Die bekanntesten Werke von Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow
Schwester Katja, ein achtzehnjähriges junges Mädchen. Katja hielt bei der Begrüßung ein Heft und einen Bleistift in der Hand, und er erinnerte sich, daß sie sich zum Lehrerinnenexamen vorbereitete. Ohne die Fragen und Begrüßungen zu beantworten, ging er planlos durch alle Zimmer, dann zu seinem Bett und fiel mit dem Kopf in die Kissen. Der Finne, die rote Mütze, die Dame mit den weißen Zähnen, der Bratengeruch und die verschwimmenden Flecken füllten auf einmal sein ganzes Bewußtsein, und er wußte nicht mehr, wo er war, und hörte nicht die besorgten Stimmen.
Als er zu sich kam, sah er sich entkleidet in seinem Bette liegen, sah die Wasserkaraffe auf seinem Nachttisch und den Burschen Pawel, aber davon wurde es ihm weder kühler, noch weicher, noch bequemer. Beine und Arme wollten noch immer nicht richtig liegen, die Zunge klebte am Gaumen, und er hörte das Schmatzen der Pfeife... . Am Bette machte sich, den Burschen Pawel mit seinem breiten Rücken stoßend, der dicke, schwarzbärtige Hausarzt zu schaffen.
»Keine Sorge, junger Mann!« murmelte er. »Sehr schön, sehr schön... . So, so... .«
Der Arzt nannte Klimow einen jungen Mann, und sagte immer: so, so, und: ja, ja... .
»Ja, ja, ja,« schüttelte er nur so hin. »So, so... . Sehr schön, junger Mann... . Nur nicht den Mut verlieren!«
Das schnelle, unhöfliche Gerede des Doktors, sein sattes Gesicht und die herablassende Anrede »junger Mann« brachten Klimow außer sich.
»Warum nennen Sie mich junger Mann?« stöhnte er. »Was für eine plumpe Vertraulichkeit? Zum Teufel!«
Und er erschrak vor seiner eigenen Stimme. So trocken, schwach und singend war diese Stimme, daß er sie gar nicht wiedererkannte.
»Sehr gut, herrlich,« murmelte der Arzt, der sich gar nicht verletzt zu fühlen schien. »Nur keine Aufregung... . Ja, ja... .«
Auch zu Hause flog die Zeit ebenso schnell dahin wie in der Eisenbahn... . Das Tageslicht wechselte in seinem Schlafzimmer jeden Augenblick mit der Abenddämmerung ab. Der Arzt schien von seinem Bette gar nicht wegzugehen, und er hörte jeden Augenblick sein »Ja, ja«. Ein langer Reigen verschiedener Menschen zog an seinem Bette vorbei. Er erkannte den Burschen Pawel, den Finnen, den Feldwebel Marimenko, den Offizier mit der roten Mütze, die Dame mit den weißen Zähnen und den Arzt. Sie alle sprachen, fuchtelten mit den Händen, rauchten und aßen. Einmal erblickte er sogar bei Tageslicht seinen Regimentsgeistlichen P. Alexander, der in vollem Ornat mit dem Brevier in der Hand vor seinem Bette stand, etwas murmelte und dabei ein so ernstes Gesicht machte, wie es Klimow bei ihm noch niemals gesehen hatte. Dem Oberleutnant fiel es ein, daß P. Alexander alle Offiziere katholischer Konfession in freundschaftlichem Verkehr »Pollaken« zu nenen pflegte; um ihn zum Lachen zu bringen, sagte er ihm jetzt:
»Hochwürden, der Pollake Jaroschewitsch ist zu den Aufständischen entlaufen!«
Aber P. Alexander, der sonst lustig und zum Lachen aufgelegt war, lachte jetzt nicht, sondern wurde noch ernster und bekreuzigte Klimow. Während der Nacht erschienen jeden Augenblick zwei Schatten vor seinem Bette. Es waren die Tante und die Schwester. Der Schatten der Schwester kniete nieder und betete: sie verneigte sich vor dem Heiligenbilde, und auch ihr grauer Schatten an der Wand verneigte sich, so daß zwei Schatten zu Gott beteten. Es roch die ganze Zeit nach Braten und nach der Pfeife des Finnen, aber einmal spürte Klimow auch den ausgesprochenen Geruch von Weihrauch. Es wurde ihm davon übel, und er schrie:
»Weihrauch! Fort mit dem Weihrauch!«
Er bekam keine Antwort. Er hörte nur leisen Priestergesang und wie jemand die Treppe auf und ab lief.
