbrochen das Rubinsteinsche Lied:
»Die Stimme dein, so zärtlich und so freundlich...«
Als er die neun Werst gegangen war und sich später zu Bett legte, spürte er nicht die geringste Müdigkeit; im Gegenteil, er hatte den Eindruck, daß er mit dem größten Vergnügen noch weitere zwanzig Werst gehen könnte.
– Nicht übelhaft ... – fiel es ihm im Einschlafen ein, und er mußte lachen.
II
Starzew wollte die Turkins bald wieder besuchen, aber im Krankenhause gab es so viel zu tun, daß er unmöglich eine freie Stunde finden konnte. So verbrachte er mehr als ein Jahr in seiner Arbeit, in voller Weltabgeschiedenbeit; plötzlich kam aber aus der Stadt ein Brief in einem blauen Kuvert.
Wjera Iossifowna litt schon seit längerer Zeit an Migräne, in der letzten Zeit aber, als das Kätzchen sie jeden Tag mit der Drohung erschreckte, aufs Konservatorium zu gehen, wiederholten sich ihre Anfälle immer öfter. Sie hatte schon sämtliche Aerzte der Stadt konsultiert, und nun kam die Reihe an den Landarzt. Wjera Iossifowna schrieb