Die vergessene Schuld. Stefan Bouxsein

Die vergessene Schuld - Stefan Bouxsein


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die Frau Schneider hier noch tätig ist?«, fragte er und zeigte auf das Haus, in dem sie früher gearbeitet hatte.

      »Das willst du nicht wirklich wissen. Fahr weiter.«

      Till zuckte mit den Schultern und ließ die Maschine wieder langsam anrollen. Nach wenigen hundert Metern waren sie an ihrem Ziel angekommen. Siebels stieg umständlich von dem Motorrad herunter und betrachtete sich den Hauseingang. Ein schlichtes, kleines Messingschild wies daraufhin, dass das Architekturbüro Silber im zweiten Stockwerk zu finden war. Till verstaute die Helme wieder in den Koffern neben der Sitzbank. Pippi Langstrumpf kündigte einen Anruf an. Siebels erkannte die Nummer von Staatsanwalt Jensen und verdrehte die Augen.

      »Es gibt Arbeit, Siebels«, hielt sich der Staatsanwalt nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln auf. »Ein gewisser Robert Silber wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden. Wahrscheinlich mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Frau Lehmkuhl ist schon vor Ort. Die Spurensicherung auch. Es handelt sich wohl um einen Studenten der Fachhochschule. Architekturstudent, um genau zu sein.«

      Siebels benötigte eine Weile, um das eben Gehörte in seinem Gehirn zu verarbeiten. »Wie war der Name des Toten?«, fragte er ungläubig nach.

      »Silber. Silber wie Gold. Robert Silber. Wohnhaft im Musikantenweg.«

      »Okay, wir sind schon unterwegs.« Siebels beendete das Gespräch. Er hatte jetzt nicht die Muße, dem Staatsanwalt zu erklären, dass er gerade auf dem Weg zu dem Vater des Opfers war.

      »Was gibt es?«, fragte Till, der den verwirrten Gesichtsausdruck von Siebels nicht zu deuten wusste.

      »Einen neuen Fall.« Siebels klärte Till auf.

      »Wie lange ist er schon tot?«, wollte Till wissen.

      »Weiß ich nicht. Warum?«

      »Wenn es wirklich der Enkel von Otto Silber ist, steckt vielleicht doch etwas mehr hinter dem Auftauchen des verwirrten Mannes auf dem Präsidium.«

      Siebels kam nicht umhin, sich eine Zigarette anzustecken. Nachdenklich zog er sich den Rauch in die Lunge. »Du meinst, der wahre Grund für das Auftauchen von dem alten Silber war der Mord an dessen Enkel?«

      Till zuckte mit den Schultern. »Macht doch irgendwie Sinn, oder?«

      »Und irgendwie auch nicht. Schließlich hat der alte Mann einen Mord gemeldet, der über fünfzig Jahre zurückliegt. Über seinen Enkel hat er kein Wort verloren.«

      »Er ist dement. Vielleicht war der Mord an seinem Enkel der Auslöser für seine Reise zurück in die Vergangenheit?«

      »Ruf Anna Lehmkuhl an und frage sie nach dem ungefähren Todeszeitpunkt. Und frage sie auch, ob schon jemand die Eltern verständigt hat. Wenn nicht, gehen wir jetzt erst mal da rauf und reden mit dem Vater.«

      Till rief bei der Gerichtsmedizinerin Anna Lehmkuhl an, mit der er sich zwar in letzter Zeit regelmäßig traf, die er aber noch nicht als seine Freundin bezeichnete. Sein Plan war es, das am großen Tag von Siebels‹ Hochzeit zu ändern. Da wollte er endlich Nägel mit Köpfen machen. Anna Lehmkuhl war noch am Tatort. Sie wollte sich nicht festlegen, aber sie schätzte, dass der Todeszeitpunkt vor mindestens 24 Stunden eingetreten sei. Eher noch ein paar Stunden früher. Till gab die Information simultan an Siebels weiter.

      »Also bevor uns Otto Silber aufgesucht hat«, überlegte Siebels laut.

      »Wurden die Eltern des Opfers schon verständigt?«, fragte Till nach.

      Davon wusste Anna Lehmkuhl nichts.

