Gesammelte Werke. Oskar Panizza

Gesammelte Werke - Oskar Panizza


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unseren Augen auftauchen werde; es war ein höchst irdisches Stück; sogar ein irdenes: es war der gewaltige Nachttopf der Mondfrau; ich drehte ihn um, »Hazlitt und Söhne, Heilbronn«, war unten eingebrannt. Also auch dieses Stück, sagte ich zu mir, hat er heraufgeschleppt, und alle die übrigen Stücke, und wahrscheinlich die ganze Einrichtung – und was zerbricht, ergänzt er. Und immer kam mir in der Einbildung wieder der lange, keuchende Mondmann vor, wie er auf dem Teerseil hinaufklettert, den dicken, schweren Sack auf dem Rücken, und auf dem Sack eine Bettlade, und in der Bettlade ein halbes Fenster, und neben dem Fenster einige Nachttöpfe. Und der Mann überwindet die Anziehungskraft der Erde und klettert, und klettert, und wenn er oben angekommen, dann setzt er sich hin und weint. – »Was gibt’s denn neues auf dem großen Käs?« rief jetzt die Mondfrau, die, wie mir schien, fertig gegessen hatte, in weit stärkerem Ton als vorhin. Der Alte, dem diese Frage galt, drehte – dies konnte ich von unter’m Bett gerade beobachten – drehte sein Kinn, das in seiner Hohlhand wie in einem Scharnier ruhte, langsam gegen die Mondfrau am unteren Ende des Tisches, glotzte eine Zeitlang, und sagte dann ruhig und trocken: »Nichts!« – »Hast Du denn nichts mitgebracht?« – Antwort: »Ihr habt ja alles!« – »Ich hab’ Dir doch gesagt, daß den Kindern die Hemden am Leib verfaulen!« – »Soll ich die Erdenkinder auf der Straße anfallen und ihnen die Hemden nehmen?« – »Du fällst ja die Käse auch nicht an!« – »Die Käse sind tot! Die Hemden leben am Menschen!« – »Du bist doch sonst so geschickt!« – »Mager hin ich, nicht geschickt; wenn ich nicht mager wäre, bekäm ich auch keine Käse!« – Was! rief ich in mir aus, – zu den Käsen kommt er nur durch seine Magerkeit? Dann stiehlt er sie auch! Weiß der Himmel, durch welches Kellerloch er hineinschlüpft! – Eine lange Pause folgte, in der niemand sprach. Auch die Kinder schienen jetzt gesättigt. Man hörte, wie draußen leise der Wind ging und am Fensterladen etwas nockelte, ohne aber den Mondbau im Geringsten in Mitleidenschaft zu ziehen. In solcher Stille hätte man drunten auf der Erden eine Schwarzwälder-Uhr picken gehört; aber auf dem Mond hatten sie keine Schwarzwälder-Uhr. Hier war nur, was zum nackten Leben gehörte. – Und trotzdem sah ich, von meinem Platz unter dem Bett aus, an der Wand zur Rechten, wo kein Fenster war, eine Art Tafel, eine Abbildung, eine große gelbe Kugel mit hellen und dunkleren Flächen, wie einen Himmelskörper, auf schwarzem Grund abgebildet. – Weiß der Himmel, dachte ich mir, aus welchem holländischen Schulzimmer er diese Abbildung sich angeeignet! – Nachdem lange weder der Mondmann noch die Mondfrau etwas gesprochen, und auch die Kinder sich ganz ruhig verhielten, ebenso wie ich auch, erhob sich plötzlich die Alte und, indem sie einen Teil der Käsrinden vom Tisch zusammenkratzte, rief sie: »Kinder, zu Bett!« – Was, zu Bett? rief ich fast laut vor Verwunderung, ich glaubte, der Tag geht an? – In der Tat überzeugte ich mich, daß das eigentliche Zwielicht, welches um nichts besser als Dämmerung war, sich auch nicht um einen Grad der Lichtskala aufgehellt hatte. – Ich zog meine Uhr heraus; – nach meiner Berechnung mußte es beiläufig sieben Uhr Morgens sein; zwei Stunden mochte ich jetzt auf dem Mond sein. Aber wie erstaunte ich, als ich die zwei stahlblauen Zeiger auf dem weißen Zifferblatt, untereinander zusammengepappt, in rückläufiger Bewegung begriffen sah. Was für tellurische, oder magnetische, oder lunäre Einflüsse diese kleine Revolution in meiner linken Westentasche verursacht hatten, – ich weiß es nicht, – aber ich beschloß, indem ich meine Uhr wieder an ihren Platz brachte, sobald die Mondbewohner in Schlaf versunken, hervorzukriechen, das Fenster aufzumachen und mich womöglich nach dem Stand der Sonne zu orientieren. Aber noch aus einem andern, für mich schwerwiegenden Grund, war mir das Zu-Bett-Gehen der Leute nicht unwillkommen. Ich hatte schrecklichen Hunger. Seit mindestens zwölf Stunden hatte ich nichts gegessen und dabei eine Heroen-Arbeit vollendet. Wenn ich die Phrase vermeide: ich habe den Mond bestiegen, – so tue ich es mit Rücksicht auf einen gar zu skrupulösen Leser, der den ontologischen Beweis vielleicht noch nicht für erbracht sieht: aber so viel darf ich sagen: ich habe mindestens zwanzig Meilen in senkrechter Richtung von der Erde entfernt einen Punkt im Himmelsraum erklommen. – Mit Wonne dachte ich an die etwa auf dem Tisch zurückgebliebenen Käsrinden. Ja, ich dachte sogar dem Keller einen Besuch abzustatten. – Freilich, wie das weiter gehen werde: ein Esser unter diesen vielen Kindern, die selbst oft zu hungern schienen, – und ein Student, – ich vermied es, mir diesen Gedanken weiter auszumalen. Inzwischen hatten die meisten Kinder sich ausgezogen und waren in ihre Betten geschlüpft: hie und da fiel ein Kleidungsstück aus Versehen zu Boden und damit in meinen Gesichtskreis; ich betrachtete es; lauter zerlumptes, verschossenes und durchgewetztes Zeug. Jedes Kind, – ich darf dies nicht verschweigen, – bevor es in sein Bett stieg, zog sein Nachttöpfchen hervor, setzte sich im Hemdchen darauf und machte Pipi. Es waren lauter Mädchen, wie ich schon oben bemerkt habe. Die Nachttöpfe waren alle verschieden, an Farbe wie an Form; einer war gar kein Nachttopf, sondern offenbar ein kleiner Kochhafen: ich erwähne dies, weil es für mich der Beweis war für die schon oben ausgesprochene Vermutung, daß diese Geschirre alle von der Erde drunten, und zu verschiedenen Zeiten, heraufgeschleppt waren, und aus Gegenden – weiß der Himmel, wo sie alle her waren. – Aber auch die Mädchen waren verschieden, – wenigstens an Alter. Die ältesten waren mindestens vierzehn, sechszehn und selbst zwanzig Jahre und darüber; nur blieben sie schrecklich klein; das Haar war flachsig, die Augen wasserblau, die Haut teigig und käsweiß; so machten sie den Eindruck von Treibhauspflanzen, die keine Sonne haben. Die Jüngsten waren fast noch unbeholfene Dinger, und wurden von der Mutter zu Bett gebracht. – Diese dreißig Pipi mitanzuhören war gewiß kein Vergnügen, der Leser darf davon überzeugt sein; auch verbreitete sich in diesem Mondzimmer ein nicht gerade angenehmer Geruch, dessen Grundlage übrigens Käsrinden waren. – Während so Kinder und Mutter allseitig beschäftigt waren, ging der Mondmann in einem gelben Schlafrock in langen Schritten im Zimmer auf und ab, d. h. in dem Raum, der inseits der Betten zurückblieb, den langen Tisch jeweilig zur Rechten und zur Linken habend. Er sprach kein Wort, und schien nachdenklich: in dem gemessenen, gleichmäßigen Schritt lag etwas Würdevolles. Dabei streifte er im auf-und abgehen wiederholt an das Fußende des Bettes der Mondfrau, unter dem ich lag, und da er hier jedesmal umkehrte, so gabs einen kleinen Aufenthalt. Ich betrachtete mir dabei genau seinen Schlafrock, schon wegen der seltenen Farbe: aber das war gar kein Schlafrockstoff, sondern ein geblümter, schmutzig-gelber Sofa-Bezug, wie man ihn Anfang dieses Jahrhunderts zum Empire-Stil, auf den auf hohen Füßen stehenden Kanapee’s, verwandt hatte; ich sah auch unten am Rand, der unter seine nackten Beine schleppte, ganz deutlich die kleine Loch-Reihe, die die Tapezier-Nägel darin zurückgelassen hatten; und das ganze Dinge war zusammengestopft und zusammengeschnitten. – Nun, – dachte ich mir, – das paßt zum Andern! – In Wahrheit aber laborierte ich in mir an jener phosphorescierenden Erscheinung, mit der mir der Mondmann drunten auf Erden entgegengetreten war. – Noch lange ging der hagere Alte schweigend auf und ab, – aber endlich hörte ich über mir einen Plumpser; die Bettstatt erkrachte, und das ganze Mondgehäuse kam in oszillierende Bewegung: die Mondfrau war in ihr Bett gestiegen. – Dies war auch für den wortkargen Mondmann das Zeichen zum Einstellen seiner Wanderungen; mit einem halblaut hingesprochenen »Scheußlich!« als hätte er mit diesem Wort irgend eine geheime Gedankenreihe abgebrochen, begab er sich an seinen Gang, zog die Schlappen aus und legte sich mitsamt dem Schlafrock auf’s Bett. – Es währte nicht lange und die ganze Gesellschaft lag im tiefen Schnarchen.

