Die vergessene Schuld. Stefan Bouxsein

Die vergessene Schuld - Stefan Bouxsein


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      »Sein Enkel wurde ermordet«, berichtete Siebels Roswitha Hebenstein, der Leiterin der Seniorenresidenz. »Glauben Sie, Herr Silber kann diese Nachricht geistig aufnehmen?«

      »Das ist ja furchtbar. Vielleicht sollte ihm das aber besser einer seiner Söhne sagen. Finden Sie nicht?«

      »Vielleicht. Aber ich ermittele jetzt in dem Mordfall Robert Silber. Und in dem Zusammenhang steht nun auch die Aussage von Herrn Otto Silber, nämlich der gemeldete Mord an einer gewissen Juliane. Und dazu gibt es in der Tat einige offene Fragen. Wir haben nämlich mittlerweile einen ungeklärten Mordfall aus dem Jahr 1960 ausgegraben. Opfer war ein junges Mädchen. Sie hieß Juliane Mangold.«

      »Ach du meine Güte. Und jetzt glauben Sie wirklich, dass die Aussage von Herrn Silber auf Tatsachen beruht?« Roswitha Hebenstein blickte Siebels ratlos an. »Mangold? So wie unsere Jana?«

      »So wie Ihre Jana. Ich habe heute Vormittag mit Jana Mangold gesprochen. Leider habe ich erst danach von dem ungelösten Fall Juliane Mangold erfahren. Jana Mangold hat aber keinerlei Reaktion gezeigt, als ich ihr von der Aussage von Herrn Silber erzählt habe.«

      »Nun ja, das wird wohl ein Zufall sein. Mangold ist ja ein Name, der häufiger vorkommt.«

      »Das sind mir aber zu viele Zufälle. Erst erscheint Otto Silber auf dem Präsidium und erinnert sich nach fünfzig Jahren wieder an diesen alten Mord, dann bekomme ich den Mordfall Robert Silber auf den Tisch und obendrein hat Otto Silber hier auch noch eine Pflegerin, die den Nachnamen des damaligen Opfers führt. Juliane Mangold und Robert Silber wurden beide erschlagen. Ich befürchte, es gibt da einen Zusammenhang und Otto Silber ist das Bindeglied zwischen Jana und Juliane Mangold.«

      »Aber wenn Jana sich doch nicht dazu geäußert hat.«

      »Dann macht mich das sehr nachdenklich. Kann ich mich jetzt mit Herrn Silber unter vier Augen unterhalten?«

      »Sie können es versuchen. Ob etwas dabei herauskommt, wage ich zu bezweifeln. Seitdem Sie ihn uns von seinem Ausflug zurückgebracht haben, ist er sehr durcheinander. Kommen Sie, ich bringe Sie zu seinem Zimmer.«

      Till hatte mehrmals an der Haustür geklingelt. Jana Mangold schien nicht zuhause zu sein. Die Falkstraße war eine beruhigte Wohnstraße, auf dem gegenüberliegenden Schulhof spielten ein paar Jungs Fußball. Till trat zwei Schritte von der Haustür zurück und betrachtete sich die Fassade des Wohnhauses. Kleine Balkone standen hervor. Jana Mangold musste laut Klingelschild im zweiten Stockwerk wohnen. Auf keinem der Balkone war jemand zu sehen. Till wollte gerade gehen, als sich die Haustür öffnete. Ein kleines Mädchen versuchte sein Fahrrad durch die Tür zu schieben. Till hielt ihr die Tür auf. Das Mädchen bedankte sich artig, stieg auf das Fahrrad und fuhr in Schlangenlinien über den Bürgersteig. Till ging ins Haus und hinauf in die zweite Etage. Mangold stand an der rechten Tür. Das Türschloss war aufgebrochen und die Tür stand einen Spalt weit offen. Till blieb regungslos vor der Tür stehen. Seine Hand bewegte sich langsam zu seiner Dienstwaffe. Es war gegen die Vorschrift, allein die Wohnung zu betreten. Wenn Jana Mangold drinnen war, benötigte sie vielleicht schnellstens Hilfe. Till dachte nach. Er hatte mehrmals von unten geklingelt und bestimmt fünf Minuten gewartet. Wenn noch jemand in der Wohnung war, war er gewarnt. Wenn dieser Jemand am Fenster stand, wusste er, dass Till jetzt im Haus war. Till konzentrierte sich ganz auf sein Gehör, aber aus der Wohnung war kein Laut zu hören. Er nahm seine Pistole in beide Hände und schubste die Tür mit dem Fuß noch ein Stück weit auf. Durch den Türspalt war niemand zu sehen. Till betrat die Wohnung. Jederzeit bereit, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Links von ihm lag das Bad. Die Tür stand halb offen, es war niemand drinnen. Geradeaus ging es zum Wohnzimmer. Rechts ins Schlafzimmer. Neben dem Bad gab es noch eine kleine Küche. Till öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Jemand schien etwas gesucht zu haben. Sämtliche Kleidungsstücke waren aus dem Kleiderschrank geräumt und auf dem Fußboden verteilt. Till machte zwei schnelle Schritte zum Wohnzimmer und hielt die Pistole mit ausgestreckten Armen und dem Finger am Abzug. Erleichtert atmete er durch, als er niemanden antraf. Hier sah es noch schlimmer aus als im Schlafzimmer. Möbelstücke waren umgeworfen, die Schrankinhalte über den ganzen Fußboden zerstreut. Eine Stehlampe war zu Bruch gegangen. Till inspizierte noch die Küche. Er war allein in der Wohnung.