      »Gib sie mir mal«, bat Siebels und nahm Till das Handy ab. »Hallo, Anna. Ist jemand von meinen Kollegen in der Nähe?« Siebels wurde an Polizeiobermeister Meier weitergereicht. »Hat schon jemand die Eltern des Opfers verständigt? Nein? Gut. Habt ihr schon persönliche Daten des Opfers? Ein Geburtsdatum zum Beispiel?« Siebels wartete einen Moment. Dann notierte er sich den 12. April 1984 als Geburtsdatum des Opfers Robert Silber. »Okay, Danke. Wir kommen etwas später, bis nachher.«

      4

      Hartmut Silber saß kreidebleich in seinem Bürostuhl. Siebels hatte ihm gerade die Nachricht vom Tod seines Sohnes Robert übermittelt. Zuvor hatte Siebels sich vergewissert, dass es sich tatsächlich um den Sohn von Hartmut Silber handelte. Der Architekt hatte bestätigt, dass Adresse und Geburtsdatum seines Sohnes mit den Daten des Opfers identisch waren. Hermann Silber war auch anwesend. Er stand hinter seinem Bruder und legte ihm tröstend die Hände auf die Schultern. Hartmut Silber war schlanker und trainierter als sein Bruder. Das lag nicht an den zwei Jahren Altersunterschied. Man merkte den beiden an, dass sie unterschiedliche Typen waren. Hermann Silber war schon ergraut, trug einen gepflegt gestutzten Vollbart und brachte einige Kilo zu viel auf die Waage. Hartmut Silber hatte zwar graue Schläfen, aber noch kräftiges dunkles Haupthaar. Unter dem Jackett trug er einen Rollkragenpullover, der ältere Bruder Hemd und Krawatte. Hartmut Silber saß völlig regungslos in seinem Stuhl und starrte durch Siebels hindurch.

      »Können wir Ihnen ein paar Fragen stellen?«, fragte Siebels behutsam.

      Hartmut Silber zeigte keine Reaktion. Hermann Silber ging zu einem der Büroschränke und holte eine Cognac-Flasche und zwei passende Gläser hervor. Sein Bruder nahm das gefüllte Glas entgegen und trank es in einem Zug aus. Dann richtete er seinen Blick auf Siebels.

      »Warum? Wer? Haben Sie darauf Antworten?«

      Siebels schüttelte den Kopf. Till lobte ihn immer für seine Einfühlsamkeit, die er in solchen Situationen zeigte. Aber Siebels kam sich immer völlig hilflos vor, wenn er vor den Angehörigen von Mordopfern stand, ihnen unvermittelt so eine Nachricht übermitteln und dann auch noch Fragen stellen musste. Außerdem musste er abschätzen, wie viel er zu diesem Zeitpunkt überhaupt schon preisgeben durfte. Seine Bekanntschaft mit dem Vater der beiden Brüder ließ er unerwähnt.

      »Gibt es jemanden, mit dem Ihr Sohn Streit hatte?«, erkundigte sich Till.

      »Streit?« Hartmut Silber schaute Till entgeistert an. »Jeder hat mal Streit mit irgendjemandem. Das ist doch kein Grund, gleich totgeschlagen zu werden.«

      Siebels entnahm daraus, dass Robert öfter mal Streit hatte. In den meisten Fällen verneinten die Angehörigen diese Frage erst einmal. Till führte das Gespräch weiter. »Noch wissen wir nicht, was genau passiert ist. Es könnte auch ein Unfall gewesen sein oder eine Handlung im Affekt. So etwas passiert leider immer wieder, wenn es Streitigkeiten um Geld oder um eine Frau gibt.«

      »Robert hatte weder Geldprobleme noch Frauengeschichten«, antwortete Hartmut Silber und schien gedanklich weit weg zu sein.

      Hermann Silber goss die Cognacgläser noch einmal voll. »Wir müssen Eva verständigen«, sagte er leise und legte dabei seine Hände wieder auf die Schultern seines Bruders.

      »Ich kann ihr das nicht sagen«, schluchzte Hartmut. »Alles, aber das nicht.«

      »Wir fahren nach Hause, ich rufe Hannelore an«, bestimmte Hermann Silber und sein Blick sagte, dass Siebels und Till jetzt besser gehen sollten.

      Siebels fragte sich, wann die Familie auch Otto Silber vom Tod seines Enkels informieren würde oder ob sie ihn überhaupt einweihen würden. Mit dem wollte er sich nämlich baldmöglichst noch mal unterhalten.

      »Nur noch eine Frage«, bat Siebels. »Lebte Ihr Sohn in einer Beziehung?«

      »Mein Neffe ist ledig«, antwortete Hermann Silber. »War ledig«, verbesserte er sich. »Er lebte allein in der Wohnung. Eine feste Freundin gab es in der letzten Zeit auch nicht. Robert hat gerade seinen Master in Architektur gemacht und sollte jetzt bei uns hier als Architekt einsteigen.«

      Plötzlich sprang Hartmut Silber auf. »Ich will zu ihm. Ich will zu meinem Sohn. Ich will ihn sehen.«

      »Das geht jetzt leider nicht«, beschwichtigte ihn Siebels. »Die Spurensicherung ist dort. Es kann jetzt niemand in die Wohnung. Wir melden uns bei Ihnen, sobald Sie ihn sehen können.«

      »Lass uns nach Hause


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