Die vergessene Schuld. Stefan Bouxsein

Die vergessene Schuld - Stefan Bouxsein


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Himmel. Er versuchte, seinen Pfleger zu verhaften, und nahm seine Mitbewohner ins Kreuzverhör. Er beschuldigte das Kantinenpersonal des Mordes und hielt den Heimleiter für den Staatsanwalt. Seine Kinder schämten sich für ihren verwirrten Vater und seine Frau besuchte ihn nicht mehr. Als er aus dem Traum aufschreckte, sah er in die besorgten Augen von Sabine. Er wagte es aber nicht, ihr so kurz vor der Hochzeit von diesem Traum zu erzählen.

      Jetzt saß er an seinem Computer und surfte im Internet. Er betrachtete sich den Webauftritt vom Architekturbüro Silber. Dort war auch die Vita von Otto Silber hinterlegt. Geboren am 3. März 1928, Heirat mit Almut Silber, geb. Frisch, am 4. Juni 1950. Nur vier Monate später erblickte der erste Sohn Hermann das Licht der Welt. Zwei Jahre später kam Hartmut Silber auf die Welt. 1958 hatte sich Otto Silber als Architekt selbstständig gemacht. Viele Gebäude, die in der Stadt nach seinen Entwürfen gebaut worden waren, waren mittlerweile schon wieder abgerissen. Darunter viele hässliche Betonklötze, die Anfang der sechziger Jahre entstanden waren. Ende der sechziger Jahre beteiligte sich Otto Silber mit Auftragsarbeiten an der Entstehung von Einkaufszentren. In den siebziger Jahren war das Architekturbüro Silber am Bau vieler Einkaufszentren in ganz Deutschland beteiligt. 1976 trat Hermann Silber als Architekt mit in das Büro ein. Ein Jahr später folgte ihm sein Bruder Hartmut. In den 80er Jahren reihte sich das nun dreiköpfige Architekturbüro bei den Verfechtern der Postmoderne ein und entwarf einige monumentale Gebäude, die als Museen oder für die öffentliche Verwaltung genutzt wurden. Anfang der neunziger Jahre wandelte sich der Stil. Otto Silber und Söhne entwarfen nun hauptsächlich Bürogebäude für mittelständische Unternehmen. Hinter gläsernen Fassaden konzipierten die Architekten Silber multifunktionale Großraumbüros. Ende der neunziger Jahre überließ Otto Silber seinen Söhnen an seinem siebzigsten Geburtstag die Leitung des Architekturbüros und zog sich aus dem Geschäftsleben zurück. Mitte 2005 setzten Hartmut und Hermann Silber einen neuen Schwerpunkt bei ihren architektonischen Arbeiten. Energieeffizientes Bauen war seitdem die Devise und brachte der Familie Silber zahlreiche lukrative Aufträge ein.

      »Hast du einen Kaffee für mich?«, fragte Charly, der seinen Kopf durch die halb geöffnete Tür steckte.

      »Klar, komm rein.« In den hinter ihm liegenden ruhigen Tagen hatte Siebels eine neue Kaffeemaschine angeschafft. Seitdem kam Charly morgens regelmäßig vorbei und der Kaffeeautomat im Flur blieb von Flüchen und Tritten verschont.

      Charly bemerkte die Website vom Architekturbüro Silber auf Siebels Bildschirm. »Hast du den entlaufenen Architekten gestern noch heil in sein Heim gebracht?«

      »Ach, Charly, versprich mir eins. Sollte Sabine mich jemals in so ein Heim abschieben, dann komm mit mir.«

      »Gibt es da Computer?«, wollte Charly wissen.

      »Bestimmt. Aber du wirst die Technik nicht mehr verstehen, mit der sie funktionieren.«

      »Du machst mir Angst. Vorhochzeitliche Depressionen?«

      »Quatsch. Ich mache mir halt meine Gedanken. Apropos Gedanken. Könntest du mal die Archive durchforsten?«

      »Lass mich raten. Nach einem ungelösten Mordfall Juliane Mangold?«

      »Da hast du richtig geraten.«

      »Glaubst du wirklich, an der Aussage von dem alten Herrn könnte etwas dran sein?«

      »Ich habe da jedenfalls so ein komisches Gefühl im Bauch.«

      »Oh je. Dein berühmtes Bauchgefühl. Pass bloß auf, sonst gräbst du am Ende wieder so einen Fall aus, der die Republik in ihren Grundfesten erschüttert. So kurz vor dem Hochzeitstermin. Wenn das mal gut geht.«

      »Jetzt male nicht gleich den Teufel an die Wand. Die Hochzeit steht, da kann passieren, was will.«

      »Ob das der Staatsanwalt auch so sieht, wenn du ihm jetzt einen leckeren Knochen ausgräbst und hinwirfst?«

      »Ausgegrabene Knochen? Staatsanwalt? Gibt es endlich einen neuen Fall?« Till kam gut gelaunt ins Büro marschiert.