Als Klimow wieder zu sich kam, war im Schlafzimmer keine Seele. Die Morgensonne leuchtete durch den Vorhang herein, und ein wie eine Klinge feiner und graziöser zitternder Strahl spielte auf der Karaffe. Draußen dröhnten Wagenräder, also gab es keinen Schnee mehr. Der Oberleutnant betrachtete den Sonnenstrahl, die ihm wohlbekannten Möbel, die Türe und lachte plötzlich auf. Seine Brust und sein ganzer Leib zitterten vor süßem, seligem, kitzelndem Lachen. Seines ganzen Wesens vom Kopf bis zu den Füßen bemächtigte sich das Gefühl eines grenzenlosen Glückes und einer Lebensfreude, wie sie wohl der erste Mensch empfand, als er eben erschaffen war und zum ersten Mal die Welt sah. Klimow verlangte es leidenschaftlich nach Bewegung, nach Menschen, nach Stimmen. Sein Körper lag wie eine unbewegliche Masse da, nur seine Hände allein bewegten sich, aber er merkte es kaum und lenkte seine ganze Aufmerksamkeit auf allerlei Kleinigkeiten. Er freute sich über seinen Atem, über sein Lachen, er freute sich, daß es die Karaffe, die Zimmerdecke, den, Sonnenstrahl und das Band am Fenstervorhang gab. Die Welt Gottes erschien ihm selbst in einem so engen Raume wie sein Schlafzimmer herrlich, reich und groß. Als der Doktor kam, dachte sich der Oberleutnant, was für ein herrliches Ding die Medizin sei, wie lieb und sympathisch der Arzt, und wie gut und interessant alle Menschen wären.
»Ja, ja, ja,« sagte der Doktor. »Herrlich, herrlich. Nun sind wir gesund... . So, so!«
Der Oberleutnant hörte ihm zu und lachte vor Freude. Er erinnerte sich an den Finnen, an den Schinken und an die Dame mit den weißen Zähnen, und spürte plötzlich Lust zu essen und zu rauchen.
»Herr Doktor,« sagte er, »lassen Sie mir doch ein Stück Schwarzbrot mit Salz geben und ... und Sardinen.«
Der Arzt verweigerte es ihm, Pawel hörte nicht auf den Befehl seines Herrn und brachte kein Brot. Der Oberleutnant konnte das nicht ertragen und fing wie ein verzogenes Kind zu weinen an.
»Kleinchen!« rief der Arzt lachend. »Mama! Eia popeia!«
Auch Klimow lachte und schlief, als der Arzt gegangen war, sofort ein. Er erwachte mit dem gleichen Gefühl von Freude und Seligkeit. An seinem Bette saß die Tante.
»Ach so, die Tante!« rief er erfreut. »Was hab ich gehabt?«
»Flecktyphus.«
»So, so. Jetzt ist mir aber so wohl, so wohl! Wo ist Katja?«
»Sie ist nicht zu Hause. Ist wohl nach dem Examen irgendwo hingegangen.«
Als die Alte das sagte, beugte sie sich über ihren Strickstrumpf; ihre Lippen zitterten, sie wandte sich weg und fing plötzlich zu schluchzen an. In ihrer Verzweiflung dachte sie nicht mehr an das Verbot des Arztes und sagte:
»Ach, Katja, Katja! Unser Engel ist nicht mehr! ...«
Sie ließ den Strumpf fallen, und als sie sich nach ihm beugte, rutschte ihr die Haube vom Kopf. Klimow blickte verständnislos ihren grauen Kopf an und fragte erschrocken:
»Wo ist sie denn? Tante!«
Die Alte, die nicht mehr an Klimow, sondern nur noch an ihren Schmerz dachte, sagte:
»Sie hat sich bei dir den Typhus geholt und ... und ist gestorben. Vorgestern hat man sie beerdigt.«
Diese schreckliche, unerwartete Neuigkeit bemächtigte sich im Nu des Bewußtseins Klimows, aber wie entsetzlich und stark sie auch war, konnte sie die animalische Freude doch nicht niederringen, die den genesenden Oberleutnant erfüllte. Er weinte und lachte und begann sehr bald zu schimpfen, daß man ihm nichts zu essen gäbe.
Erst nach einer Woche, als er in seinem Schlafrock, von Pawel gestützt, ans Fenster trat, den bewölkten Frühlingshimmel sah und das unangenehme Dröhnen der alten Eisenbahnschienen, die man gerade vorbeiführte, hörte, krampfte sich sein Herz vor Weh zusammen, und er drückte die Stirne an das Fensterglas und weinte.
»Wie unglücklich bin ich!« stammelte er. »Mein Gott, wie unglücklich!«
Und seine Freude machte Platz der gewohnten Langweile und dem Gefühl eines unwiederbringlichen Verlustes.
Wolodja
Übersetzt von Alexander Eliasberg
Wolodja, ein siebzehnjähriger, unschöner, kränklicher und schüchterner Junge saß an einem Sonntag, gegen