Die bekanntesten Werke von Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow
und nicht eine liederliche, geschiedene Frau begraben wäre... .
– Nur weinen, weinen! dachte Uselkow.
Aber der Moment dazu war verschwunden. Wie auch der Alte mit den Augen zwinkerte, wie sehr er sich auch auf Moll zu stimmen suchte, aber die Tränen wollten nicht rinnen, und die Kehle schnürte sich nicht mehr zusammen... . Nachdem Uselkow ungefähr zehn Minuten so dagestanden hatte, raffte er sich auf und ging, um Schapkin aufzusuchen.
Der Typhus
Übersetzt von Alexander Eliasberg
Im Raucherabteil des Personenzuges, der aus Petersburg nach Moskau ging, saß der junge Oberleutnant Klimow. Sein Gegenüber war ein älterer Herr mit glattrasiertem Seemannsgesicht, wohl ein vermögender Finne oder Schwede, der während der ganzen Fahrt an seiner Pfeife sog und immer über das gleiche Thema sprach:
»Ha, Sie sind Offizier! Auch mein Bruder ist Offizier, aber bei der Marine... . Er ist Seeoffizier und dient in Kronstadt. Wozu reisen Sie nach Moskau?«
»Ich diene in Moskau.«
»Ha! Haben Sie Familie?«
»Nein, ich wohne mit meiner Schwester und meiner Tante.«
»Auch mein Bruder ist Offizier, Seeoffizier, aber er ist verheiratet, er hat eine Frau und drei Kinder. Ha!«
Der Finne staunte über etwas, grinste idiotisch, so oft er sein »Ha!« ausstieß, und blies jeden Augenblick seine übelriechende Pfeife aus. Klimow, der sich unwohl fühlte und dem es schwer fiel, alle die Fragen zu beantworten, haßte ihn mit ganzer Seele. Er dachte sich, wie gut es wäre, wenn man ihm die Pfeife aus der Hand reißen und unter die Bank werfen, und ihn selbst in ein anderes Abteil verjagen könnte.
– Ein ekelhaftes Volk sind diese Finnen und ... auch die Griechen, dachte er sich. – Ein ganz überflüssiges, ekelbaftes Volk, das kein Mensch braucht. Sie nehmen nur umsonst Platz auf dem Erdballe ein. Wozu sind sie überhaupt da? –
Dcr Gedanke an die Finnen und Griechen erregte in seinem ganzen Körper eine Art Uebelkeit. Vergleichshalber wollte er nun an die Franzosen und Italiener denken, aber der Gedanke an diese Völker weckte in ihm nur die Vorstellung von Leierkastenmännern, nackten Weibern und den ausländischen Oeldrucken, wie sie seine Tante über der Kommode hängen hatte.
Der Offizier fühlte sich überhaupt nicht ganz normal. Seine Arme und Beine konnten auf dem Sofa nicht richtig Platz finden, obwohl es ihm ganz zur Verfügung stand; er hatte ein trockenes und klebriges Gefühl im Munde, und der Kopf war ihm mit einem schweren Nebel gefüllt; seine Gedanken regten sich, wie es ihm schien, nicht nur im Schädel, sondern auch außerhalb des Schädels, zwischen den Sofas und den in nächtliches Dunkel gehüllten Menschen. Durch den Nebel hindurch hörte er wie im Traum das Murmeln der Stimmen, das Klopfen der Räder und das Zuschlagen der Türen. Die Glockenzeichen, die Pfiffe der Schaffner, das Herumrennen des Publikums auf den Bahnsteigen waren viel öfter zu hören als gewöhnlich. Die Zeit flog schnell und unmerklich dahin, und darum schien es ihm, daß der Zug jede Minute an einer Station hielt, und jeden Augenblick hörte er die metallischen Stimmen:
»Ist die Post fertig?«
»Fertig!«
Es kam ihm vor, als ob der Heizer viel zu oft in den Wagen käme und auf das Thermometer schaue, als ob das Brausen der entgegenkommenden Züge und das Dröhnen der Räder auf den Brücken ununterbrochen zu hören wären. Der Lärm, die Pfiffe, der Finne, der Tabakrauch – alles vermischte sich mit den Drohungen und dem Winken nebliger Gestalten, auf deren Form und Charakter ein gesunder Mensch sich nicht besinnen kann, und lastete auf Klimow wie ein unerträglicher Alp. Von entsetzlichem Unlustgefühl bedrückt, hob er zuweilen den schweren Kopf, sah nach einer Laterne, in deren Lichte Schatten und Nebelflecke tanzten, und wollte um Wasser bitten, aber seine ausgetrocknete Zunge bewegte sich kaum, und er hatte fast nicht die Kraft, die Fragen des Finnen zu beantworten. Er versuchte, sich bequem auszustrecken und einzuschlafen, aber das gelang ihm nicht; der Finne schlief ein, erwachte, setzte seine Pfeife in Brand, wandte sich an ihn mit seinem »Ha!« und schlief wieder ein, und das wiederholte sich einigemal, aber die Beine des Oberleutnants konnten noch immer nicht Platz auf dem Sofa finden, und die drohenden Gestalten standen immer vor seinen Augen.
