DER LETZTE ATEMZUG. Robert Brown

DER LETZTE ATEMZUG - Robert  Brown


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da wir schon acht Monate in dieser Situation leben, hat sich die Zahl der gesunden und auch der infizierten Menschen drastisch verringert. Der strenge Winter, den wir gerade in den USA und anderen Ländern auf der Nordhalbkugel überstanden haben, tötete viele, die es bis dahin geschafft hatten, sich gegen die Kranken zu behaupten. Wir sind den Alltag ohne die Bequemlichkeiten der Elektrizität und Öl- oder Erdgasheizungen einfach nicht mehr gewöhnt. Darum starben die Leute plötzlich wie die Fliegen; hier in Oregon entsprachen die Temperaturen eher jenen, die wir seinerzeit in Süddakota hatten, sie lagen bei -9 bis -23 Grad, und zwar mehrere Wochen am Stück. Auch jetzt im Juni ist es immer noch ungewöhnlich kalt.

      Hier kauere ich jetzt also, acht Monate nach den ersten Berichten von Ausschreitungen, gemeinsam mit meiner Familie in einem verlassenen Geschäft verschanzt. Meine Frau und unsere fünf Kinder sind gewissermaßen auf einer Mission, um unsere Vorräte aufzustocken und um sicherer in dem zu werden, was sie bislang gelernt hatten. Seit es weniger Infizierte geworden sind und das Wetter zusehends besser wird, suchen wir auch nach anderen Zusammenschlüssen von Menschen, nach Neuigkeiten oder einfach nach Lebensmitteln sowie jeder unüblich hohen Konzentration von verbliebenen Kranken, die uns Sorgen bereiten könnten. Wir befinden uns mittlerweile auf dem Rückweg zu unserem Haus, wo mehrere andere Familien darauf warten, dass wir bald wiederkommen.

      Auf diesem Abstecher hatten wir allerdings nur wenig Glück, was andere Überlebende angeht. Gestern stießen wir in einer Kleinstadt im Umland von Medford in Oregon auf einen Mann namens Jim Margrove. Er lag leider bereits im Sterben, nachdem er sich durch eine Schnittwunde angesteckt hatte. Wie er uns erzählte, sei er letzte Woche bei einer Schlägerei ziemlich übel zugerichtet und dabei infiziert worden. Da er sich ein Bein gebrochen hatte, konnte er nicht ohne Weiteres Medikamente suchen gehen, und wir sahen bereits schwarze Adern an seinem rechten Oberschenkel, die sich wie Spinnennetze bis zum Unterbauch ausbreiteten. Die Blutvergiftung war also schon zu weit fortgeschritten, um noch mit Antibiotika entgegenwirken zu können. Er konnte genauso wenig wie wir fassen, dass sich jemand acht Monate lang durch die Zombie-Apokalypse schlägt und dann einfach an einer eigentlich geringfügigen Entzündung infolge einer Schnittwunde stirbt.

      Bedauernswert an dieser Lage war vor allem die Tatsache, dass sich Jim nicht im Kampf mit einem Infizierten angesteckt hatte. Er lief nur zufällig jemandem über den Weg, der von der Beschreibung her ein Junkie gewesen sein könnte. Damit meine ich die Süchtigen nach illegalen Substanzen von früher, doch diese Definition ließ sich nicht mehr auf die neue Bedrohung münzen, der wir uns nun stellen mussten. Darum sind wir dazu übergegangen, nur die alten Rauschmittelkonsumenten als Junkies zu bezeichnen, damit wir sie von denjenigen unterscheiden konnten, die einfach nur vollkommen wahnsinnig geworden sind, weil sie seit Beginn der Endzeit ständig kämpfen und dem Tod ins Auge blicken müssen. Junkies sind somit Personen, die sich zugeknallt haben, um in der Gesellschaft richtig funktionieren zu können. Jeder kennt sie – die schwer Paranoiden, Schizophrenen und Manisch-Depressiven …

      Nicht dass uns Letztere erhebliche Schwierigkeiten machen würden … Wer von ihnen die erste Angriffswelle überlebt hat, dem konnten nicht einmal seine Medikamente gegen das seelische Trauma helfen, das er erlitten hatte, weil er mit ansehen musste, wie Menschen, die er kannte, überrannt und verzehrt wurden. Verdammt, es war für niemanden von uns leicht, doch neigt man in harten Zeiten aufgrund psychischer Veranlagung eh schon zu Niedergeschlagenheit, hat man keine sonderlich hohe Lebenserwartung, wenn die Welt buchstäblich vor die Hunde geht und man nicht mehr auf die moderne Medizin zurückgreifen kann, um seine Stimmungsschwankungen auszugleichen.

      Wirklich sorgen müssen wir uns allerdings wegen der echten Schizophrenen, und einer von ihnen wurde vermutlich auch Jim zum Verhängnis. Sollte hingegen eines dabei nützen, eine Zombie-Epidemie apokalyptischen Ausmaßes zu überstehen, dann sind es Paranoia wegen allem und jedem. Die Schizophrenen halten in dieser Hinsicht sozusagen ein Monopol inne. Damit will ich sagen, dass viele während der Frühphase des Ausbruchs starben, weil sie unter Medikamenten standen und die blutbesudelten, leichenhaften Gestalten, die auf sie zukamen, einfach nur für Hirngespinste hielten. Bedauerlicherweise kamen sie also massenweise um, weil sie gelernt hatten, Dinge einfach zu ignorieren, die ihres Erachtens nicht real sein konnten.

