Gesammelte Werke. Oskar Panizza

Gesammelte Werke - Oskar Panizza


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kam aber ein Moment, da ging das Steigen nicht mehr. Ich fühlte, ich werde keine Hundert Sprossen mehr machen können; folge dann kein Ruhepunkt, so werden meine Hände gegen meinen Willen das Seil loslassen müssen, und eine Katastrophe werde erfolgen. Zeitweilig stand ich eine ganze Minute keuchend auf einer Sprosse, um Kraft für die nächste zu sammeln; nicht ohne einen gewissen Trost machte ich die Wahrnehmung, daß das Seil, ich will nicht sagen dicker, aber anders gearbeitet sich zeigte; es fühlte sich fester und derber an; wir kommen an einen Halt-oder Wendepunkt, dachte ich. – Um zu sehen, wie es meinem Partner geht, blickte ich nicht ohne Anstrengung nach oben und machte eine überraschende, mich hocherfreuende, freilich auch beängstigende Entdeckung: In allernächster Nähe über mir, vielleicht dreißig Meter entfernt, schwebte eine mächtige schwarze Kugel, wie ein Hohlgehäuse, wie ein riesiger Ballon; auf seine Hohlheit im Innern schloß ich aus den bemerkbaren Schwankungen, die der derzeit schwache Wind an ihm hervorbrachte. Auf der linken Seite des Hauses bemerkte ich einen Laden aus Holz, wie einen Fensterladen, der jedoch geschlossen war. Es kam mir in diesem Augenblicke vor, als sei es etwas heller geworden, und als zeigten auf der linken Seite die einzelnen Umrisse größere Deutlichkeit. Die Morgendämmerung kommt heran, dachte ich mir, und es mag vielleicht gegen fünf Uhr morgens sein. Rechts, wo alles noch im Dunkel lag, hatte das schwebende runde Haus eine Art Tür, eine gieblige Öffnung, wie man sie, zum Aufziehen der Waren von außen, hoch oben im Speicher anbringt; dort an dieser Tür endigte die Strickleiter und dort, in der Öffnung, stand auf beiden Seiten sich anhaltend, in der Finsternis kaum erkennbar, ein altes, robustes Weib mit schmutzigem, zitronengelben Gesicht, und in zerrissener, liederlicher Kleidung, die Ärmel über die fetten Arme bis zum Ellbogen hinaufgestülpt, die nackten Füße in ein Paar Schlappschuhen, eine schmutzige Haube auf dem Kopf, und blickte unverwandt mit einem motzigen Gesichtsausdruck auf den Mondmann. Daß sie sich anhielt, war mir begreiflich; denn durch das Gewicht der Strickleiter und dessen, was auf ihr war, war das hölzerne runde Haus so geneigt, daß die obenerwähnte Tür halb nach unten schaute und das schwere Weib ohne Anhalten hätte herausstürzen können. Nach kurzer Erwägung wurde mir auch klar, daß mein Gewicht auf der Strickleiter, etwas über einen Zentner, und auch das des Mondmannes, eher noch etwas weniger, gar nicht in Betracht kam gegenüber der kolossalen Schwere dieser viele, viele Meilen langen geteerten Strickleiter – wir waren doch jetzt fünfthalb Stunden gestiegen – und gegenüber der Schwere des ungeheuren Sackes. Dieser Sack, nebenbei bemerkt, war es auch, hinter dem ich mich glücklich dem prüfenden Auge der Mondfrau, oder wer dieses Weib sonst war, entziehen, und von wo aus ich einigermaßen die Orientierung über die so plötzlich veränderten Verhältnisse gewinnen konnte. Übrigens war es noch so dunkel, daß es fraglich war, ob mich die dicke Frau überhaupt entdeckt hätte. Mir schien, ihr Blick galt weder mir, noch dem Mondmann, sondern – dem Sack. Denn während der arme Teufel von einem Mondschlepper jetzt keuchend inne hielt, und den mageren Kopf stützesuchend auf eine der Sprossen legte, sodaß der hintere Teil des Sackes weit hinausragte, war das zürnende Auge der oben wartenden Frau scharf vigilierend auf die Umrisse eben dieses Vehikels gerichtet. Gott! dachte ich mir, ich durchschaue schon diese ganze Ehe, wenn eine solche bestand, und der arme, ausgeschundene Mondmann keucht unter dem Joch dieses nervigten Weibsbilds.