      »Vergiss es«, ermahnte ihn Charly. »Diese Woche werden nur noch Routinearbeiten erledigt. Anweisung von der zukünftigen Frau Siebels. Sollte sich ein Fall einschleichen, der auch nur im Entferntesten von der Staatsanwaltschaft mit dem Prädikat besonders heikel eingestuft werden könnte, haben wir eine totale Kommunikationssperre zum Staatsanwalt zu errichten.«

      »Das hat Sabine hinter meinem Rücken verfügt?«, erkundigte sich Siebels ungläubig.

      »Hat sie«, bestätigte Till.

      »Sie traut mir wohl nicht so richtig«, überlegte Siebels laut.

      »Was besonders heikle Fälle betrifft, traut sie dir keinen Millimeter über den Weg«, bestätigte Till die Überlegungen von Siebels.

      »Soll ich also wirklich die Archive durchforsten?«, fragte Charly süffisant.

      Siebels kratzte sich am Kopf. »Falls du wirklich etwas Interessantes findest, übertrage ich Till den Fall.«

      »Um was geht es denn?«, erkundigte sich Till.

      Siebels klärte ihn über den gestrigen Besuch von Otto Silber auf.

      »Als Zeugen kannst du ihn auf jeden Fall nicht gebrauchen«, gab Till seinen Kommentar dazu ab.

      »Wir können heute Vormittag ja mal einen kleinen Ausflug unternehmen und das Architekturbüro Silber besuchen. Ich würde gerne seine Söhne kennen lernen.«

      »Oh, oh, die Ermittlungen laufen an«, stellte Charly fest. »Dann gehe ich schon mal ins Archiv und grabe ein wenig in alten Zeiten.«

      Charly nahm einen letzten Schluck Kaffee, stellte die leere Tasse auf den Schreibtisch von Siebels ab und verließ das Büro. Siebels griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer von Jana Mangold. Jana Mangold nahm das Gespräch entgegen. Sie war nicht verreist, sondern verbrachte ihre Urlaubstage in Frankfurt. Siebels wollte sie gerne persönlich sprechen. Er verabredete sich mit ihr im Café Extrablatt an der Bockenheimer Warte. Jana Mangold wohnte ganz in der Nähe, in der Falkstraße in Bockenheim.

      »Wir haben ein Date«, sagte Siebels zu Till, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

      »Wir?«

      »Ja, wir. Du und ich. In einer halben Stunde. Mit Jana. Jana Mangold. Sie ist die Pflegerin von Otto Silber im Heim. Momentan hat sie aber Urlaub und trifft sich mit uns auf einen Kaffee.«

      »Ist das jetzt ein Fall oder was ist das?«

      »Das ist eine Verabredung auf einen Kaffee. Wie geht es eigentlich Anna? Sie kommt doch mit zum Standesamt, oder?«

      »Klar kommt sie mit. Es sei denn, du schickst ihr kurz vor deiner Hochzeit noch ein paar besonders heikle Leichen in die Gerichtsmedizin.«

      »Ich weiß gar nicht, was ihr alle habt. Soll ich mich jetzt bis Freitag im Büro einschließen, oder was? Komm, wir gehen.«

      Till trottete Siebels hinterher. »Es gibt keine Parkplätze an der Bockenheimer Warte. Wenn es nur ein Ausflug ist, könnten wir mit meinem Bock fahren.«

      »Ich habe aber keinen Helm«, sagte Siebels und schlenderte gemütlich aus dem Präsidium.

      »Ich habe noch einen Ersatzhelm. Eigentlich habe ich den für Anna. Ob der auf deinen Dickschädel passt, müsste man probieren.«

      Die Gold Wing von Till stand auf einem der Parkplätze vor dem Präsidium. Siebels begutachtete das monströse Motorrad. »Warum fährst du eigentlich keine Harley? Das hier ist doch ein Wohnmobil auf zwei Rädern.«

      »Du klingst schon wie Anna. Vielleicht steige ich nächste Saison wirklich auf eine Harley um.«

      »Sag mir Bescheid, wenn du das gute Stück hier verkaufen willst. Ich bin jetzt genau im richtigen Alter für Wohnmobile auf zwei Rädern. Da kann man ja auch Frau und Kind ganz bequem mitnehmen.«

      Till nahm die Helme aus den Seitenkoffern. »Wo willst du das Kind denn unterbringen?«

      »In den Koffern. Wo zwei Helme reinpassen, passen auch zwei


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