Die bekanntesten Werke von Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow
er morgen, Montag ein Examen in der Mathematik; er wußte, daß ihm, wenn er die schriftliche Aufgabe nicht machen würde, die Relegation bevorstand, da er in der sechsten Klasse schon einmal sitzengeblieben war und dreieinviertel als Jahresnote in der Algebra hatte. Zweitens, bereitete der Aufenthalt bei den Schumichins, der reichen Familie mit Prätentionen auf Aristokratismus, unaufhörliche Schmerzen seinem Ehrgeize. Ihm schien es, daß Frau Schumichin und ihre Nichten ihn und seine Mutter als arme Verwandte und Schmarotzer ansahen, daß sie seine Mama wenig achteten und über sie lachten. Einmal hatte er zufällig gehört, wie Frau Schumichin ihrer Kusine Anna Fjodorowna auf der Veranda sagte, daß seine Mama sich noch immer um jeden Preis jugendlich und schön machen wolle, daß sie ihre Kartenverluste niemals bezahle und eine Vorliebe für fremdes Schuhwerk und fremde Zigaretten habe. Wolodja flehte seine Mutter tagtäglich an, die Schumichins nicht mehr zu besuchen; er schilderte ihr die traurige Rolle, die sie bei diesen Herrschaften spielte, suchte sie zu überreden, wurde zuweilen auch grob, aber die leichtsinnige, verhätschelte Mama, die in ihrem Leben schon zwei Vermögen – ihr eigenes und das ihres Mannes – durchgebracht hatte und stets zu den vornehmsten Kreisen tendierte, wollte ihn nicht verstehen, und Wolodja mußte sie zweimal in der Woche auf die ihm verhaßte Landwohnung begleiten.
Drittens, konnte sich der junge Mann für keinen Augenblick von einem sonderbaren unangenehmen Gefühl befreien, das ihm vollkommen neu war ... Ihm kam es vor, daß er in die Kusine der Schumichins, Anna Fjodorowna, die bei ihnen als Gast weilte, verliebt sei. Es war eine lebhafte, immer zum Lachen aufgelegte, etwas laute Dame von etwa dreißig Jahren, gesund, kräftig, rosig, mit rundlichen Schultern, rundem, vollem Kinn und ständigem Lächeln auf den feinen Lippen. Sie war weder hübsch, noch jung, – Wolodja wußte das ganz genau, aber er hatte nicht die Kraft, an sie nicht zu denken und sie nicht anzugaffen, wenn sie beim Krocketspiel ihre rundlichen Schultern zuckte, und den glatten Rücken bewegte, oder wenn sie nach dem langen Lachen und Herumrennen sich in einen Sessel fallen ließ, die Augen schloß, schwer atmete und so tat, als ob ihr etwas den Busen beengte und den Atem nähme. Sie war verheiratet. Ihr Mann, ein solider Architekt, kam einmal in der Woche aufs Land, schlief ausgezeichnet aus und kehrte am nächsten Morgen wieder in die Stadt zurück. Das seltsame Gefühl hatte bei Wolodja damit begonnen, daß er plötzlich einen grundlosen Haß gegen diesen Architekten spürte und sich jedesmal freute, wenn er abreiste.
Und auch jetzt, als er in einer Laube saß und an das bevorstehende Examen und an seine Mama, über die sich alle lustig machten, dachte, fühlte er ein mächtiges Verlangen, Njuta (so nannten die Schumichins Anna Fjodorowna) zu sehen, ibr Lachen und das Rascheln ihres Kleides zu hören ... Dieses Verlangen hatte gar nichts von jener reinen, poetischen Liebe, die er aus Romanen kannte und die er sich jeden Abend beim Schlafengehen ersehnte; das Gefühl war so seltsam und unverständlich, er schämte sich seiner und fürchtete es als etwas Häßliches und Unreines, das er sich selbst nicht gerne eingestehen wollte ....
»Das ist keine Liebe,« sagte er sich. »In eine dreißigjährige und verheiratete Frau verliebt man sich nicht ... Es ist einfach eine kleine Liebelei ... Ja, eine Liebelei ...«
Beim Gedanken an die Liebelei fielen ihm seine unüberwindliche Schüchternheit, der Mangel eines Schnurrbartes und seine Sommersprossen und Schlitzaugen ein; wenn er sich selbst an Njutas Seite dachte, erschien ihm dieses Paar ganz unmöglich; und er beeilte sich, sich als hübsch, kühn, geistreich und nach der letzten Mode gekleidet vorzustellen ....
Inmitten dieser Träume, als er zusammengekauert und auf den Boden blickend in der dunkelsten Ecke der Laube saß, ertönten plötzlich leise Schritte. Jemand ging durch die Allee. Die Schritte verstummten, und vor dem Eingange schimmerte etwas Weißes.
»Ist hier jemand?« fragte eine weibliche Stimme.
Wolodja erkannte die Stimme und hob erschrocken den Kopf.