      Ein Windstoß kam von links und brachte Mondhaus und Strickleiter in heftige Oszillationen, so daß die dunkle Baracke in ihrem Gebälk wie ein Schiffskörper knirschte und ächzte. Wir standen beide noch immer laut schnaufend auf unseren Sprossen; mein Nasenbluten hatte aufgehört und ich bemerkte auch, daß, wenn ich mich ruhig verhielt, ich genügend Luft zum Atmen bekam. – Dagegen war die Kälte entsetzlich. Mein nächster Gedanke war: Wie soll ich da hinein kommen? Denn, – mag der Leser eine Auffassung haben, welche nur immer – es war doch klar, ich mußte hier ein Unterkommen finden, ich war totmüd, hungrig und durchkältet; ich hatte nur dort drinnen Hoffnung mich zu stärken. – Ob ich die dunkle Baracke für den Mond halte? – In drei Teufels Namen, daß weiß ich doch nicht! Habe ich gesagt, daß es der Mond sei? Vermutlich war es der Mond. Ich habe nur gesagt, daß meine Absicht war, dort hinein zu kommen, koste es, was es wolle, denn meines Bleibens auf der Strickleiter war nicht länger. Und zurücksteigen wäre Wahnsinn gewesen. Ich blickte unwillkürlich hinunter, wo wir etwa die Erde zurückgelassen: Alles war mattgrau und verloren. – Inzwischen wurde es aber immer heller; kein Zweifel, zur Linken hatten wir Osten und der Tag nahte. Zu beiden Seiten der dicken Mondfrau erkannte ich jetzt, wie sich eine Menge jugendlicher abgehärmter Gesichter herausdrängten, die mit ihren verwirrten und in die Stirne hereinhängenden blonden Haaren zweifellos armen, hungernden und, wie es schien, halberfrorenen Kindern angehörten; sie hielten sich teils an der Luke, teils am Rock der Mondfrau fest, und blickten mit blassen und gespannten Mienen ebenso unbeweglich auf den Ankömmling und seinen Sack wie die alte Frau selbst. Dieser, der Mondmann, schien endlich ausgeschnauft zu haben, er erhob sich mit seiner Last und rückte der Türklinge näher. – »Papa, Papa!« riefen in diesem Moment mindestens ein Dutzend Kinderstimmen. Also ist das der Nährvater, – dachte ich mir. Ich hielt mich dicht hinter dem Sack; denn so viel war mir klar, daß, wenn ich unbemerkt in das Mondhaus kommen wollte, es in dem Moment geschehen mußte, wenn oben die ganze Familie an der Hereinschaffung dieses ungeheuren Sackes mithalf. – Das Mondhaus schwankte unter diesen letzten Anstrengungen des alten, keuchenden Mannes erschreckend auf und ab. Jetzt, – Bum! – ein dumpfer Stoß; der Sack war oben an die Eingangsluke gestoßen, und halb gebückt, halb auf zwei Füßen und der einen freien Hand kriechend, verschwand der Mondbauer mit seiner Last allmählich in dem dunklen Innenraum. – Ich bemerkte, die Strickleiter lief hier am Ende wie über eine Art Holz-Welle, – wohl um nicht durch den Abwärtszug zu stark geknickt zu werden, – und verlor sich erst von hier aus wie ein kleiner Eisenbahnstrang in der Dunkelheit des Innenraumes, wahrscheinlich um an einer entfernteren Stelle erst fest mit dem Gebäude verkoppelt zu werden. – Der Mondmann schien doch ganz allein den Sack bis weit in die Stube hinein zu schleppen, und indem ich vorsichtig und kriechend nachrückte, kam ich gerade recht, wie die Kinder, die wenigstens doppelt so stark an Zahl waren, als ich vorhin vermutete, ihren Vater umringten, seine Kniee umklammerten und ein schreckliches Geschrei ausführten, aus dem ich nur immer verstand: »Papa! Papa! Papa!« und »Hast Du? Hast Du? Hast Du?« – »Mein Gott! Mann, wo Du so lange wieder bleibst?« ließ sich nun auch die Mondfrau in einem ziemlich unangenehmen Baß vernehmen. – »Ach Gott, – die Käse werde immer rarer!« – »Du lieber Himmel, so jammerst Du jedesmal!« – »Ach, wenn es so fortgeht, werden wir für unsere Kinder nichts mehr zu essen haben!«

      Der so gesprochen, warf ermüdet seinen Sack hin, setzte sich auf eine Bank und fing laut zu schluchzen an. – Das Gemach war ganz dunkel; und nur allmählich fing mein Auge an, die Gegenstände zu unterscheiden. Ich benützte die Dunkelheit und die Überraschung und Freude der sich Begrüßenden, mich in den Hintergrund des Gemaches zu stehlen und mich dort zu verbergen. Es war ein runder, saalartiger Raum, oben zur Kuppel gewölbt; ziemlich kleine Verhältnisse; der Fußboden schnitt von der Hohlkugel ein Stück ab; etwa das untere Drittel, sodaß die Wände gebaucht aufstiegen, wie in einem Tunnel, um sich oben im Bogen zu vereinigen; das Ganze in Holzkonstruktion, alt, geschwärzt und von schlechtem Material; die Stützung der Kuppel durch vortretende Holzrippen mit queren Bretterfüllungen eine schrecklich verpfuschte Arbeit; man sah wohl, der Schreiner, oder wer es nur immer gemacht hatte, wußte, worauf es ankam, er hatte Ähnliches gesehn, und man erkannte klar seine Intention, aber es war ohne jede vorausgegangene Übung gemacht, von Eleganz nicht zu reden. Das Holz schien übrigens gut ausgetrocknete Eiche. Der durch den Fußboden abgesonderte Raum war ebenfalls hohl; man hörte dies an dem dumpfen Auftreten; eine Klapptür führte hinunter, und die Mondfrau schickte sich eben an, den Inhalt des Sackes in diesem durch eine Holzstiege zugänglichen Raum zu bergen: es waren lauter runde, außen rotgefärbte, kindskopfgroße, holländische Käse, wie sie jetzt auch in Deutschland viel gegessen werden. Also das war der Ballast, den der Mondmann mit heraufgeschleppt hatte! Zweifellos war es die Verproviantierung. Natürlich! Es war ja sonst nichts da! Ich sah keinen Küchenschrank und dergleichen. Zu einer Vorratskammer war gar kein Platz. Es sei denn, daß unten im Mondkeller, ich meine den unterirdischen Raum unter dem Fußboden, sich Lebensmittel befanden. Aber wer schleppt denn neunzig holländische Käse an die fünfzehn Meilen weit herauf mit übermenschlicher Anstrengung und durch immer dünnere Luftschichten hindurch? Doch zum Essen! – Meine Betrachtung wurde durch ein plötzliches, donnerähnliches Geräusch unterbrochen, das


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