DIE GRENZE. Robert Mccammon

DIE GRENZE - Robert Mccammon


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angestellt und erlebt hatte und dich möglicherweise vom Haken ließ, wenn du ehrlich warst und dich anständig erklären konntest. Wer weiß, vielleicht war sie die Direktorin der Ethan-Gaines-Highschool gewesen? Oder eine Geschäftsfrau. Eine Frau, die vielleicht aus einer armen Familie stammte und ein Vermögen mit dem Verkauf von Immobilien verdient hatte, mit der Art von Häusern, die früher wie kleine Schlösser ausgesehen hatten, bevor es einen Bedarf an Festungen gab. Woher er das über die kleinen Schlösser wusste, blieb ihm unklar. Er hatte keine bewusste Erinnerung daran, also ließ er den Gedanken fallen, denn es war kein Tageslicht in Sicht, das seine Nacht durchbrechen würde.

      Er spürte, wie sie ihn ebenfalls aufmerksam musterte. Sie sah ihn als einen schlammverschmierten Jungen von etwa vierzehn oder fünfzehn Jahren mit widerspenstigem braunen Haar, das ihm über die Stirn und fast in die Augen hing, Augen mit der hellblauen Farbe des frühen Morgenhimmels auf der Ranch, die sie und ihr verstorbener Ehemann Vincent etwa zwanzig Meilen östlich von hier bewohnt hatten. Damals, als die Welt noch nicht wahnsinnig geworden war. Ihr fielen Ethans scharf geschnittene Nase und das prägnante Kinn auf, dazu der ebenso scharfe, fast stechende Ausdruck in seinen Augen. Er schien ihr ein intelligenter Junge zu sein, der unter einem sehr glücklichen Stern geboren war. Denn er hatte überlebt, trotz allem, was er dort draußen durchgemacht haben musste. Oder … tal vez no tan afortunado – vielleicht gehörte er auch zu den Unglücklichen, denn es mochte so sein, dass die Glücklichen alle frühzeitig gestorben waren, zusammen mit ihren Lieben und ihren Erinnerungen an die Erde, wie sie einst gewesen war.

      Allzu viel darüber nachzudenken war der dunkle Weg in die Hölle, und bei Gott, nur eines war sicher: Alle Überlebenden hier hatten in Hülle und Fülle gelitten, und es stand ihnen noch mehr Leid bevor. Die Selbstmorde nahmen zu. Es gab keine Möglichkeit, jemanden aufzuhalten, der diese Welt verlassen wollte, bei so vielen Waffen um sie herum …

      Der Verlust der Hoffnung war das Schlimmste, das wusste Olivia. Also durfte niemand erfahren, wie nahe sie davor war, eine Waffe zu nehmen, sie mitten in der Nacht an ihren Kopf zu halten und ihrem Mann zu folgen, der ganz sicher an einem besseren Ort war.

      Aber Panther Ridge brauchte einen Anführer, jemanden, der weitermachte, die Dinge organisierte und Morgen ist ein neuer Tag sagte, jemanden, der niemals Angst und Hoffnungslosigkeit zeigte. Und sie war dieser jemand, obwohl sie sich tief in ihrer Seele fragte, wie lange sie es noch sein konnte und ob das Ganze überhaupt Sinn ergab.

      »Habt ihr schon einmal jemanden getötet?«, fragte Ethan sie plötzlich.

      »Wie bitte?«, antwortete sie, etwas überrascht von der Frage.

      »In dem Raum, in dem ich gewesen bin, habt ihr da schon einmal jemanden getötet?«, fuhr Ethan fort. »Ich habe an den Wänden Kratzspuren und Einschusslöcher gesehen. Und etwas, das aussah wie Blutflecken. Als wären dort Menschen hineingebracht und getötet worden.«

      Dave trat näher und stellte sich zwischen Ethan und Olivia. »Ja, wir haben da drin einige Kreaturen getötet. Vielleicht waren sie einmal Menschen gewesen, aber ganz sicher waren sie keine mehr, als wir sie getötet haben. Wir mussten es tun. Dann haben wir das Blut so gut wir konnten weggeschrubbt. Weißt du nicht, was los ist?«

      »Ich weiß von den Gorgonen und den Cypher. Ich weiß, dass sie Krieg führen. Die Welt auseinanderreißen. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«

      »Und du weißt nicht, woher du das weißt?«, fragte Olivia. »Gar keine Erinnerung?«

      »Nichts«, sagte der Junge.

