Die vergessene Schuld. Stefan Bouxsein

Die vergessene Schuld - Stefan Bouxsein


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zwei Kommissaren, die sich mit Bandenkriminalität auseinandersetzten. Die beiden hartgesottenen Beamten saßen wie eingeschüchterte kleine Jungs hinter ihren Schreibtischen. Otto Silber schlug mit seinem Stock auf einen der Schreibtische ein.

      »Wo sind denn die Zeichnungen? Geben Sie mir sofort die Zeichnungen!« Otto Silber machte einen sehr aufgebrachten Eindruck. »Sitzen die hier den ganzen Tag rum und klotzen sich gegenseitig blöd an, das darf doch nicht wahr sein. Die Zeichnungen müssen heute noch fertig werden. Wo haben Sie sie hin? Los, raus mit der Sprache!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug er wieder seinen Stock auf die Schreibtischplatte.

      »Herr Silber, die Herren sind keine Architekten und keine Zeichner. Das sind auch Kriminalkommissare.« Siebels legte seine Hand auf die Schulter des aufgebrachten Mannes und versuchte, ihn zu beruhigen.

      »Aber die Zeichnungen«, stammelte Otto Silber. »Wir haben doch Abgabetermin.«

      »Jetzt bringe ich Sie zum Abendessen. Das habe ich Ihnen doch versprochen.«

      »Ja, gut. Ich habe Hunger.« Otto Silber ließ sich am Arm von Siebels aus dem Büro führen. An der Türschwelle drehte er sich noch einmal um. »Bis morgen habt ihr die Zeichnungen aber fertig, ihr faulen Hunde.«

      »Alles klar, Chef, wird erledigt«, versuchte Kriminalkommissar Behrend seinen Besucher zu beschwichtigen. »Sowie wir die Hells Angels dingfest gemacht haben, kümmern wir uns um die Zeichnungen«, gab nun auch Kommissar Schramm seinen Kommentar ab.

      Siebels kannte die beiden flüchtig. Er zeigte ihnen den erhobenen Daumen. »Gut so. Und jetzt wieder an die Arbeit, ihr faulen Hunde. Ich bringe den Chef derweil zur Seniorenresidenz Sonnenschein. Wünsche einen angenehmen Feierabend.« Als Siebels Otto Silber wieder aus dem Büro bugsiert und die Tür geschlossen hatte, hörte er das Gelächter der beiden. Er fand es jetzt aber gar nicht mehr lustig. Otto Silber schaute ihn wieder ganz treu und traurig an. Siebels wünschte, er könnte dem alten Mann etwas Gutes tun. Wenigstens konnte er ihn sicher zurück ins Heim begleiten.

      Während der Fahrt saß Otto Silber meist schweigend auf dem Beifahrersitz. Siebels hörte den Nachrichten im Radio zu und als im Anschluss Musik von Tina Turner lief, fragte er sich, wo und wie er seine letzten Tage einmal verbringen würde. Um die trüben Gedanken beiseitezuschieben, erzählte er Herrn Silber, dass er in wenigen Tagen heiraten würde.

      Otto Silber drehte seinen Kopf zu Siebels und schaute ihn an. »Tun Sie das besser nicht«, sagte er dann leise.

      Siebels hatte das Gefühl, dass sein Beifahrer in diesem Moment völlig klar im Kopf war.

      In der Seniorenresidenz erwartete man Otto Silber schon sehnlichst. Zwei Pfleger nahmen ihn in Empfang. Siebels wies sich als Kommissar aus und hegte den Wunsch, noch mit jemandem von der Heimleitung zu sprechen. Während einer der Pfleger Otto Silber zu seinem Abendessen brachte, brachte der andere Siebels ins Büro der Heimleitung.

      »Roswitha Hebenstein ist mein Name. Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht und unseren Herrn Silber persönlich abgeliefert haben.« Frau Hebenstein war Ende fünfzig. Sie trug eine goldumrandete Brille, hochgestecktes Haar, einen Rock mit Schottenmuster und einen Rollkragenpullover.

      »Herr Silber macht mir einen sehr verwirrten Eindruck«, begann Siebels das Gespräch mit ihr.

      »Ja, er leidet unter Demenz. So wie die meisten unserer Bewohner. Wir passen daher auch gut auf, dass sich niemand heimlich aus dem Staub macht. Aber Herr Silber hat uns heute Vormittag anscheinend ausgetrickst.«

      »Sie meinen, er ist ganz gezielt ausgebüchst? Ich dachte eher, er hätte vielleicht einen Spaziergang gemacht und dabei die Orientierung verloren.«

      »Nein. Er hat das ganz genau geplant. Er hat mehrere Leute vom Personal angeschwindelt und zwar so gezielt, dass er unbemerkt das Haus verlassen konnte.«

