Gesammelte Werke. Oskar Panizza
die Arme gegen das Kreuz erhebend, gezeigt hatte, so war die kausale Verbindung der halbseitigen Gesichtsröte des Johannes mit früheren Momenten zwar nicht sichergestellt, aber doch angedeutet.
Eine ziemliche Schar »Volks« drängte sich jetzt auch, aus dem Hintergrund kommend, zu beiden Seiten gegen das Kreuz vor. Es waren meist Nürnberger Straßenjungen und Mädchen, bei denen es sich nicht bezahlt machte, sie erst in lange Kaftans zu stecken. Ihre Aufgabe war, mit großen Augen und erstaunten Mienen zum Kreuz hinaufzuschauen. Und so gaben sie auch ein vortrefflich eindrucksvolles Moment ab. Im Publikum war alles mäuschenstill. Alles sah in atemloser Spannung auf die prächtige Christusleiche. Und obwohl es wahrhaftig an Einzelheiten nicht gefehlt hatte, um die ganze Vorführung nur als höchst ärmliche Komödie zu erkennen, so konnte sich doch kein Mensch von der wunderbaren Symbolik, die je ärmlicher, um so inniger war, losreißen. Als nun gar die Lampen heruntergeschraubt wurden, und der Kopf des Heilandes durch eine vom Schnürboden aus wirkende elektrische Lampe in magische Beleuchtung gerückt wurde, und Christus mit den Worten: »Eli, Eli, lama asabthani!« das Haupt emporrichtete und mit schmerzlichem Augenaufschlag den Blick zum Himmel wandte, entstand jenes fröstelnde Atmen unter den Zuschauern, welches auf eine zurückgehaltene, aber tiefe Bewegung schließen läßt. Aber es war kein »Lump« da, den man hätte fassen können; kein Judas und dergleichen, den man für die Tragik verantwortlich machen konnte, sonst hätte ihn sich das Publikum auf der Bühne oder im Zuschauerraum schon herausgeholt.
Bis dahin war alles gut gegangen. Und es wäre auch weiterhin gut gegangen, wenn nicht die Direktion durch einen unbegreiflichen Mißgriff eine Kollision geradezu heraufbeschworen hätte. Nachdem nämlich Christus bald darauf mit einem letzten Schrei verschieden, sein Haupt schlenkernd auf die Brust herabgefallen, die elektrische Lampe oben erloschen, alles mit feiner Berechnung entsetzt vom Kreuz zurückgewichen und durch mäßiges Aufschrauben der acht Lampen eine Dämmerstimmung über der ganzen Szene ausgebreitet war, kam der obenerwähnte langbeinige Kriegsknecht, der sowieso beim Publikum nicht besonders beliebt war, nahm eine Lanze und stach Christus in die rechte Seite, wo unter dem Wachsmodell höchst geschickt eine Blutblase angebracht worden war, so daß eine ziemliche Menge roter Flüssigkeit sprudelnd über den Körper sich ergoß, über die weiße Lendenbinde und bis zu den Schenkeln hinabfloß. Im Zuschauerraum wurde ein vielstimmiger Ausruf des Erstaunens und des Grausens laut. Nun hatte dieser Kriegsknecht die unglückselige Idee, auf diesen Ruf hin sich umzukehren, und da sein bärtiges Gesicht auch ohne jeden Affekt immer den Eindruck machte, als lache es, oder vielmehr, als grinse es, so glaubten die Zuschauer sich verhöhnt, fühlten sich als Juden, die Christo beim Einzug zugejubelt hatten, und machten in diversen »Oh! Oh! – Pfui!« und ähnlichen Ausrufen ihrem Unwillen Luft. Das zahnlückige Weib zu meiner Rechten glaubte sich zur Stimmführerin der allgemeinen Mißstimmung berufen. Mit einem »Hundsknochen, elendiger!« sprang es kreischend bis zur Bühne vor und hob gegen den lanzenführenden Kriegsknecht die geballte Faust empor, aus deren bläulichverwittertem Aussehen ich entnehmen zu dürfen glaubte, daß sie eine Wäscherin war. Nun fing der Kriegsknecht wirklich hellauf zu lachen an. Andererseits aber brachte die ungehörige Äußerung dieses Weibes das übrige Publikum zur Besinnung; man erkannte, daß man nur in einer Komödie war. Die Frau, welche in ihrer lebhaften Empfindung jedenfalls an die Wirklichkeit dieses Vorgangs geglaubt hatte, wurde unter lauten Äußerungen der Entrüstung zurückgerissen. Aber die Wäscherin, welche inzwischen vermutlich auch wieder nüchtern geworden war, wurde nun durch die Opposition gereizt. Und da sie sehr mager und gelenkig war, so gelang es nicht, sie zu bändigen. »Ihr seid auch nichts Besseres als Christusschinder!