      Olivia warf John Douglas einen Blick zu, der seine weißen Augenbrauen hob und mit den Schultern zuckte, was so viel hieß wie: Keine Ahnung, was das bedeuten soll. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Neuankömmling. »Ich weiß nicht, wo du gewesen bist oder wie du da draußen überlebt hast, aber ich denke, es gibt eine Menge, das du verstehen musst. Und es geht nicht nur um die Cypher und die Gorgonen. Hast du Hunger? Ich hoffe, du hast nichts gegen Pferdefleisch.«

      »Es macht mir nichts aus.«

      »Wir tun hier, was wir können. Entweder kommen wir mit dem zurecht, was wir haben, oder wir verzichten darauf. Meistens verzichten wir darauf. Aber wir machen weiter.« Warum?, fragte sie sich in diesem Augenblick. Wie kommen wir auf die Idee, irgendetwas von dem, was wir tun, könnte die Art und Weise ändern, wie die Dinge sind? Sie schob die Frage rasch beiseite. Sie sah auch keinen Sinn darin, zu erwähnen, dass in einigen Nächten die wahre Hölle ausbrach auf dieser ruinierten und zerstörten Erde. »Dave, bring ihn in die Kantine. Sie sollen ihm etwas zu essen geben. Dann organisierst du für ihn eine Unterkunft.«

      »Aber sicher«, sagte Dave mit versteinertem Gesicht. »Eine weitere wunderbare Ergänzung für unsere kleine Familie.«

      »Wie viele Menschen leben hier?«, fragte Ethan.

      »Einhundertundzwölf, als wir zuletzt gezählt haben«, antwortete Olivia. »Aber das kann sich von Tag zu Tag ändern.«

      Ethans Blick wanderte zu dem gelben Block auf dem Schreibtisch. Er sah, dass einige Zahlen hingeschrieben, weggekratzt und von einer nervösen Hand wieder hingekritzelt worden waren.

      »Das sind nicht die Bewohner«, sagte Olivia, die Ethans Interesse bemerkt hatte. »Das ist, womit wir auskommen müssen. Wir sind seit fast zwei Jahren hier. Unsere Vorräte gehen zur Neige.«

      »Nahrung und Wasser?«, fragte Ethan.

      »Wir haben Konserven und Wasser in Flaschen, beide Bestände sind ziemlich niedrig. Deshalb mussten wir anfangen, die Pferde zu essen. Wir trauen dem Regenwasser nicht. So ist die Lage.«

      Übel, dachte Ethan. Er konnte das Ende der Dinge tief in ihren Augen sehen. Als ob sie das gespürt hatte, blickte sie zur Seite und sah wieder Dave an. »Nimm ihn mit und sorge dafür, dass er etwas zu essen bekommt. Ethan, wir sehen uns später. Okay?«

      Er nickte. Dave und Roger führten ihn aus dem Raum und schlossen die Tür.

      John Douglas blieb zurück, während Kathy Mattson wieder auf ihrem Stuhl Platz nahm und Gary Roosa sein Klemmbrett und sein gelbes Notizbuch mit all den Zahlen betrachtete, die den Untergang bedeuteten. Olivia setzte sich, aber sie wusste, dass es einen Grund gab, weshalb der Doktor geblieben war. Also fragte sie: »Was ist?«

      »Interessanter junger Mann«, sagte JayDee.

      »Es fällt schwer, daran zu denken, was er durchgemacht haben muss. Aber andere haben es auch geschafft. Wir haben vor ein paar Tagen schon einmal einige Überlebende gefunden, nicht wahr?«

      »So ist es. Es ist schwer, da draußen zu überleben, aber nicht unmöglich.« Der Doktor runzelte die Stirn. »Es ist nur so, dass … ich wünschte, ich hätte ein anständiges Labor. Ich wünschte, ich hätte die Möglichkeit, Ethan wirklich gründlich durchzuchecken.«

      »Warum?« Eine Spur Angst ließ ihren Mund starr werden. »Weil du denkst, dass er vielleicht kein …«

      »Ich denke«, unterbrach JayDee, »dass er ein Mensch ist, dass er sauber ist. Aber ich denke auch – und das bleibt in diesem Raum, bitte – dass er einige Verletzungen erlitten hat, die … nun, ich weiß nicht, wie er herumlaufen kann mit all den großflächigen Prellungen, die er unter seiner Kleidung verbirgt. Und er müsste auch, zumindest meiner Meinung nach, einige größere innere Verletzungen haben. Ich glaube, er ist in eine Art Druckwelle geraten. Es ist nur … sehr seltsam, dass er so …«

      »Lebendig ist?«, fragte Olivia.

      »Vielleicht ist es das«, gab JayDee zu. »Von außen sieht es so aus, als hätte er eine massive Brustverletzung. Das allein würde ausreichen, um …« Er zuckte mit den Schultern. »Aber ich kann es nicht genau sagen, weil ich ihn nicht richtig untersuchen kann.«

      »Dann mache das, was du tun kannst«, sagte Olivia mit festem Blick. »Beobachte ihn. Wenn sich herausstellt, dass er eine andere Art von Lebensform ist … gut genug gebaut, um die Salzlösung zu überstehen … dann sollten wir das besser schnell wissen. Also behalte ihn genau im Blick,


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