      Siebels runzelte die Stirn. »So sehr verwirrt ist er dann also doch nicht.«

      »Seine Demenz ist schon ziemlich weit fortgeschritten. Aber er befindet sich in keinem kontinuierlichen Zustand der geistigen Verwirrung. Sie können sich das folgendermaßen vorstellen: Das Gehirn von demenzerkrankten Menschen gleicht dem Himmel. Es gibt Momente, da ist kein Wölkchen am Himmel. Es ist klar und blau. Solche Momente erlebt auch Herr Silber hin und wieder noch. Da denkt er ganz klar und logisch. Dann tauchen aber kleine Wolken auf. Diese Wolken trüben das Kurzzeitgedächtnis. Namen von Personen aus dem unmittelbaren Umfeld sind plötzlich nicht mehr greifbar. Was vor wenigen Minuten noch passiert ist, ist plötzlich wie ausradiert im Gedächtnis. Diese Wolken ziehen immer öfter auf. Betroffene Menschen merken natürlich, dass ihr Erinnerungsvermögen sie nach und nach im Stich lässt. Aber je bewölkter es in unserem Gehirn wird, desto schwieriger wird es für uns, uns mit unserer Umgebung zu arrangieren. Diese Wolken trüben zunächst das Kurzzeitgedächtnis. Weiter hinten bleibt es klar und blau. Die Vergangenheit ist noch präsent und je weiter sie zurückliegt, desto klarer kommt sie wieder zum Vorschein.«

      »Herr Silber war früher Architekt?«, erkundigte Siebels sich.

      »Ja. Er hat das Architekturbüro Silber gegründet. Sie haben vielleicht schon davon gehört? Seine beiden Söhne leiten es jetzt.«

      Siebels lächelte. »Auf dem Polizeipräsidium hat ihn die Vergangenheit wohl wieder eingeholt. Er ist in das Büro von zwei Kollegen marschiert und hat sie böse beschimpft, weil sie die Zeichnungen noch nicht fertig hatten.«

      »Das ist genau der Punkt. Eben hegt er vielleicht noch einen klaren Gedanken, im nächsten Moment trüben aber schon wieder einige Wolken sein Erinnerungsvermögen und er flüchtet zu dem Stück klaren Himmel, das vielleicht zwanzig, dreißig oder gar fünfzig Jahre in der Vergangenheit liegt. Diese alten Erinnerungen projiziert er aber in die Gegenwart und dann kommt alles durcheinander. Er ist nicht mehr in der Lage, mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren, weil er das, was man gerade gemeinsam erlebt, mit Erlebnissen aus seiner Vergangenheit kombiniert. Sein Gesprächspartner kann natürlich nicht mehr nachvollziehen, wie er den Wolken in seinem Gehirn ausweicht und irgendwo in der Vergangenheit wiederauftaucht. Ein zusammenhängendes Gespräch ist also kaum mehr möglich. Menschen wie Herr Silber merken natürlich, dass man sie dann nicht mehr für voll nimmt. Aber sie wissen nicht, warum. Sie hangeln sich von einem klaren Stück Himmel zum nächsten, ohne dabei zu bemerken, dass sie sich auf einer Zeitreise durch die Vergangenheit befinden. Mit jedem Satz, den sie sagen, stoßen sie dann auf Unverständnis. Und das ist das Fatale. Sie erleben, wie sie von ihren Mitmenschen für blöd gehalten werden. Darauf reagieren sie dann entsprechend. Entweder verschließen sie sich völlig oder sie legen aggressive Verhaltensweisen an den Tag.«

      Siebels dachte wieder an Otto Silber und schmunzelte. »Herr Silber scheint gerne mit seinem Stock auszuschlagen, wenn er nicht für voll genommen wird.«

      »Ja, das haben Sie also auch erlebt. Das kommt öfter vor. Ich befürchte aber, in einigen Monaten hat er auch diese Phasen hinter sich. Dann wird er hauptsächlich mit einem stark bewölkten Himmel leben müssen und wenn es noch schlimmer wird, herrscht irgendwann dichter Nebel in seinem Kopf und die letzten Flecken von klarem Himmel geraten ganz außer Sichtweise. Dann ist er vollkommen pflegebedürftig.«

      »Als ich ihn hergefahren habe, erzählte ich ihm, dass ich Ende der Woche heiraten werde. Mein zweiter Versuch. Er schaute mich an und sagte dann, dass ich das besser nicht tun sollte. Und ich hatte das Gefühl, dass er in diesem Moment einen völlig klaren Himmel hatte, keine Wolke weit und breit.«

      Frau Hebenstein nickte wissentlich. »Das kann gut sein. Seine Frau ist ein Drachen.«

      »Sie lebt noch?«

      »Oh ja. Frau Silber erfreut sich bester Gesundheit. Um ihren Mann kümmert sie sich aber nicht mehr. Den hat sie abgeschrieben. Sie kümmert sich lieber um ihre Söhne und sorgt dafür, dass die das Erbe ihres Vaters aufrechterhalten. Das Architekturbüro Silber.«

      »Eine Frage habe ich noch«, sagte Siebels nachdenklich. »Herr Silber ist im Polizeipräsidium erschienen, um einen Mord zu melden. Eine Juliane Mangold sei ermordet worden. Sagt Ihnen der Name etwas?«

      »Juliane Mangold? Oh je, ich befürchte,


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