      Otto Silber saß in seinem Fernsehsessel und betrachtete sich eine Kochsendung. Siebels stand einen Moment mit Roswitha Hebenstein an der Türschwelle. Herr Silber hatte von seinem Besuch noch keine Notiz genommen.

      »Sie haben Besuch, Herr Silber«, versuchte die Heimleiterin seine Aufmerksamkeit zu wecken. Sie bekam keine Reaktion. Auf dem Bildschirm hackte ein prominenter Sportler auf eine Gurke ein. Der Fernsehkoch lobte ihn. Otto Silber schien sich aber in einer ganz anderen Welt aufzuhalten. Siebels betrat das Zimmer und stellte sich vor den Fernseher.

      »Guten Abend, Herr Silber. Erinnern Sie sich noch an mich?«

      Otto Silber drehte erst seinen Kopf und dann den Knopf an seinem Hörgerät. »Abendessen?«

      »Abendessen gab es doch schon, Herr Silber. Sie haben Besuch.«

      »Sie suchen ein Buch?«, fragte Otto Silber mit lauter Stimme nach.

      »Besuch«, sagte die Heimleiterin mit genauso lauter Stimme und ließ Siebels mit Otto Silber allein.

      »Erinnern Sie sich an mich?«, fragte Siebels ein zweites Mal und diesmal ebenso laut.

      »Warum schreien Sie denn so? Ich bin doch nicht taub. Wer sind Sie überhaupt?«

      »Sie waren gestern in meinem Büro. Auf dem Polizeipräsidium. Erinnern Sie sich wieder?«

      Otto Silber dachte angestrengt nach. Aber anscheinend wusste er nicht, wovon Siebels sprach.

      »Ich komme wegen der Juliane«, startete Siebels einen neuen Versuch.

      »Die Juliane!« Otto Silber beugte sich nun neugierig zu Siebels. »Ist sie auch da, die Juliane?«

      Siebels wusste nicht so recht, ob er jetzt die verstorbene Juliane meinte oder eher seine Pflegerin Jana. Oder vielleicht doch eher seine Enkelin Julia.

      »Die Juliane, die ermordet wurde«, sagte Siebels mit ernstem Gesichtsausdruck.

      Otto Silber schaute Siebels eindringlich an, ohne etwas zu sagen. Dann quoll eine Träne aus seinem Auge und rann seine Wange herunter. »Ja. Die Juliane ist tot. Ich weiß. Wann ist denn die Beerdigung?«

      Siebels setzte sich und betrachtete sich seinen Gesprächspartner. Irgendwie konnte er verstehen, dass die Angehörigen das Interesse an regelmäßigen Besuchen verloren.

      »Wie haben Sie und die Juliane sich denn kennen gelernt?« Siebels hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, ein Stück blauen Himmel im Kopf von Otto Silber zu finden.

      Otto Silber grinste. »Ein fesches Mädel, die Juliane. Ich bin ja Architekt, müssen Sie wissen. Und da stand die Juliane eines Tages in meinem Büro und hat nach Arbeit gefragt. Sie suchte eine Stelle als Sekretärin. Hübsch war sie. So ein hübsches Mädchen. Ich habe sie mir angeschaut und dann habe ich sie eingestellt. Dabei hatte ich gar keine Arbeit für sie.« Otto Silber nickte zur Bestätigung heftig mit dem Kopf. Siebels schaltete den Fernseher aus. Er hatte Otto Silber unter ein helles Stück Himmel geführt. Wahrscheinlich war es die schönste Zeit im Leben des alten Mannes gewesen. 1958 hatte er sein Architektenbüro eröffnet. Zwei Jahre später starb Juliane Mangold und hinterließ eine zweijährige Tochter. Siebels ahnte, dass alle Fragen, die ihm jetzt auf der Zunge lagen, außerhalb des Stückes blauen Himmels von Otto Silbers Horizont lagen. Eine ermordete Geliebte, möglicherweise eine uneheliche Tochter und eine Ehefrau, die er nie geliebt hatte. Siebels legte sich seine Fragen behutsam zurecht.

      »Da haben Sie aber bestimmt nichts anbrennen lassen, bei der feschen Juliane«, sagte er dann kumpelhaft und lachte wissend.

      Otto Silber schien sie genau vor sich zu sehen, seine Juliane. »Ich habe sie doch geliebt. Mein Gott, wie sehr habe ich sie geliebt. Aber dann kam sie nicht mehr. Ich saß im Büro und habe auf sie gewartet. Eine ganze Woche lang saß ich da, habe aus dem Fenster geschaut und auf sie gewartet. Dann kam der Inspektor und hat so


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