Die bekanntesten Werke von Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow
rief der Franzose.
Es stellte sich heraus, daß die Hausfrau das Mädchen irgendwohin fortgeschickt hatte.
»Oh, das hat nichts zu sagen,« sagte der Franzose mit einem breiten Lächeln. »Ich gehe gleich selbst hin und hole Brot. Oh, das macht nichts!«
Er legte seine starke, stinkende Zigarre an eine sichtbare Stelle, setzte den Hut auf und ging. Als er draußen war, begann die Mama der Musiklehrerin zu erzählen, wie sie bei den Schumichins zu Besuch gewesen war und wie schön man sie dort aufgenommen hatte.
»Lilli Schumichina ist ja meine Verwandte ...« sagte sie.
»Ihr verstorbener Mann, General Schumichin war ein Cousin meines Mannes. Und sie selbst ist eine geborene Baronin Kolb ...«
»Mama, es ist ja nicht wahr!« sagte Wolodja gereizt: »Wozu die Lüge?«
Er wußte sehr gut, daß seine Mama die Wahrheit sprach; in ihren Worten über den General Schumichin und die geborene Baronin Kolb war nichts erlogen, und doch hatte er das Gefühl, daß alles Lüge sei. Er fühlte die Lüge in ihrer Manier zu sprechen, in ihrem Gesichtsausdruk, im Blick, in allem.
»Sie lügen!« wiederholte Wolodja und schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, daß das ganze Geschirr klirrte und die Mama ihren Tee verschüttete. »Warum erzählen Sie von den Generälen und Baroninnen? Alles ist Lüge!«
Die Musiklehrerin wurde verlegen und begann ins Taschentuch zu husten, als ob ihr etwas in die unrechte Kehle gekommen wäre, und die Mama brach in Tränen aus.
– Wohin soll ich nun gehen? – fragte sich Wolodja.
Auf der Straße war er schon gewesen; seine Freunde aufzusuchen, schämte er sich. Wieder kamen ihm unberufen die beiden kleinen Engländerinnen in den Sinn ... Er schlenderte einmal von Ecke zu Ecke und ging dann ins Zimmer Augustin Michailowitschs. Hier roch es stark nach ätherischen Oelen und Glyzerinseife. Auf dem Tisch, auf den Fensterbänken und sogar auf den Stühlen standen eine Menge Fläschchen, Gläschen und Schälchen mit allerlei farbigen Flüssigkeiten. Wolodja nahm vom Tisch eine Zeitung, entfaltete sie und las den Titel: »Figaro« ... Der Zeitung entströmte irgendein starker und angenehmer Duft. Dann fand er auf dem Tische einen Revolver ....
»Beruhigen Sie sich, machen Sie sich nichts draus!« tröstete im Nebenzimmer die Musiklehrerin seine Mama. »Er ist ja noch so jung! In seinem Alter erlauben sich die jungen Leute oft zu viel. Da muß man schon ein Auge zudrücken.«
»Nein, Jewgenia Andrejewna, er ist allzu verdorben!« sagte die Mama in singendem Tone. »Er hat niemand über sich, und ich bin schwach und kann nichts ausrichten. Nein, ich bin wirklich unglücklich!«
Wolodja steckte sich den Lauf des Revolvers in den Mund, tastete mit dem Finger nach dem Hahn oder Abzug und drückte ... Dann fand er noch einen anderen Vorsprung und drückte noch einmal. Er nahm den Lauf aus dem Munde, trocknete ihn mit dem Schoße des Mantels ab und besah sich den Mechanismus ... er hatte noch nie im Leben eine Schußwaffe in der Hand gehabt ....
– Ich glaube, man muß erst das da heben ... – überlegte er sich. – Ja, wahrscheinlich so ... –
Ins Gesellschaftszimmer kam eben Augustin Michailowitsch zurück und begann, laut lachend, etwas zu erzählen. Wolodja steckte sich den Revolverlauf wieder in den Mund, preßte ihn mit den Zähnen zusammen und drückte wieder mit dem Finger ... Der Schuß krachte ... Etwas schlug Wolodja mit furchtbarer Kraft in den Nacken, und er fiel auf den Tisch, mit dem Gesicht auf die Fläschchen und Gläschen. Dann sah er, wie sein verstorbener Vater im Zylinderhut mit breitem Flor, den er damals in Mentone, als er irgendeine Dame beweinte, trug, ihn plötzlich mit beiden Armen ergriff ... Und sie flogen beide in irgendeinen finsteren, tiefen Abgrund.