In Spirowo ging er ins Stationsgebäude, um Wasser zu trinken. Er sah hier Leute am Tische sitzen und mit großer Eile essen.
– Wie können sie nur essen! dachte er sich und gab sich Mühe, die Luft, die nach gebratenem Fleische roch, nicht einzuatmen und die kauenden Münder nicht zu sehen: beides erschien ihm ekelerregend.
Eine hübsche Dame unterhielt sich laut mit einem Offizier in roter Mütze und zeigte beim Lächeln herrliche weiße Zähne; das Lächeln, die Zähne und die Dame selbst erregten in Klimow den gleichen Ekel wie der Schinken und die Kotelette. Er konnte nicht begreifen, wie der Offizier in roter Mütze den Mut hatte, an ihrer Seite zu sitzen und ihr blühendes, lächelndes Gesicht anzuschauen.
Er trank etwas Wasser, und als er in sein Abteil zurückkehrte, war der Finne wieder wach und rauchte. Seine Pfeife gab heisere, schluchzende Töne von sich wie ein durchlöcherter Gummischuh bei nassem Wetter.
»Ha!« rief er erstaunt. »Was ist das für eine Station?«
»Ich weiß nicht,« antwortete Kliwow. Er legte sich hin und schloß den Mund, um den beißenden Tabakrauch nicht atmen zu müssen.
»Und wann kommen wir nach Twer?«
»Ich weiß nicht. Entschuldigen Sie, ich ... ich kann Ihnen keine Antwort geben. Ich bin krank, ich habe mich erkältet.«
Der Finne klopfte seine Pfeife am Fensterrahmen aus und begann von seinem Bruder, dem Seeoffizier zu erzählen. Klimow hörte ihm nicht mehr zu und dachte mit Sehnsucht an sein weiches, bequemes Bett, an die Karaffe mit kaltem Wasser und an seine Schwester Katja, die es so gut versteht, ihn zu Bett zu bringen, zu beruhigen und ihm Wasser zu reichen. Er lächelte sogar, als er in Gedanken seinen Burschen Pawel sah, wie er ihm die schweren, drückenden Stiefel auszog und ein Glas Wasser auf das Nachttischchen stellte. Er glaubte, daß, wenn er sich bloß in sein Bett legen und etwas Wasser trinken könnte, der Alp einem tiefen, gesunden Schlafe Platz machen würde.
»Ist die Post fertig?« fragte draußen eine dumpfe Stimme.
»Fertig!« antwortete eine Baßstimme dicht vor dem Fenster.
Das war schon die zweite oder dritte Station nach Spirowo.
Die Zeit flog schnell, ruckweise dahin, und es war ihm, als ob die Glockenzeichen, Pfiffe und Haltestellen niemals aufhören würden. Klimow drückte das Gesicht voller Verzweiflung in eine Sofaecke, umfaßte den Kopf mit beiden Händen und begann wieder an seine Schwester Katja und den Burschen Pawel zu denken; aber die Schwester und der Bursche vermischten sich mit den Nebelbildern und verschwanden. Sein heißer Atem wurde von der Sofalehne zurückgeworfen und versengte ihm das Gesicht, seine Beine lagen unbequem, aus dem Fenster zog es ihm in den Rücken, aber wie qualvoll seine Lage auch war, wollte er sie doch nicht mehr wechseln... . Eine schwere, unheimliche Faulheit bemächtigte sich seiner und fesselte seine Glieder.
Als er sich entschloß, den Kopf zu heben, war es im Wagen schon ganz hell. Die Passagiere zogen ihre Pelzmäntel an und bewegten sich hin und her. Der Zug hielt. Träger mit weißen Schürzen und Blechnummern an der Brust machten sich überall zu schaffen und griffen nach dem Gepäck. Klimow zog seinen Mantel an und ging mechanisch mit den anderen aus dem Wagen. Es schien ihm, als ob es gar nicht er sei, der da ging, sondern jemand anderer, Fremder, und er fühlte, daß zugleich mit ihm auch sein Fieber, sein Durst und die drohenden Gestalten, die ihn die ganze Nacht nicht hatten einschlafen lassen, aus dem Wagen gestiegen waren. Er holte mechanisch sein Gepäck und nahm sich eine Droschke. Der Droschkenkutscher verlangte von ihm in der Powarskajastraße einen Rubel fünfundzwanzig, er aber feilschte nicht und setzte sich gehorsam in den Schlitten. Den Unterschied zwischen den Zahlen