Die bekanntesten Werke von Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow

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Inhaltsverzeichnis

      Endlich kam ein Brief von Mascha.

      »Mein lieber, guter M.A.,« schrieb sie mir, »mein guter, sanfter Engel, wie Sie der alte Maler nannte, leben Sie wohl, ich reise mit Papa nach Amerika zur Ausstellung. In wenigen Tagen werde ich den Ozean sehen – wie fern ist jetzt von mir unser Dubetschnja, es ist unheimlich, daran zu denken! Es ist so fern und unfaßbar wie der Himmel, und ich strebe nach der Freiheit, ich triumphiere, ich bin ganz verrückt, Sie sehen ja, wie unsinnig dieser Brief ist. Mein Lieber, mein Guter, geben Sie mir die Freiheit, zerreißen Sie schneller den Faden, der uns noch aneinander bindet. Daß ich Ihnen begegnet bin und Sie kennen gelernt habe, war ein himmlischer Strahl, der mein ganzes Sein erleuchtete; aber daß ich Ihre Frau wurde, das war ein Fehler, begreifen Sie das! Die Erkenntnis dieses Fehlers bedrückt mich schwer, und ich flehe Sie kniefällig an, mein großmütiger Freund, mir sehr bald, noch vor meiner Ozeanreise zu telegraphieren, daß Sie bereit sind, unseren gemeinsamen Fehler gutzumachen und diese einzige Last von meinen Flügeln zu nehmen. Mein Vater, der alle Scherereien auf sich nehmen will, hat mir versprochen, Sie nicht zu sehr mit den Formalitäten zu belästigen. Ich bin also ganz frei? Ja?

      Seien Sie glücklich, Gott segne Sie, verzeihen Sie mir, Sünderin.

       Ich lebe und bin gesund. Ich gebe viel Geld aus, mache viel Dummheiten und danke jeden Augenblick Gott, daß eine so schlechte Frau, wie ich, keine Kinder hat. Ich singe und habe Erfolg, aber das ist keine Laune, nein, das ist mein sicherer Hafen, meine Zelle, in der ich jetzt Ruhe finde. König David hat einen Ring gehabt mit der Inschrift: ›Alles vergeht‹. Wenn man traurig ist, machen einen diese Worte lustig, und wenn man lustig ist, stimmen sie traurig. Auch ich habe mir solch einen Ring mit hebräischer Inschrift angeschafft, und dieser Talisman wird mich vor Verirrungen schützen. Alles vergeht, auch das Leben wird vergehen, folglich braucht der Mensch nichts. Oder der Mensch braucht nur das Bewußtsein der Freiheit, denn wenn er frei ist, so braucht er nichts, gar nichts. Zerreißen Sie also den Faden. Ich umarme Sie und Ihre Schwester. Verzeihen Sie mir und vergessen Sie Ihre M.«

      Meine Schwester lag in dem einen Zimmer, und Rettich, der wieder von seiner Krankheit genas, im anderen. Als ich diesen Brief bekam, ging meine Schwester leise zum Maler, setzte sich neben ihn und begann ihm vorzulesen. Sie las ihm täglich etwas von Ostrowskij oder Gogol vor, und er hörte ihr zu, auf einen Punkt starrend, ohne zu lachen, immerfort den Kopf schüttelnd und ab und zu vor sich hinmurmelnd:

      »Alles ist möglich! Alles ist möglich!«

      Wenn im Stück etwas Unschönes vorkam, so sagte er schadenfroh, mit dem Finger aufs Buch zeigend:

      »Da ist die Lüge! Da sieht man, wozu die Lüge führt!«

      Die Stücke fesselten ihn wie durch ihren Inhalt so auch durch die Moral und den kunstvollen Aufbau. Er bewunderte die Dichter, ohne sie je beim Namen zu nennen:

       »Wie geschickt hat er das hingesetzt!«

      Meine Schwester las diesmal nur eine Seite vor; mehr konnte sie nicht, denn ihre Stimme versagte. Rettich nahm sie bei der Hand, bewegte seine ausgetrockneten Lippen und sagte kaum hörbar mit heiserer Stimme:

      »Die Seele des Gerechten ist weiß und glatt wie Kreide, und die Seele des Sünders ist wie Bimsstein. Die Seele des Gerechten ist wie heller Firnis, und die Seele des Sünders wie Gaspech. Man muß arbeiten, man muß leiden, man muß trauern,« fuhr er fort, »denn ein Mensch, der nicht arbeitet und nicht leidet, kommt nicht ins Himmelreich. Wehe, wehe den Satten, wehe den Mächtigen, wehe den Reichen, wehe den Wucherern! Sie werden das Himmelreich nicht schauen. Die Läuse fressen das Gras, der Rost – das Eisen ...«

      »Und die Lüge – die Seele,« ergänzte meine Schwester lachend.

      Ich las den Brief noch einmal. In diesem Augenblick kam in die Küche ein Soldat, der uns zweimal in der Woche Tee, Semmeln und Rebhühner, die nach Parfüm rochen; brachte; wir wußten nicht, von wem. Ich hatte keine Arbeit und saß tagelang zu Hause; derjenige, der uns das alles schickte, wußte offenbar, daß wir Not litten.