      Ich hingegen sollte nicht »bedauerlicherweise« sagen, denn ganz im Gegenteil, dürfen wir eigentlich ein großes Kreuz machen, weil jetzt nicht mehr viele von ihnen frei herumlaufen. Die Schizophrenen sind nämlich erstaunliche Überlebenskünstler. Ihr tief verwurzelter Instinkt, sich zu verstecken, zu misstrauen, zu plündern und töten scheint in dieser Welt geradezu zu florieren. Sobald die Medikamente nicht mehr wirkten, die sie gewohnt waren zu nehmen und die zur Unterdrückung ihrer Halluzinationen beitrugen, kam ihnen fortan jeder ihrer Mitmenschen wie ein Infizierter vor.

      Ich schimpfe nun also über Menschen, die einst als geisteskrank galten, und wäre zu Zeiten, als noch alles in Butter gewesen ist, nie damit durchgekommen, sie auf diese Weise zu diskriminieren, doch andererseits gab es damals ja auch noch keinen Grund dazu. Jetzt bin ich einfach nur angepisst, weil ich mir den Kopf nicht nur über Heerscharen von infizierten Kannibalen oder Verbrecherbanden und gewalttätige Opportunisten zerbrechen muss, sondern auch noch über sie. Denn das betrifft auch all jene, die einfach vollkommen verrückt sind, voller Eifer sich auf dich zu stürzen, als sei es ein schöner Morgen und wer weiß wie toll, einen anderen Menschen zu sehen, dann ein Messer oder einen Knüppel zu zücken und zu versuchen, ihn kaltzumachen.

      Jims Pech macht mich noch immer wütend, weil ich mir die Schmerzen vorstellen kann, die er vor seinem Tod durchmachen musste. Es beschränkte sich ja nicht nur auf den Beinbruch und den Schnitt infolge der Schlägerei, auch seine Frau war dabei ums Leben gekommen. Die beiden hatten sich aus quasi den gleichen Gründen wie wir durch die Stadt Central Point nach Medford durchgeschlagen: um Proviant zu suchen, Gleichgesinnte zu finden und sich vielleicht auch ein wenig Klarheit verschaffen zu können.

      Die beiden begegneten auf ihrem Weg einem jungen Mann, der vor einem Haus auf der Treppe saß. Nachdem sie ihn begrüßt hatten, fing er an zu weinen und wollte wissen, ob sie wirklich »echt« seien. Eine solche Frage, die einen eigentlich stutzig machen sollte, liegt mittlerweile sehr nahe, weil die meisten Menschen inzwischen isoliert, heimatvertrieben und monatelang ohne Kontakt mit Nichtinfizierten auf sich allein gestellt sind. Tritt eine normale Person also an einen anderen Überlebenden heran, halten beide den jeweils anderen für eine Wunschvorstellung oder im schlimmsten Fall sogar lediglich für eine schwache Halluzination.

      Als der Kerl Jim und seiner Frau diese Frage stellte, danach in Tränen ausbrach und auf sie zuging, wähnten sie sich nicht in Gefahr, sondern glaubten, sie müssten diesen Bruder im Geiste nun trösten. So brüderlich war er jedoch nicht, denn sobald sie ihm entgegengekommen waren, zog er plötzlich schnell wie der Blitz ein Messer und schnitt Susan die Kehle durch. Jim erzählte uns, der Kampf mit ihm habe nicht lange gedauert – zwanzig, vielleicht dreißig Sekunden vom ersten Angriff gegen Susan bis hin zu dem Moment, als er den Angreifer getötet hat. Während er mit ihm rang, wurde er aber leider ebenfalls geschnitten und fiel danach so unglücklich, dass sein Bein brach. Er schaffte es jedoch trotzdem noch, sein eigenes Messer zu ziehen und den Kerl zu erstechen. Leider war danach aber alles schon verloren.

      Ich ärgere mich, weil ich Jims Geschichte jedes Mal erneut rekapituliere, wenn wir eine Pause machen und ich etwas Zeit zum Nachdenken habe. Ich trauere um seinen Verlust genauso wie er selbst, so als sei meine Frau Simone diejenige, die von einem Fremden umgebracht worden war. Teilweise rührte meine Wut aber auch von Gewissensbissen her. Ich glaube, das gilt für die meisten Situationen, in denen man wütend ist, doch was mich betrifft, so fühle ich mich gerade schlecht, weil ich mich nicht beklagen kann, denn meine ganze Familie hat diese Menschheitskatastrophe bislang komplett überlebt. Natürlich gehörte ich auch zu denjenigen, die sich vorbereitet hatten, doch die Wahrscheinlichkeit, dass wir alle so lang durchhalten würden, war überhaupt nicht hoch, auch trotz der ganzen Vorkehrungen.

      Wir sind also zu siebt und reisen stets gemeinsam, seit dieser Winter hoffentlich sein Ende gefunden hat und man immer seltener Infizierten sieht. Meine Frau und ich rechnen damit, dass jeder Tag der letzte sein kann, weshalb wir zusammen sein wollen, wenn es einmal so weit ist. Also sterben wir entweder alle auf einmal oder wir wissen wenigstens, was mit unseren Lieben geschieht, wenn sie es tun müssen.

      Natürlich


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