Die bekanntesten Werke von Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow
... bist du krank, was? Ja, warum sagst du denn nichts? Ich frag dich, ob du krank bist?«
Tschipzow schwieg. So verschmiert sein Gesicht auch war, als der Komiker näher zusah, konnte er nicht umhin, seine erschreckende Blässe, den kalten Schweiß und das Zittern seiner Lippen zu bemerken. Seine Arme und Beine zitterten ebenfalls, und der ganze kolossale Körper des riesigen Bonvivants schien gewissermaßen verknüllt, flach gedrückt. Der Komiker sah sich schnell im Zimmer um, aber er erblickte weder Gläser noch Flaschen, noch sonst welche verdächtigen Gefäße.
»Also, Mischutka, du bist krank!« sagte er aufgeregt. »Straf mich Gott, du bist krank! Du hast ja gar kein richtiges Gesicht!«
Tschipzow schwieg und sah niedergeschlagen zu Boden.
»Du mußt dich erkältet haben!« fuhr Sigajew fort und faßte seine Hand, »was für heiße Hände du hast! Was tut dir denn weh?«
»I–ich will nach Hau–Hause,« murmelte Tschipzow.
»Ja, bist du denn vielleicht nicht zu Hause?«
»Nein ... Nach Wjasma ...«
»O je, was du dir ausdenkst! Nach Wjasma kommst du in drei Jahren nicht ... Was, zu Papa und Mama will er? Du lieber Gott, die sind dir längst verfault, nicht mal ihre Gräber wirst du finden können ...«
»Es ist meine Hei–Heimat ...«
»Na, na, werd' nur nicht so melancholisch. Das sind so psychopathische Gefühle, alter Freund, laß das ... Werd' gesund, morgen mußt du im ›Knjas Serebjannyj‹ den Mitjka spielen. Es ist ja kein anderer da. Trink was Heißes und nimm Rizinusöl. Hast du Geld zu Rizinusöl? Oder wart' mal, ich laufe und hol' dir welches.«
Der Komiker suchte in seinen Taschen, fand fünfzehn Kopeken und lief in die Apotheke. Nach einer Viertelstunde kam er wieder.
»Na, trink!« sagte er und hielt dem Heldenvater das Fläschchen an den Mund: »Gleich aus der Buddel ... Mit einem Ruck! So ... Und jetzt iß mal eine Gewürznelke, damit dir von dem Dreck nicht übel wird.«
Der Komiker saß noch eine Zeitlang beim Kranken, dann küßte er ihn zärtlich und ging. Gegen Abend sprach der erste Liebhaber, Brahma-Glinskij, bei Tschipzow vor. Dieser talentvolle Künstler hatte Halbschuhe mit Tucheinsätzen an den Füßen, auf der linken Hand trug er einen Handschuh, er rauchte eine Zigarette und hatte sogar einen Heliotropduft an sich, sah aber nichtsdestoweniger sehr einem Reisenden ähnlich, der in ein Land verschlagen ist, wo es weder Badeanstalten, noch Waschfrauen, noch Schneider gibt ...
»Du bist krank, hör' ich,« so wandte er sich an Tschipzow und drehte sich auf dem Absatz herum. »Was ist dir? Ja, zum Kuckuck, was ist dir?«
Tschipzow schwieg und rührte sich nicht.
»Warum sagst du nichts? Ist dir schwindlig im Kopf? Was? Na, schweig' meinetwegen, ich sage gar nichts ... Schweig ...«
Brahma-Glinskij (so heißt er auf dem Theater, in seinem Paß figuriert der Name Gußjkow) ging zum Fenster, steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute auf die Straße hinaus. Vor seinen Augen breitete sich ein großer freier Platz, von einem grauen Zaun umgeben, an dem sich ein ganzer Wald von vorjährigen Klettenstauden entlang zog. Hinter dem freien Platz sah man eine dunkle, verfallene Fabrik mit dicht vernagelten Fenstern. Um den Schornstein zog eine verspätete Dohle ihre Kreise. Ueber dies ganze langweilige, unbelebte Bild legte sich schon langsam die Abenddämmerung.
»Nach Hause will ich!« hörte der jugendliche Liebhaber.