      Ich hörte, wie meine Schwester lustig lachend mit dem Soldaten sprach. Später aß sie im Liegen eine Semmel und sagte zu mir:

      »Als du nicht länger in Stellung bleiben wolltest und Maler wurdest, wußten wir, Anjuta Blagowo und ich, schon gleich am Anfang, daß du recht hattest, aber wir scheuten uns, es laut auszusprechen. Sag' einmal, was ist es, was den Menschen abhält, seine Gedanken auszusprechen? Nimm zum Beispiel diese Anjuta Blagowo. Sie liebt dich, sie verehrt dich, sie weiß, daß du im Rechte bist; sie liebt auch mich wie eine Schwester und weiß, daß ich im Rechte bin; im innersten Herzen beneidet sie mich sogar, aber etwas hält sie davon ab, zu uns zu kommen; sie meidet uns, sie fürchtet uns.«

      Meine Schwester faltete ihre Hände auf der Brust und sagte begeistert:

      »Wenn du nur wüßtest, wie sehr sie dich liebt! Diese Liebe hat sie nur mir allein gestanden, und auch das nur im Dunkeln, ganz leise. Manchmal führte sie mich in eine dunkle Allee und flüsterte mir zu, wie teuer du ihr seist. Du wirst es sehen, sie wird niemals heiraten, weil sie dich liebt. Tut sie dir nicht leid?«

      »Ja.«

      »Sie hat uns auch diese Semmeln geschickt. Es ist wirklich lächerlich, warum verheimlicht sie es? Auch ich war lächerlich und dumm gewesen, nun bin ich von dort weggegangen und habe vor niemand mehr Angst. Ich denke und sage, was ich will und bin glücklich. Als ich noch zu Hause wohnte, hatte ich keine Ahnung von Glück, jetzt würde ich aber auch nicht mit einer Königin tauschen.«

      Nun kam Doktor Blagowo. Er hatte sein Doktordiplom bekommen und ruhte jetzt in unserer Stadt bei seinem Vater aus. Er sagte, daß er bald wieder nach Petersburg gehen wolle, um sich mit den Schutzimpfungen gegen Typhus und, ich glaube, auch gegen die Cholera zu befassen; er wollte auch noch ins Ausland gehen, um sich zu vervollkommnen und später einen Lehrstuhl zu bekommen. Den Militärdienst hatte er aufgegeben und trug nun ein bequemes Cheviotjackett, weite Hosen und prachtvolle Krawatten. Meine Schwester war von seinen Krawattennadeln, Manschettenknöpfen und vom roten Seidentuch, das er aus Koketterie in der vorderen Rocktasche trug, entzückt. Einmal zählten wir aus Langweile alle seine Anzüge auf, die wir kannten, und es waren ihrer mindestens zehn. Es war klar, daß er meine Schwester immer noch liebte, aber er hatte kein einziges Mal, nicht einmal im Scherz gesagt, daß er sie nach Petersburg oder ins Ausland mitnehmen wolle, und ich konnte mir gar nicht vorstellen, was aus ihr, wenn sie am Leben bliebe, und was aus ihrem Kinde werden würde. Sie aber träumte ohne Ende und dachte nie ernsthaft an die Zukunft; sie sagte, er könne verreisen, wohin er wolle, er dürfe sie sogar verlassen, wenn er nur selbst glücklich sei; ihr aber genüge schon das, was gewesen.

      Wenn er zu uns kam, untersuchte er sie sehr eingehend und verlangte, daß sie in seiner Gegenwart Milch mit irgendwelchen Tropfen trinke. Auch heute tat er es. Er untersuchte sie und zwang sie ein Glas Milch zu trinken, und dann roch es in unserem Zimmer nach Kreosol.

      »Das ist vernünftig,« sagte er, ihr das Glas aus der Hand nehmend. »Du sollst nicht viel sprechen, du aber plauderst in der letzten Zeit wie eine Elster. Sei, bitte, still.«

      Sie lachte. Dann ging er in das Zimmer Rettichs, bei dem ich saß, und klopfte mir freundlich auf die Schulter.

      »Nun, wie geht's, Alter?« fragte er, sich über den Kranken beugend.

      »Euer Hochwohlgeboren ...« sagte Rettig, leise die Lippen bewegend: »Euer Hochwohlgeboren, ich erlaube mir zu bemerken ... wir alle stehen in Gottes Hand, wir alle müssen sterben ... Erlauben Sie, daß ich die Wahrheit sage ... Euer Hochwohlgeboren, Sie werden nicht ins Himmelreich kommen!«

       »Nun, was soll man machen,« scherzte der Doktor, »jemand muß doch auch in die Hölle kommen.«

      Plötzlich trübte sich mein Bewußtsein. Es war mir, als sähe ich es im Traume: ich stehe in einer Winternacht auf dem Schlachthofe, und neben mir steht Prokofij, der entsetzlich nach Pfefferschnaps riecht. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen und rieb mir die Augen, und sofort schien es mir wieder, als ginge ich zum Gouverneur, um mich mit ihm auseinanderzusetzen.


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