Die vergessene Schuld. Stefan Bouxsein

Die vergessene Schuld - Stefan Bouxsein


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die Wohnung im Musikantenweg. Es war eine typische Zweizimmer-Studentenbude. Im kleinen Wohnzimmer lag der Leichnam von Robert Silber. Die Männer, die den Leichnam in die Gerichtsmedizin transportieren sollten, warteten schon. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit bereits beendet und auch Anna Lehmkuhl wartete nur noch auf Siebels und Till.

      »Gibt es Einbruchsspuren?«, wollte Siebels wissen.

      »Nichts dergleichen«, ließ Polizeiobermeister Meier ihn wissen. »Die Nachbarn haben auch nichts gesehen und gehört. Es scheint auch nichts gestohlen worden zu sein. In seiner Geldbörse hatte er noch über 300 Euro. Computer, Flachbildfernseher, i-Phone, alles noch da.«

      Siebels blickte zu Anna Lehmkuhl. »Ein einziger Schlag und er war sofort tot?«

      Anna Lehmkuhl nickte. »Da hat jemand richtig zugeschlagen. Bei der Tatwaffe könnte es sich um einen Baseballschläger oder so etwas Ähnliches handeln. Wenn ich ihn auf dem Tisch habe, finde ich vielleicht Rückstände der Tatwaffe in seinem zertrümmerten Schädel.«

      Siebels schaute sich im Zimmer um. In einer kleinen Vitrine waren einige Pokale aufgereiht, die Robert Silber beim Tennis gewonnen hatte. Im Bücherregal daneben standen hauptsächlich Fachbücher über Architektur. Siebels interessierte sich mehr für die kleine Auswahl an Romanen, die auf dem untersten Regal aufgestellt waren. »Marquise de Sade, Töchter der Lust, Die unersättliche Lady Theodora, Die Macht der Dominanz«, las Siebels vor.

      »Vielleicht haben seine sexuellen Neigungen etwas mit seinem Tod zu tun«, mutmaßte Anna Lehmkuhl.

      »Ich glaube eher, dass es ein dunkles Familiengeheimnis gibt«, sagte Siebels. »Aber wir müssen trotzdem prüfen, ob er sich nur auf die einschlägige Literatur beschränkt hat oder ob er in einer entsprechenden Szene aktiv war. Das wäre doch etwas für dich Till, oder?«

      »Ich kenne mich mit so etwas nicht aus«, wehrte Till ab.

      »Lies die Bücher, dann weißt du Bescheid«, sagte Anna Lehmkuhl und deutete auf das unterste Bücherregal.

      »Klingt fast so, als hättest du diese Bücher schon alle gelesen«, konterte Till.

      »Wer weiß?«, sagte Anna Lehmkuhl kokett und zwinkerte Till zu. »Ich rufe dich an, wenn ich Feierabend mache.« Dann nahm sie ihren Koffer und verließ die Wohnung.

      »Was war das denn jetzt?«, fragte Till verwirrt.

      »Vielleicht bist du ihr nicht dominant genug«, erwiderte Siebels.

      »Blödsinn«, sagte Till mit entschiedener Stimme und musterte dann noch einmal heimlich die Buchrücken.

      Die letzten Männer, die noch von der Spurensicherung vor Ort waren, machten sich nun auch auf den Weg. Siebels betrachtete sich ausgiebig den Leichnam. Dann gab er ein Zeichen, dass die Leiche abtransportiert werden könne. Robert Silber wurde in einen Blechsarg gelegt und aus dem Haus getragen. Nun waren außer Siebels und Till nur noch Polizeiobermeister Meier und dessen Kollegin Sandra Brehm anwesend. Die beiden warteten in der kleinen Küche.

      »Wer hat ihn denn gefunden?«, wollte Siebels wissen.

      »Seine Schwester. Julia Silber.«

      »Ach, das ist ja interessant. Und wo ist sie jetzt?«

      Meier zuckte mit den Schultern und deutete auf seine Kollegin. »Sie hat kurz mit Sandra gesprochen, als wir eintrafen. Danach war sie verschwunden.«

      »Ich habe ihre Personalien aufgenommen«, sagte Sandra Brehm.

