Die vergessene Schuld. Stefan Bouxsein

Die vergessene Schuld - Stefan Bouxsein


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Jedenfalls trat er zwischen Julia und mich und machte mit blöden Armbewegungen den Affen auf der Tanzfläche. Ich zog mich zurück, ließ noch ein paar Leute zwischen mir und Julia tanzen, tat so, als wäre ich wieder nur mit mir und der Musik beschäftigt und wartete noch zwei weitere Titel ab. Dann machte ich zwei große Schritte auf Julia zu, nahm sie bei der Hand, fragte sie, ob sie Lust auf einen Drink hätte, und zog sie von der Tanzfläche. Julia begleitete mich lachend.

      Hauptkommissar Siebels saß vor einem aufgeräumten Schreibtisch. Es war fast 17:00 Uhr und eigentlich gab es nichts mehr zu tun. In den letzten Wochen waren kaum nennenswerte neue Fälle reingekommen. Einen großen Teil seiner angehäuften Überstunden hatte er bereits abgefeiert. Sein Kollege Till Krüger hatte das Büro schon vor fast einer Stunde verlassen. Siebels lehnte sich entspannt zurück und hoffte inständig, dass diese Ruhe vor dem nächsten Sturm noch ein paar Tage anhielt. In vier Tagen hatte er seinen Termin auf dem Standesamt. Noch vier Tage, dann würde er seiner Sabine endlich das lang ersehnte Ja-Wort geben. Und für den darauffolgenden Sonntag war die große Feier angesetzt. Einen Mordfall mit der Priorität »schnellstmögliche Aufklärung« konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Oder einen besonders heiklen Fall, wie Staatsanwalt Jensen es immer nannte, wenn er zum Ausdruck bringen wollte, dass ab sofort Tag und Nacht ermittelt werde. Aber Jensen hatte schon seit Tagen nichts mehr von sich hören und sehen lassen. Siebels misstraute dem trügerischen Frieden. Gerade wollte er sich von seinem Stuhl erheben und den Feierabend einläuten, als Charly Hofmeier in Begleitung eines betagten Herrn das Büro betrat. Charly Hofmeier war der IT-Experte im Frankfurter Polizeipräsidium und stand dem erfolgreichsten Team der Frankfurter Mordkommission, Steffen Siebels und Till Krüger, bei besonders heiklen Fällen mit Rat und Tat zur Seite. Besonders hilfreich waren dabei seine speziellen Kenntnisse beim Einloggen in fremde Netzwerke und Rechner.

      »Ich habe Besuch mitgebracht«, sagte Charly und zeigte auf den älteren Herrn. »Das ist Herr Silber. Er möchte einen Mord melden.«

      Siebels drehte das Radio etwas leiser. »Dann setzen Sie sich doch bitte«, bat Siebels Herrn Silber und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

      Herr Silber benutzte einen Gehstock und kam mit unsicheren Schritten näher. Charly blieb an der Tür stehen und gab Siebels mit einer eindeutigen Handbewegung zu verstehen, dass Herr Silber nicht mehr ganz klar im Kopf war.

      »Sie möchten also einen Mord melden«, wiederholte Siebels, nachdem Herr Silber vor ihm Platz genommen hatte. Seinen Hut behielt er auf dem Kopf, den Gehstock stellte er zwischen seine Beine. Siebels bemerkte die falsch geknöpfte Hemdleiste und einige Kaffeeflecken auf der Weste, die Herr Silber über dem Hemd trug.

      »Wer ist denn das Opfer?«, wollte Siebels wissen.

      »Sie meinen, wer ermordet wurde?«, fragte Herr Silber mit lauter Stimme und drehte seinen Kopf dabei leicht zur Seite.

      Siebels bemerkte das Hörgerät und sprach etwas lauter.

      »Ja, wer wurde denn ermordet?«

      »Na, die Juliane«, sagte Herr Silber, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

      Charly stand noch im Türrahmen und freute sich schon auf das weitere Gespräch.

      »Die Juliane«, wiederholte Siebels und kritzelte etwas auf einen Zettel. »Kennen Sie auch den Nachnamen?«

      »Juliane Mangold«, sagte Herr Silber wie aus der Pistole geschossen.

      Siebels schrieb den Namen auf. »Wissen Sie auch, wie alt diese Juliane Mangold war?«

      »Wie alt? Hm. Zwanzig?« Der alte Herr schaute Siebels fragend an.

      »Einen Moment bitte, Herr Silber. Ich bin gleich wieder da.« Siebels ging zu Charly und fragte ihn flüsternd, ob schon jemand die Identität dieser Juliane Mangold überprüft hätte.