»Wer ist hier?« fragte Njuta, in die Laube tretend. »Ach, Sie sind es, Wolodja! Was machen Sie hier? Grübeln? Wie kann man nur immer grübeln ... so kann man ja auch verrückt werden!«
Wolodja stand auf und blickte Njuta verlegen an. Sie kam soeben vom Baden. Sie hatte ein Badelaken und ein Frottierhandtuch um die Schultern hängen, und unter dem weißseidenen Kopftuche lugten nasse Haare hervor, die an der Stirne klebten. Ihr entströmte ein feuchter, kühler Geruch von Bad und Mandelseife. Nach dem schnellen Gehen atmete sie schwer. Der oberste Knopf ihrer Bluse war aufgegangen, und der Jüngling konnte ihren Hals und Brustansatz sehen.
»Was schweigen Sie denn?« fragte Njuta, Wolodja musternd. »Es ist unhöflich zu schweigen, wenn eine Dame mit Ihnen spricht. Was sind Sie für ein Tolpatsch, Wolodja! Sie sitzen immer da und schweigen und grübeln wie ein Philosoph. In Ihnen ist gar kein Leben, kein Feuer! Sie sind wirklich ekelhaft ... In Ihrem Alter muß man leben, springen, plaudern, Damen den Hof machen, sich verlieben.«
Wolodja blickte das Badelaken an, das sie mit ihrer weißen, vollen Hand hielt, und dachte, dachte ....
»Er schweigt!« wunderte sich Njuta. »Das ist sogar merkwürdig ... Hören Sie einmal, seien Sie doch ein Mann! Lächeln Sie doch wenigstens! Pfui, ekelhafter Philosoph!« rief sie lachend. »Wissen Sie, Wolodja, warum Sie so ein Tolpatsch sind? Weil Sie niemand den Hof machen. Warum machen Sie niemand den Hof? Es gibt hier freilich keine jungen Mädchen, aber was hindert Sie, Damen den Hof zu machen? Warum machen Sie, zum Beispiel, mir nicht den Hof?«
Wolodja hörte ihr zu und rieb sich, in schwere, gespannte Gedanken versunken, die Schläfe.
»Nur sehr stolze Menschen schweigen und lieben die Einsamkeit,« fuhr Njuta fort, seine Hand von der Schläfe wegziehend. »Sie sind zu stolz, Wolodja ... Warum blicken Sie so mürrisch drein? Wollen, Sie mir doch gerade in die Augen schauen! Nun, Sie, Tolpatsch!«
Wolodja entschloß sich, etwas zu sagen. Er wollte lächeln, zuckte mit der Unterlippe, zwinkerte mit den Augen und führte wieder die Hand an die Schläfe.
»Ich ... ich liebe Sie!« sagte er.
Njuta hob erstaunt die Brauen und fing zu lachen an.
»Was höre ich?!« sang sie, wie ein Opernsänger zu singen pflegt, wenn ihm etwas Schreckliches berichtet wird. »Wie? Was haben Sie gesagt? Wiederholen Sie es, wiederholen Sie es ...«
»Ich ... ich liebe Sie!« sagte Wolodja noch einmal.
Ohne Beteiligung seines Willens und ohne Ueberlegnng machte er einen halben Schritt auf Njuta zu und faßte sie am Handgelenk. Er sah fast nichts, Tränen traten ihm in die Augen, und die ganze Welt hatte sich in ein großes Frottierhandtuch verwandelt, das nach Bad roch.
»Bravo, bravo!« hörte er sie lustig lachen. »Was schweigen Sie denn? Ich möchte, daß Sie sprechen! Nun?«
Als Wolodja merkte, daß sie ihre Hand nicht zurückzog, blickte er ihr ins lachende Gesicht und nahm sie ungeschickt mit beiden Händen um die Taille, so daß die Finger beider Hände sich auf ihrem Rücken trafen. So hielt er sie um die Taille, sie aber verschränkte beide Hände im Nacken, so daß er die Grübchen an ihren Ellenbogen sehen konnte, nestelte unter dem Kopftuch an ihren Haaren und sprach mit ruhiger Stimme:
»Man muß gewandt, liebenswürdig und galant sein, Wolodja, und das kann nur unter dem Einflusse weiblicher Gesellschaft werden. Was haben Sie aber für ein unangenehmes ... böses Gesicht. Man muß sprechen, man muß lachen ... Ja, Wolodja, seien Sie doch kein Wauwau, Sie sind noch jung und haben genug Zeit zum Philosophieren. Nun, lassen Sie mich, ich muß gehen. Lassen Sie mich doch!«
Sie befreite sich mühelos aus seinen Armen und ging trällernd aus der Laube. Wolodja blieb allein. Er strich sich das Haar zurecht, lächelte und ging dreimal von der einen Ecke in die andere; dann setzte er sich auf die Bank und lächelte noch einmal. Er schämte sich so furchtbar und staunte sogar, daß das menschliche Schamgefühl eine solche Kraft und Schärfe erreichen kann. Vor Scham lächelte er, flüsterte irgendwelche unzusammenhängende Worte und gestikulierte.
Er schämte sich, daß man ihn eben wie einen grünen Jungen behandelt hatte; er schämte sich seiner Schüchternheit; vor allen Dingen schämte er sich aber dessen, daß er sich erkühnt hatte, eine anständige verheiratete Dame um die Taille zu fassen, wozu ihm, wie er glaubte,