Die bekanntesten Werke von Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow

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anderen Stelle des gleichen Akathistos heißt es: ›Freue dich, du hellfrüchtiger Baum, von dem sich die Gläubigen nähren, freue dich, du schönlaubschattender Baum, unter dem viele Schutz finden!‹«

      Jeronim bedeckte wie beschämt oder erschrocken das Gesicht mit den Händen und schüttelte den Kopf.

      »Hellfrüchtiger Baum ... schönlaubschattender Baum ...« murmelte er. »Wie findet man nur solche Worte! Gibt doch Gott einem diese Gabe! Der Kürze wegen verdichtet er viele Worte und Gedanken zu einem einzigen Wort, und wie schön und ausführlich es ihm gerät! ›Lichtspendende Leuchte‹ heißt es im Akathistos an den süßesten Jesus. Lichtspendend! Dieses Wort gibt es weder im Gespräch, noch in den Büchern, er hat es aber erdacht und in seinem Geiste gefunden! Außer daß es glatt und reich klingt, muß jede Zeile auch noch auf jede mögliche Weise ausgeschmückt sein, es müssen Blumen darin sein, der Blitz, der Wind, die Sonne und alle Gegenstände der sichtbaren Welt. Jede Anrufung muß so abgefaßt sein, daß sie glatt und für das Ohr wohltuend sei. ›Freue dich, du Lilie paradiesischen Wachstums!‹ heißt es im Akathistos an Nikolai den Wundertäter. Es heißt nicht einfach: ›Paradiesische Lilie‹, sondern ›Lilie paradiesischen Wachstums!‹ So ist es glatter und für das Ohr süßer, so schrieb eben Nikolai. Genau so! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie er schrieb!«

       »Ja, in diesem Falle ist es wirklich schade, daß er gestorben ist,« sagte ich. »Wollen wir aber fahren, Bruder, sonst kommen wir zu spät ...«

      Jeronim kam zu Besinnung und lief zum Seil. Am Ufer läuteten schon alle Glocken. Um das Kloster herum ging wohl schon die Prozession, denn der ganze dunkle Raum hinter den Fässern war voller Lichter, die sich bewegten.

      »Hat Nikolai seine Akathiste gedruckt?« fragte ich Jeronim.

      »Wer dachte ans Drucken?« sagte er seufzend. »Es wäre auch sonderbar, sie zu drucken. Wozu auch? Bei uns im Kloster interessiert sich niemand dafür. Man liebt es nicht. Man wußte wohl, daß Nikolai Akathiste schrieb, schenkte aber dem keine Beachtung. Heute schätzt niemand die neueren Dichtungen dieser Art!«

      »Man hat Vorurteile gegen sie?«

      »Gewiß. Wäre Nikolai ein Starez, so hätten sich die Brüder vielleicht doch interessiert, er war aber noch nicht vierzig Jahre alt. Manche lachten sogar darüber und hielten sein Schreiben für eine Sünde.«

      »Wozu schrieb er dann?«

      »So, eigentlich nur zu seinem eigenen Trost. Von allen Brüdern las nur ich allein seine Akathiste. Ich pflegte zu ihm heimlich zu kommen, damit es die anderen nicht sehen, er aber freute sich, daß ich mich dafür interessierte. Er umarmte mich, streichelte mir den Kopf und sprach zu mir freundliche Worte wie zu einem kleinen Kind. Er schloß die Türe zu, setzte mich neben sich und fing zu lesen an ...«

      Jeronim ließ das Seil und ging wieder auf mich zu.

      »Wir waren wie Freunde,« flüsterte er, mich mit strahlenden Augen ansehend. »Wir waren immer zusammen. Wenn ich nicht bei ihm war, grämte er sich. Er liebte mich auch mehr als alle, weil ich über seine Akathiste weinte. Wenn ich daran denke, bin ich ganz gerührt. Jetzt bin ich wie eine Waise oder Witwe. Wissen Sie, wir haben im Kloster lauter brave, gute, fromme Menschen, aber ... in keinem ist Weichheit oder Zartgefühl, sie sind wie aus einfachem Stande. Sie sprechen alle laut; wenn sie gehen, stampfen sie mit den Füßen, sie lärmen und husten; Nikolai sprach aber immer leise und sanft, und wenn er sah, daß jemand schlief oder betete, so ging er so leise vorbei wie eine Fliege oder eine Mücke. Auch sein Gesicht war so zart und mitleidsvoll...«

      Jeronim seufzte tief auf und ergriff das Seil. Wir näherten uns schon dem Ufer. Aus der Dunkelheit und der Stille des Flusses kamen wir allmählich in ein Zauberreich voll erstickendem Rauch, zitterndem Licht und Lärm. Neben den Pechfässern konnte man schon deutlich die sich bewegenden Menschen unterscheiden. Das flackernde Licht verlieh den roten Gesichtern und Gestalten einen seltsamen, beinahe phantastischen Ausdruck. Zwischen den Köpfen und Gesichtern waren hie und da Pferdeköpfe zu sehen, unbeweglich, wie aus rotem Kupfer gegossen.