      »Und sonst? Hat sie irgendwas gesagt? In welchem Zustand war sie?«

      »Sie war völlig durcheinander und wollte zu ihrer Mutter. Sie hat einen Schlüssel für die Wohnung. Als ihr Bruder nicht geöffnet hat, hat sie die Tür aufgeschlossen und ihn dann gefunden. Sie hat über den Notruf einen Notarztwagen kommen lassen. Die konnten aber nichts mehr tun und haben uns dann verständigt.«

      Siebels schaute Till an. »Dann hat Frau Silber schon davon gewusst, bevor wir vorhin mit ihrem Mann gesprochen haben. Anscheinend hat ihn weder seine Frau noch seine Tochter informiert. Merkwürdig.«

      »Können wir gehen?«, fragte Meier. »Unsere Schicht ist lange vorbei.«

      »Ja, ja. Danke, dass ihr so lange auf uns gewartet habt. Wie viele Zeugenaussagen gibt es?«

      »Drei der Nachbarn haben wir angetroffen. Von denen wusste aber niemand etwas zu berichten.«

      »Okay, Namen und Aussagen brauche ich trotzdem schnellstmöglich.«

      »Hast du morgen früh auf dem Tisch liegen. Viel Erfolg.«

      »Und jetzt?«, fragte Till, als auch Meier und Sandra Brehm von der Bildfläche verschwunden waren.

      »Du stattest Jana Mangold noch einen Besuch ab. Frag sie noch mal nach dieser Juliane Mangold, die 1960 erschlagen worden ist. Das kann ja wohl alles kein Zufall sein. Die hat uns heute Vormittag doch etwas verschwiegen. Und ich fahre in die Seniorenresidenz und versuche ein vernünftiges Gespräch mit Otto Silber zu führen. Ich nehme jetzt die U-Bahn.«

       Eva Silber besuchte zweimal in der Woche das Fitnessstudio. Sie hielt sich in Form, das sah man ihr an. Vielleicht schwitzte sie auch nur ihren Verdruss heraus. Den Verdruss des Alltags. Zwei erwachsene Kinder, eine Ehe, die ihre besten Tage hinter sich hatte, ein dementer Schwiegervater, genug Geld zum Ausgeben und zu wenig Träume zum Verwirklichen. Nach meiner emotionalen Kalkulation war sie für Schmeicheleien mehr als anfällig. Zum Glück hatte sie sich kein reines Frauenstudio ausgesucht. Vielleicht war es auch kein Glück, sondern die Sehnsucht einer reifen Frau, Männerblicke auf sich zu lenken. Meine Blicke waren ihr gewiss. Ich hatte mich für ein dreimonatiges Probetraining angemeldet und ging nun seit drei Wochen zur gleichen Zeit wie Eva Silber ins Studio. Dienstags und donnerstags von 16:00 bis 18:00 Uhr. Heute trug sie eine hautenge pfirsichfarbene Gymnastikhose und ein hellgrünes Top. Sie sah gut aus, wie sie da auf dem Ergometer strampelte. Ich stemmte mein Gewicht noch ein paarmal in die Höhe, dann pirschte ich mich an meine Beute. Ich setzte mich auf das Ergometer neben sie und fing ebenfalls mit dem Strampeln an. Nach wenigen Minuten fing ich an zu keuchen. Eva Silber schaute stur geradeaus und konzentrierte sich auf ihren Rhythmus.

       »Sie sind ziemlich fit, wie lange machen Sie das schon?«, fragte ich sie und keuchte strampelnd weiter.

       Eva Silber schaute kurz zu mir herüber. »Seit drei Jahren. Als ich angefangen habe, habe ich auch so gekeucht.«

       »Eigentlich würde ich Ihnen lieber zuschauen, als mich hier abzuquälen«, sagte ich und schenkte ihr mein schönstes Lächeln. Die Frauen konnten meinem Lächeln noch nie widerstehen. Sympathisch, jungenhaft, charmant, lausbubenhaft, waren die Attribute, die man mir bescheinigte, wenn ich lächelte.

       »Flirten Sie gerade mit mir?«, fragte sie mich, ohne dabei eine Miene zu verziehen.

       »Wäre das schlimm?«, fragte ich unschuldig.

       »Sie könnten mein Sohn sein.«

       »Ich unterhalte mich gerne mit reifen Frauen. Aber sagen Sie jetzt nicht, ich hätte einen Mutterkomplex.«

       »Das bekommen Sie wohl öfter zu hören?«

       »Vielleicht finde ich Sie einfach auch nur sehr attraktiv«, murmelte ich etwas schüchtern vor mich hin.

       »Nur vielleicht?« Sie stellte ihre sportlichen Bemühungen ein und betrachtete mich mit einem belustigten Blick.

       »Jedenfalls würde ich Sie gerne etwas näher kennen lernen und auf einen Drink einladen«, ging ich in die Offensive.

       »Ich bin aber verheiratet.«

       Ich zuckte mit den Schultern. »Ich nicht«, sagte ich grinsend.

      


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