Die bekanntesten Werke von Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow

Die bekanntesten Werke von Tschechow - Anton Pawlowitsch Tschechow


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sich meine Schwester geräuschlos wie ein Gespenst vor einem alten, weitverzweigten Apfelbaume. Sie war ganz schwarz gekleidet und ging sehr schnell, zu Boden blickend, immer in der gleichen Linie auf und ab. Ein Apfel fiel vom Baum, sie fuhr zusammen, blieb stehen und drückte die Hände an die Schläfen. In diesem Augenblick ging ich auf sie zu.

      In einer Anwandlung zärtlicher Liebe, die plötzlich mein Herz überströmte, nahm ich sie bei den Schultern und küßte sie mit Tränen in den Augen; ich mußte dabei an unsere Mutter und unsere Kindheit denken.

       »Was hast du?« fragte ich sie. »Du leidest, ich sehe es längst. Sag', was ist mit dir?«

      »Ich fürchte so ...« sagte, sie zitternd.

      »Was ist denn mit dir?« drang ich in sie ein. »Um Gottes willen, sei doch aufrichtig!«

      »Ja, ich will, ich werde aufrichtig sein, ich werde dir die ganze Wahrheit sagen. Es ist mir so schwer, sie vor dir zu verheimlichen! Missail, ich liebe ...« fuhr sie flüsternd fort. »Ich liebe, ich liebe ... Ich bin glücklich, und doch fürchte ich mich so!«

      Schritte wurden laut, und zwischen den Bäumen zeigte sich Doktor Blagowo in seidenem Hemd und hohen Stiefeln. Hier unter diesem Apfelbaum hatten sie offenbar ein Stelldichein. Als sie ihn erblickte, stürzte sie ihm entgegen und schrie gequält, als wollte ihn ihr jemand wegnehmen:

      »Wladimir! Wladimir!«

      Sie schmiegte sich an ihn und sah ihm lechzend ins Gesicht, und ich merkte erst jetzt, wie mager und bleich sie in der letzten Zeit geworden war. Besonders deutlich war das an ihrem Spitzenkragen zu sehen, den ich seit vielen Jahren kannte und der jetzt freier als je an ihrem feinen und langen Hals lag. Der Doktor wurde verlegen, besann sich aber bald und sagte, ihr die Haare streichelnd:

      »Na, genug, genug ... Warum so nervös? Du siehst ja, ich bin hergekommen.«

      Wir schwiegen und sahen einander etwas geniert an. Dann gingen wir zu dritt weiter, und der Doktor sagte mir:

      »Das Kulturleben hat bei uns noch nicht begonnen. Die Alten trösten sich damit, daß es jetzt zwar nichts gäbe, aber in den vierziger und sechziger Jahren etwas gegeben habe; das sind die Alten; unsere Gehirne sind aber noch nicht vom marasmus senilis berührt, und wir können uns mit solchen Illusionen nicht trösten. Der Anfang des Russischen Reiches fällt auf das Jahr 862, aber die russische Kultur hat überhaupt noch nicht angefangen.«

      Ich hörte ihm kaum zu. Es kam mir so seltsam, beinahe unglaublich vor, daß meine Schwester verliebt war, daß sie diesen fremden Mann bei der Hand hielt und so zärtlich ansah. Meine Schwester, dieses nervöse, eingeschüchterte, verängstigte, unfreie Geschöpf liebt einen Mann, der verheiratet ist und auch Kinder hat! Etwas tat mir weh, ich weiß aber nicht, was. Die Anwesenheit des Doktors war mir nun unangenehm, und ich konnte unmöglich begreifen, was aus dieser Liebe werden sollte.

      XV

       Inhaltsverzeichnis

      Mascha und ich fuhren zur Einweihung der Schule nach Kurilowka.

      »Herbst, Herbst, Herbst ...« sagte Mascha leise, um sich blickend. »Der Sommer ist vorüber. Die Vögel sind fort, und nur noch die Weiden allein sind grün.«

      Ja, der Sommer ist vorüber. Die Tage sind noch heiter und warm, aber des Morgens ist es recht frisch, die Hirten gehen in Schafpelzen auf die Weide, und auf den Astern in unserem Garten trocknet der Tau im Laufe des ganzen Tages nicht aus. Es sind immer so traurige Töne zu hören, und man kann nicht recht erkennen, ob es das Knarren eines Fensterladens m den rostigen Angeln ist, oder das Geschrei der Kranichzüge ... Dabei ist es aber einem so wohl ums Herz, und man spürt solche Luft zu leben!