« gilfte sie vor Zorn heraus. Während sie aber vielleicht nichts weiter bezweckte als loszukommen und nach Haus zu ihren Kindern zurückzukehren, brachte sie durch ihren Widerstand das ganze Publikum in Unordnung und Aufregung, welches glaubte, sie wolle sich zur Bühne drängen. Jetzt begannen auch die Darsteller sich dreinzumischen. Maria Magdalena trat ganz vorn an die Rampe zwischen Pilatus, der ruhig seine Hände weiterwusch, und Kaiphas, der noch immer gegen das Kreuz hin seine Zuckungen machte, und mit vorgestreckten nackten Armen beschwor sie das Publikum um Ruhe. Der Lanzenträger stand starr da, keiner Bewegung fähig. Allmählich kam die ganze Nürnberger Straßenjugend vor, welche als »Haufen Volks« figuriert hatte; wie sie vorher mit großen Augen das Kreuz angestarrt hatten, so starrten sie jetzt auf die Vorgänge im Zuschauerraum. Dort war es inzwischen nun zu einer förmlichen Rauferei gekommen. Die Wäscherin lag am Boden. Der Sachse, den ich nicht mehr sah, muß nicht weit von ihr gewesen sein. Da sie aber einen höchst abgewetzten, bläulichen Drillichrock anhatte und sonst nichts, so gelang es nur sehr schwer, sie zu fassen. Sie quiekste und gilfte in einem fort. Auf einmal ertönte eine tiefe Baßstimme mit norddeutschem Timbre von der Bühne herab. Es war, in seinem samtnen Gelehrtentalar, Nikodemus, welcher den Turban vom erhitzten Kopf nahm und das »hochverehrte Publikum« inständigst bat, doch Ruhe zu halten. Auch Josef kam vor, um zu beschwichtigen; da er aber fast keine Stimme hatte, begnügte er sich mit Fisematenten und Gestikulationen. Er kam gerade neben dem unentwegt weiterwaschenden Pilatus zu stehen, und diese beiden Figuren bildeten in ihren zwangsmäßigen und gewollten Gesten ein merkwürdiges Quodlibet. Nur Maria hielt sich unbeteiligt im Hintergrunde. Sie schien in der Tat leidend zu sein. – Ich weiß nicht, wie lange noch diese fatale Situation gedauert hätte, und was noch daraus geworden wäre, denn einige Unbeteiligte lagen bereits am Boden und waren, nach den Hilferufen zu schließen, in Gefahr, ertreten zu werden, wenn nicht einer Frau auf der Bühne ein rettender Gedanke gekommen wäre. Maria Magdalena erschien plötzlich mit fliegenden Haaren vorn am Eingang der Bude, wo immer ihr Platz als Kassiererin gewesen war, und indem sie den Vorhang, welcher das Licht vom Zuschauerraum abschloß, weit zurückriß, rief sie laut ins Publikum hinein: »Meine Herrschaften, die Vorstellung ist zu Ende!« Dies wirkte. Alle ließen voneinander ab. Die am Boden Liegenden erhoben sich. Merkwürdigerweise war die Wäscherin die erste, welche mit einigen fluchtähnlichen Sätzen über die Eingangsrampe der Bude hinweg sich auf und davon machte. Der Sachse, welcher jetzt auch hervorkroch, war abgemattet wie ein Hund; offenbar hatte er gegen die Wäscherin verloren. Alles atmete nun erleichtert auf. Man wandte sich dem Ausgang zu, wo Maria Magdalena immer noch den Vorhang hielt. Ihre nackten Arme, auf denen wunderschön geheilte Impfnarben zu sehen waren, zitterten heftig; man wußte nicht: vor Erregung oder wegen der naßkalten Luft, der sie besonders ausgesetzt war. Man sah, sie hatte etwas Zorniges auf den Lippen; aber sie schwieg. Und während drinnen auf der Bühne Nikodemus zwischen den ruhelos weitermanöverierenden Pilatus und Kaiphas auf und nieder ging und für seine Erregung keine weiteren Worte fand als die ewige Wiederholung von: »Nein, dieses Publikum! Ein solches Publikum! Nein, da haben wir in Norddeutschland ein anderes Publikum!« – und von hinten aus dem nun ganz verfinsterten Bühnenraum die Christusleiche starr und wächsern hervorglänzte – verließen die Letzten das Wachsfigurenkabinett.
Eine Mondgeschichte
Erzählung
There are many attempts made by poetical authors
to teach the moon from their writingdesk.
E. Poe
Zu meiner Zeit war es bei Studenten noch nicht Sitte, an einer oder höchstens zwei Universitäten zu studieren, die noch dazu beide im Inlande gelegen sein mußten: wir zogen über die ganze gebildete Welt; waren heute in Prag und morgen in Paris. Und so war es Leyden, wo mir die Geschichte, die ich in den folgenden Blättern erzählen will, passiert ist. – Sollte jemand zu dem Schluß kommen, daß ich bei solcher Freizügigkeit im Besitz besonderer Mittel gewesen, so wäre das ein großer Irrtum; denn ich war blutarm: und diese Armut war es, die mir zu der folgenden Geschichte verhalf. – Oder sollte jemand zu der Meinung gelangen, solches Eilen von Hochschule zu Hochschule müßte mit großem Fleiß vergemeinschaftlich gewesen sein, so wäre dies abermals ein Irrtum; denn ich war faul; und diese Faulheit war es, die mich das folgende merkwürdige Ereignis erleben ließ.
Ich will die Vorgeschichte kurz machen: Ich war Mediziner und wohnte in Kost und Logis bei einer Frau, die zu meinem Unglück das Gegenteil aller übrigen Holländerinnen war. Sind diese dick, gutmütig und behäbig, so war sie mager, scharfsichtig und von teuflischer Flinkheit; an ihrem Leib hielt