»Wohin? Nach Hause?«
»Nach Wjasma ... in meine Heimat... .«
»Bis Wjasma sind's fünfzehnhundert Werst... .« seufzte Brahma-Glinskij und trommelte auf den Scheiben. »Was willst du denn in Wjasma?«
»Dort möchte ich sterben... .«
»Aha, das fehlte grade! Was du dir ausdenkst! Zum erstenmal im Leben ist er krank, und gleich bildet er sich ein, jetzt ist der Tod da... . Nein, Freundchen, so einen Büffel wie dich kriegt keine Cholera klein. Hundert Jahre wirst du mindestens... . Was tut dir denn weh?«
»Weh tut mir nichts, aber ich fühl' es... .«
»Nichts fühlst du. Das ist alles nur überschüssige Gesundheit. Die Kräfte rumoren in dir. Du solltest dich tüchtig bekneipen, so saufen, weißt du, daß deine ganze Natur sich umdreht. Der Suff ist was wunderbar Erfrischendes... . Weißt du noch, wie du dich in Rostow am Don vollgenommen hattest? Herr, du mein Gott, ich denke mit Schrecken zurück! Das Fäßchen mit dem Branntwein konnten Sascha und ich zu zweit mit Mühe hereinschleppen, und du trankst es allein aus, und dann ließt du noch Rum holen... . Du warst so voll, daß du mit einem Sack Teufel fingst und eine Gaslaterne mit der Wurzel ausrissest. Weißt du noch? Und dann gingst du noch, Griechen verprügeln... .«
Unter dem Einfluß so angenehmer Erinnerungen hellte sich Tschipzows Gesicht ein wenig auf, und seine Augen fingen zu blitzen an.
»Aber weißt du noch, wie ich den Direktor Sawoitin durchgehauen habe?« murmelte er und hob den Kopf. »Aber das ist ja nicht der Rede wert! Dreiunddreißig Theaterdirektoren hab' ich in meinem Leben verhauen, und was so Leute zweiter Güte angeht, da weiß ich selbst nicht mehr, wieviel. Und was für Direktoren hab' ich gehauen! Kerle, wo der Wind Angst hatte, sie anzublasen! Zwei berühmte Schriftsteller hab' ich durchgehauen, und einen Kunstmaler!«
»Warum weinst du denn?«
»In Chersson hab' ich einen Gaul mit der bloßen Faust erschlagen. Und in Taganrog überfielen mich mal in der Nacht Strolche, fünfzehn Stück. Ich nahm ihnen einfach die Mützen weg, und sie liefen hinter mir her und baten: ›Gnädiger Herr, gib uns unsere Mützen wieder.‹ Ja, das haben wir alles mitgemacht.«
»Was weinst du denn, Schaf?«
»Aber jetzt: matsch ... Ich fühl's. Nach Wjasma möcht ich!«
Es trat eine Pause ein. Nach einem kurzen Schweigen sprang Tschipzow plötzlich auf und griff nach seiner Mütze. Er sah verwirrt aus.
»Adieu! Ich fahr' nach Wjasma!« sagte er und taumelte.
»Und das Reisegeld?«
»Hm! ... Ich geh' zu Fuß!«
»Du bist ja duselig ...«
Sie sahen einander an, wahrscheinlich, weil in ihren Köpfen auf einmal derselbe Gedanke auftauchte ... Der Gedanke an unübersehbare Felder, unendliche Wälder, Sümpfe.
»Du bist ja übergeschnappt, scheint's!« entschied der jugendliche Liebhaber. »Weißt du was, Freundchen ... Jetzt leg dich vor allen Dingen hin, und dann trink Kognak mit Tee, das treibt den Schweiß heraus. Na, und dann Rizinusöl, selbstverständlich. Wart' mal, wo kriegen wir nur Kognak her?«
Brahma-Glinslij überlegte und beschloß, in den Laden der Frau Zitrinnikow zu gehen und bei ihr wegen des Kredits auf den Busch zu klopfen: vielleicht würde das Frauenzimmer Mitleid haben und ihn auf Borg hergeben! Der jugendliche Liebhaber ging und kehrte nach einer halben Stunde mit einer Flasche Kognak und Rizinusöl zurück. Tschipzow saß nach wie vor unbeweglich auf dem Bett, schwieg und starrte auf den Boden. Das Rizinusöl, das sein Kollege ihm anbot, trank er wie ein Automat, ohne daß es ihm zum Bewußtsein gekommen wäre. Wie ein Automat saß er hernach am Tisch und trank Tee mit Kognak. Mechanisch trank er die ganze Flasche leer und ließ sich von seinem Kollegen zu Bett bringen. Der jugendliche Liebhaber deckte ihn mit der Decke und seinem Mantel zu, empfahl ihm, tüchtig zu schwitzen, und ging.
Die Nacht kam. Tschipzow hatte eine ganze Menge Kognak getrunken, schlafen konnte er aber nicht. Er lag unbeweglich unter seinen Hüllen und schaute zur dunklen Decke hinauf. Dann erblickte er den Mond, der ins Fenster schien, und wandte die Augen von der Decke auf den Trabanten der Erde und lag so mit offenen Augen bis zum Morgen. Am Morgen, um neun, stürmte der Direktor Schukow herein.
»Wie, mein Engel, Sie sind nicht wohl?« gackerte er los und machte eine krause Nase. »Oh, oh! Kann man mit so einer Natur überhaupt unwohl sein? Ob, oh, schämen Sie sich! Und ich hab' mich erschreckt,