Und dann vermischte sich alles und verschwand ....
Jonytsch
Übersetzt von Alexander Eliasberg
I
Wenn sich die Fremden in der Gouvernementsstadt S. über die Langweile und Eintönigkeit des Lebens beklagten, so rechtfertigten sich die Ortsbewohner, daß es in S. im Gegenteil sogar sehr schön sei, daß man hier eine Bibliothek, ein Theater und einen Klub hätte, daß manchmal Bälle veranstaltet werden und daß es schließlich auch intelligente, interessante, angenehme Familien gäbe, mit denen man verkehren könne. Und sie wiesen gewöhnlich auf die Familie Turkin hin, als auf die intelligenteste und talentierteste.
Diese Familie bewohnte ein eigenes Haus in der Hauptstraße neben dem Hause des Gouverneurs. Iwan Petrowitsch Turkin selbst, ein korpulenter, hübscher Herr mit schwarzem Backenbart, organisierte Liebhabervorstellungen mit wohltätigem Zweck, in denen er selbst die Rollen alter Generäle spielte und dabei sehr komisch hustete. Er kannte zahllose Witze, Wortspiele, Scherzfragen, komische Redensarten, liebte zu witzeln und geistreich zu tun und hatte immer einen solchen Gesichtsausdruck, daß man unmöglich erraten konnte, ob er Scherz oder Ernst mache. Seine Frau, Wjera Iossifowna, eine schmächtige Dame von angenehmem Aeußeren, mit einem Zwicker auf der Nase, schrieb Romane und Novellen und las sie gerne ihren Gästen vor. Die Tochter, Jekaterina Iwanowna, ein achtzehnjähriges junges Mädchen, spielte Klavier. Mit einem Worte, jedes Mitglied dieser Familie hatte irgendein Talent. Die Turkins übten große Gastfreundschaft und zeigten ihren Gästen ihre Talente mit Vergnügen und Herzenseinfalt. In ihrem großen, aus Stein erbauten Hause war es geräumig und im Sommer angenehm kühl, und die Hälfte der Fenster ging nach dem alten schattigen Garten hinaus, wo im Frühjahr die Nachtigallen sangen; wenn im Hause Besuch war, so klopften in der Küche die Messer, im Hofe roch es nach gerösteten Zwiebeln, und das verhieß jedesmal ein reichliches und schmackhaftes Abendessen.
Auch dem Doktor Dmitrij Ionytsch Starzew, der soeben den Posten eines Landarztes bekommen und sich in Djalisch, neun Werst von S. niedergelassen hatte, erklärte man, daß er als gebildeter Mann unbedingt die Familie Turkin kennen lernen müsse. Einmal im Winter machte ihn jemand auf der Straße mit Iwan Petrowitsch bekannt; sie wechselten einige Worte über das Wetter, über das Theater, über die Cholera, und gleich darauf kam auch die Einladung. An einem Feiertage im Frühjahr – es war Himmelfahrt – begab sich Starzew nach der Sprechstunde in die Stadt, um sich etwas zu zerstreuen und auch einige Einkäufe zu machen. Er ging zu Fuß (eigene Pferde hatte er damals noch nicht), und sang vor sich hin:
»Als ich noch keine Tränen trank aus dieses Daseins Kelch ...«
In der Stadt aß er zu Mittag, ging dann im Stadtgarten spazieren; plötzlich kam ihm die Einladung Iwan Petrowitschs in den Sinn, und er beschloß, die Turkins zu besuchen, um zu sehen, was das für Menschen seien.
»Ich grütze Sie!« empfing ihn Iwan Petrowitsch im Vorzimmer. »Ich bin glücklich, einen so angenehmen Gast bei uns zu sehen. Kommen Sie mit, ich will Sie meinem Ehegespenst vorstellen. Ich sage ihm Wjerotschka,« fuhr er fort, nachdem er den Doktor seiner Frau vorgestellt hatte: »ich sage ihm, daß er nicht das geringste römische Recht hat, immer in seinem Spital zu hocken, und seine freie Zeit der Gesellschaft widmen muß. Nicht wahr, Herzchen?«
»Setzen Sie sich, bitte,« sagte Wjera Iossifowna, ihm einen Platz an ihrer Seite zeigend. »Sie dürfen mir den Hof machen. Mein Mann ist zwar eifersüchtig wie ein Othello, aber wir wollen uns so benehmen,