      »Gleich wird man den Osterkanon singen...« sagte Jeronim. »Nikolai ist aber tot, und es ist niemand da, der mit Andacht zuhören könnte ... Für ihn gab es nichts Süßeres als diesen Kanon. Er pflegte in jedes Wort einzudringen! Sie werden ja dort sein, Herr, lauschen sie andächtig dem Gesange: es stockt einem dabei der Atem!«

      »Werden Sie denn nicht in der Kirche sein?«

      »Ich darf nicht... Ich muß auf der Fähre bleiben...«

      »Werden Sie denn nicht abgelöst?«

      »Ich weiß nicht ... Man hätte mich schon um neun Uhr ablösen sollen, hat mich aber, wie sie sehen, nicht abgelöst! Die Wahrheit zu sagen, möchte ich zu gern in die Kirche...«

      »Sind Sie Mönch?«

      »Ja... d. h. Laienbruder.«

      Die Fähre stieß ans Land und hielt. Ich drückte Jeronim fünf Kopeken für die Überfahrt in die Hand und sprang aufs Ufer. Im gleichen Augenblick fuhr ein knarrender Bauernwagen mit einem Jungen und einer schlafenden Frau auf die Fähre. Jeronim ergriff, von den Feuern rötlich beleuchtet, das Seil, krümmte sich und brachte die Fähre in Bewegung....

      Ich machte einige Schritte durch den Schmutz, kam aber dann auf einen weichen, neu eingetretenen Fußpfad. Dieser Pfad führte mich durch die Rauchwolken, durch die unordentliche Menge von Menschen, ausgespannten Pferden und Wagen zum Klostertore, das wie ein dunkles Loch aussah. Alles knarrte, schnaubte und lachte, auf allem lag ein blutroter Lichtschein und huschten Schatten der Rauchwolken... Ein wahres Chaos! In diesem Gedränge fand man noch Platz, um eine kleine Kanone zu laden und Pfefferkuchen feilzubieten!

      Innerhalb der Klostermauer ging es nicht weniger lebhaft zu, aber hier herrschte doch mehr Ordnung. Hier roch es nach Wacholder und Weihrauch. Man sprach ebenso laut, lachte aber nicht. Zwischen den Grabsteinen und Kreuzen drängten sich Menschen mit Bündeln und Osterkuchen. Viele von ihnen waren offenbar von weit hergekommen, um sich die Osterkuchen weihen zu lassen, und waren ermüdet. Über die gußeisernen Platten, die einen Steg vom Tore bis zur Kirchentüre bildeten, liefen geschäftig, mit den Absätzen klopfend, die jungen Laienbrüder. Auch auf dem Glockenturme ging es geräuschvoll zu.

      – Was für eine unruhige Nacht! – dachte ich mir. – Wie schön! –

      Ich sah die Unruhe und Schlaflosigkeit in der ganzen Natur, von der nächtlichen Finsternis angefangen bis zu den Eisenplatten, Grabkreuzen und Bäumen, unter denen sich die Menschen bewegten. Die Aufregung und Unruhe äußerten sich aber nirgends so stark wie in der Kirche selbst. Im Portal ging ein ununterbrochener Kampf zwischen Flut und Ebbe vor sich. Die einen kommen, die anderen gehen und kehren bald wieder zurück, um eine Weile ruhig zu stehen und dann wieder hinauszugehen. Die Menschen schlendern von Ort zu Ort, als suchten sie etwas. Vom Eingang her kommen Wellen, die durch die ganze Kirche laufen und sogar die vordersten Reihen berühren, wo die soliden und schwerfälligen Menschen stehen. Von andächtigem Beten kann hier nicht die Rede sein. Es ist auch kein Beten, sondern eine einzige, kindliche unbewußte Freude, die nach einem Vorwand sucht, um sich auszuleben und in irgendeiner Bewegung zu äußern, und sei es auch in dem sinnlosen Herumschlendern und Herumstoßen.

      Dieselbe ungewöhnliche Beweglichkeit fällt auch am Ostergottesdienst selbst auf. Die Altarpforten aller Kapellen stehen offen, um den Deckenleuchter herum schweben dichte Weihrauchwolken, wo man auch hinblickt, überall ist ein Leuchten, Glänzen, das Knistern von Kerzen... Bei diesem Gottesdienste wird nichts vorgelesen; das unruhige, freudige Singen dauert ununterbrochen bis zum Schluß; nach jedem einzelnen Gesang wechseln die Geistlichen die Gewänder und schwingen aufs neue die Weihrauchfässer, und das wiederholt sich alle zehn Minuten.

      Kaum hatte ich mich hingestellt, als von vorn eine Welle kam und mich zurückwarf. Vor mir ging ein großer, stämmiger Diakon mit einer langen roten Kerze in der Hand vorbei; ihm folgte mit dem Weihrauchfaß in der Hand der grauhaarige Archimandrit mit einer goldenen Mithra auf dem Kopfe. Als sie den Blicken entschwunden waren, schob mich die Menge auf meinen früheren Platz zurück. Es vergingen aber keine zehn Minuten, als eine neue Welle kam und wieder der Diakon erschien.


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