      In Wirklichkeit bedeutete dieses Schnarchen für mich gar nichts; wenigstens keine Sicherheit. Für mich war die Frage: Schnarcht oder schläft der Mondmann? Dieser magere, geheimnisvolle Mensch – schien mir – hatte zu viel Gedanken im Kopfe, um schlafen zu können. Wegen der Mondfrau und der Kinder war mir garnicht bange, das heißt: die Mondfrau schnarchte, dieses hörte ich zu mir herunter; aber wegen der Kinder – nehmen wir selbst an, es wäre eines durch meine Gegenwart aufgewacht und hätte geschrien: »Papa!« oder »Mama! es läuft ein zweiter Mondmann,« oder »ein zweiter Papa im Zimmer herum!« (denn hätten die Kinder sich anders ausdrücken können nach ihren Mondbegriffen?) was wäre geschehen?: Ich wäre schnell unter mein Bett geschlüpft und das Kind hätte wegen unzeitiger Störung der Nachtruhe von Mama oder Papa eine Ohrfeige bekommen. – So stand also die Sache, als ich mich leise wie eine Ratte mit dem Oberkörper unter dem Bett der Mondfrau hervorbog, gegen den Gang zu, der zwischen den zwei großen Betten lag, und mit auf die Hände gestütztem Körper mich vorsichtig dem Bette des Mondmannes in Matratzen-Höhe näherte. Ich bemerkte nur, daß es nicht Nacht war, sondern Dämmerung. Weiß der Himmel, was es für ein Bewandtnis mit dem Ausbleiben der Sonne hatte,


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