      »Der Sommer ist vorüber ...« sagte Mascha. »Nun können wir das Fazit ziehen. Wir haben viel gearbeitet, haben viel gedacht, wir sind besser geworden, wir haben in der persönlichen Vervollkommnung Erfolge gemacht, – das muß alles anerkannt werden. Haben aber unsere Erfolge auch irgendeinen Einfluß auf das uns umgebende Leben gehabt, haben sie jemandem genützt? Nein! Die Roheit und die Unbildung, der Schmutz, die Trunksucht, die entsetzlich hohe Kindersterblichkeit – alles ist beim alten geblieben, und davon, daß du geackert und gesät hast und ich Geld ausgegeben und Bücher gelesen habe, wurde niemand besser. Offenbar haben wir nur für uns selbst gearbeitet und nur für uns selbst gedacht.«

      Diese Betrachtungen machten mich wirr, und ich wußte nicht, was ich denken sollte.

      »Wir waren vom Anfang bis zum Ende aufrichtig,« sagte ich, »und wer aufrichtig ist, der hat auch recht.«

      »Wer bestreitet es? Wir waren wohl im Recht, wir haben aber das, worin wir recht hatten, falsch verwirklicht. Vor allen Dingen, waren denn nicht schon unsere äußeren Methoden durch und durch fehlerhaft? Du willst den Menschen nützlich sein, wenn du aber ein Gut kaufst, schneidest du dir von vornherein jede Möglichkeit ab, ihnen irgendwie zu nützen. Ferner: wenn du wie ein Bauer arbeitest, dich kleidest und ißt, so legitimierst du durch deine Autorität diese schwere, plumpe Kleidung, diese schrecklichen Häuser, diese dummen Bärte ... Nehmen wir sogar an, daß du lange, sehr lange, dein ganzes Leben lang arbeitest und schließlich auch einige praktische Resultate erzielst; was bedeuten aber deine Resultate gegen solche Elementarkräfte, wie Roheit, Hunger, Kälte und Entartung? Einen Tropfen im Meere! Hier sind andere, kühnere, raschwirkende, kräftige Kampfmittel vonnöten! Wenn du tatsächlich Nutzen bringen willst, so mußt du den engen Kreis der normalen Tätigkeit aufgeben und dich bemühen, auf die ganze Masse einzuwirken! Vor allen Dingen ist eine laute, energische Predigt notwendig. Warum ist die Kunst, z. B. die Musik so lebenskräftig, so populär und so mächtig? Weil der Musiker oder Sänger gleich auf Tausende von Menschen einwirkt. Die liebe, liebe Kunst!« fuhr sie mit einem träumerischen Blick gen Himmel fort. »Die Kunst gibt uns Flügel und entführt uns weit, weit von hier! Wer des Schmutzes und der kleinlichen Pfenniginteressen überdrüssig geworden ist, wer empört und beleidigt ist, der kann nur im Schönen Ruhe und Befriedigung finden.«

      Als wir uns Kurilowka näherten, war das Wetter heiter und freundlich. In einigen Höfen wurde gedroschen, und es roch nach Roggenstroh. Hinter den Zäunen leuchteten hellrote Ebereschen, und alle Bäume, so weit der Blick reichte, waren golden oder rot. Vom Turme tönten die Glocken, man trug die Heiligenbilder in die Schule, und der Chor sang »Heilige Fürbitterin«.« Die Luft war durchsichtig, und die Tauben flogen so hoch!

      Der Gottesdienst wurde im Klassenzimmer abgehalten. Dann überreichten die Bauern von Kurilowka Mascha ein Heiligenbild, und die von Dubetschnja – eine große Brezel und ein vergoldetes Salzfaß. Und Mascha weinte.

      »Und wenn wir vielleicht ein Wort zu viel gesagt haben, oder es sonst irgendwelche Unannehmlichkeit gab, so verzeihen Sie uns!« sagte ein Greis und verneigte sich vor ihr und vor mir.

      Als wir nach Hause fuhren, sah sich Mascha nach der Schule um; das grüne Dach, das ich gestrichen hatte, glänzte in der Sonne und blieb lange sichtbar. Und ich fühlte, daß die Blicke, die Mascha um sich warf, Abschiedsblicke waren.

      XVI

       Inhaltsverzeichnis

      Abends fuhr sie in die Stadt.

      In der letzten Zeit pflegte sie oft in die Stadt zu fahren und dort zu übernachten. Wenn sie fort war, konnte ich nicht arbeiten; meine Hände wurden auf einmal schwach, unser großer Hof erschien mir als eine langweilige Wüste, der Garten rauschte unfreundlich, und ohne sie waren das Haus, die Bäume und die Pferde für mich nicht mehr »unser«.

      Ich ging nicht aus dem Hause, sondern saß immer an ihrem Tisch, neben ihrem Schrank mit den landwirtschaftlichen Büchern, ihren gewesenen Lieblingen, die sie jetzt nicht mehr brauchte und die mich daher so verlegen ansahen. Stundenlang, bis es sieben, acht, neun schlug, bis die schwarze Herbstnacht zum Fenster hereinblickte, besah ich mir irgendeinen alten Handschuh von ihr, oder den Federhalter,


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