      »Ich habe es versucht. In Frankfurt gibt es zwei Frauen, die Juliane Mangold heißen, aber die erfreuen sich bester Gesundheit. Ich habe sie beide angerufen. Sie kennen auch Herrn Silber nicht.«

      Siebels nickte und wollte sich wieder auf seinen Platz setzen, als er aus dem Radio eine Suchmeldung vernahm.

      »Gesucht wird Herr Otto Silber. Herr Silber wird seit dem frühen Morgen vermisst. Er ist 84 Jahre alt und hat Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Herr Silber ist vermutlich mit einem hellblauen Hemd, einer grauen Strickweste und einer dunkelblauen Hose bekleidet. Er trägt einen Hut und benutzt einen Gehstock. Herr Silber benötigt dringend Medikamente. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle in Frankfurt entgegen.«

      Charly grinste über beide Ohren und zeigte Siebels den erhobenen Daumen. Fall gelöst, sollte das heißen.

      »Erkundigst du dich bei den Kollegen, wo wir ihn abliefern können?«, fragte Siebels. »Wenn es nicht so weit weg ist, bringe ich ihn nach Hause.«

      »Vermutlich ins Altenheim. Ich komme gleich wieder und sage dir Bescheid.«

      »Wissen Sie auch, wer Juliane Mangold umgebracht hat?«, fragte Siebels, als er wieder auf seinem Platz saß.

      Otto Silber schüttelte den Kopf. »Nein. Wer tut denn so etwas? Die Juliane hat keiner Menschenseele etwas zuleide getan.« Otto Silber klang traurig. Eine Träne lief über seine faltige Haut.

      »Haben Sie den Mord beobachtet?«, fragte Siebels.

      Otto Silber schaute ihn verwundert an. »Nein. Ich habe nichts gesehen.«

      »Aber woher wissen Sie denn, dass sie ermordet wurde?«

      »Woher ich das weiß?« Otto Silber runzelte die Stirn. »Irgendjemand hat es mir erzählt. Die Juliane ist tot. Alle haben es gesagt. Ihre Kollegen haben es doch auch gesagt. Sie sind doch Polizist, oder? Ein Inspektor, oder?«

      »Ich bin ein Kommissar. Ein Kriminalhauptkommissar. Kriminalhauptkommissar Siebels. Aber meine Kollegen wissen nichts von einer ermordeten Juliane Mangold.«

      Otto Silber schlug wütend mit seinem Stock auf den Boden. »Die lügen doch alle. Alles Lügner und Betrüger! Die stecken alle unter einer Decke. Aber ich lasse mich nicht belügen. Ich bin Architekt. Ich weiß, dass die Juliane totgeschlagen wurde. Jeder weiß es. Alle wissen es. Sie wissen es auch, Inspektor!« Otto Silber wurde immer lauter und fuchtelte jetzt aggressiv mit seinem Stock vor dem Gesicht von Siebels herum. Siebels saß verdutzt vor dem aufgebrachten alten Herrn und wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte. Erleichtert nahm er Charly wahr, der gerade wieder das Büro betrat. Charly schüttelte lächelnd den Kopf und redete beruhigend auf Otto Silber ein. »Der Herr Siebels bringt Sie jetzt erst mal nach Hause, Herr Silber. Das Abendessen wartet schon auf Sie.«

      Otto Silber ließ sich wieder auf seinem Stuhl zurücksinken. »Ja, ich habe Hunger. Aber was ist denn mit der Juliane?«

      »Darum kümmere ich mich«, lenkte Siebels ein. »Wenn ich Genaueres weiß, sage ich Ihnen sofort Bescheid.« Siebels nahm einen Zettel von Charly entgegen. Seniorenresidenz Sonnenschein, stand darauf. Dort wurde Otto Silber schon schmerzlich vermisst. Charly beugte sich flüsternd zu Siebels. »Das liegt an der Wilhelmshöher Straße in Seckbach. Herr Silber ist dement.«

      »Das habe ich mir schon gedacht«, flüsterte Siebels zurück. »Na, dann bringe ich ihn mal zurück.« Siebels schloss seine Schränke und Schubladen ab und machte sich mit Herrn Silber auf den Weg. Otto Silber folgte Siebels wortlos durch die langen Gänge des Polizeipräsidiums. Siebels verspürte schon seit einiger Zeit den Druck in seiner Blase, der nun stärker wurde. Zwischen zwei Büros, an denen sie gerade vorbeigingen, lag eine Toilette. Siebels schaute zu Otto Silber. »Müssen Sie auch mal auf die Toilette?«

      Otto Silber schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein. Ich will mein Abendessen.«

      »Dann warten Sie bitte einen kleinen Moment hier auf mich. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.« Siebels hatte nun das Gefühl, sich jeden Moment in die Hose zu pinkeln, wenn er sich nicht beeilte. Schnell verschwand er hinter der Toilettentür. Als er zwei Minuten später wieder herauskam, war von Otto Silber nichts mehr zu sehen.


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