Gesammelte Werke. Oskar Panizza

Gesammelte Werke - Oskar Panizza


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und etwas schnurrendes »Nja!«

      Dieses »Nja« war so sonderbar betont, daß ich es dem Leser etwas analysieren muß: zuerst kam ein schnurrendes Geräusch, dann hob sich die Oberlippe und zeigte zwei Reihen vortrefflich eingesetzter Zähne fest aufeinandergebissen. Da die Holzpfeife, welche das schnurrende Geräusch hervorbrachte, ziemlich dicht hinter den Kiefern saß, so wurde der Ton jetzt bei geöffneten Lippen heller, hatte aber gleichzeitig einen gaumigen, holzigen Klarinettentimbre, der übrigens, wie ich glaube, beabsichtigt war. Nun sprang der Unterkiefer auf und die Mundhöhle wurde sichtbar. Die gleiche Feder, die dies bewirkte, mußte auch noch ein anderes Register öffnen, denn im gleichen Moment, und direkt anschließend an das schnurrende »N«, sprang ein helles, tönendes, frisches »ja!« heraus, welches insofern vortrefflich konstruiert war, als jetzt der Mund durch das Etwas-offen-Bleiben der Lippen einen zufriedenen, heiteren Ausdruck annahm, der mit dem bejahenden Charakter der Partikel »ja!« durchaus im Einklang stand. – Nun kamen aber die Fehler hintennachgehinkt: Nachdem die Kiefer sich wieder geschlossen, blieb die Oberlippe viel zu lange oben, da Lippe und Kiefer getrennte Mechanismen hatten; die obere Zahnreihe mit ihren breiten, wie mit dem Meißel abgehackten Zähnen, gab dem ganzen Gesicht etwas peinlich Lustiges, etwas Lachendes; und als endlich die Oberlippe sich langsam herabsenkte, bekam der Mund einen solchen Ausdruck des Müden, des plötzlich Erstarrenden, Leichenähnlichen, wie ihn der Künstler gewiß nicht beabsichtigt hatte.

      Gleichzeitig mit dem »Nja!« aber begann Christus Kopf und Arme ruckweise in die Höhe zu heben und die wächsernen Hände wie segnend über den Karpfen vor sich auszustrecken. Dann sank er wieder zu der halb geknickten und resignierten Positur, die er anfangs eingenommen hatte, herab. Dieser Aktus hatte eine mächtige Wirkung auf das Publikum. An der veränderten Atmungsweise aus dem Dutzend Menschen, die wir beisammen waren, konnte man dies deutlich entnehmen. Das blaue Christusauge, welches bei etwas veränderter Kopfstellung nun aus einer schrecklich breiten, wächsernen Apathie herausstarrte, blieb fast gerade mir gegenüber stehen und schaute mich an. Das Kinn, der rechts im Guß zusammengeflossene rote Mund, die Nase und die massigen Fleischteile waren zweifellos auf größere Entfernung berechnet – aber wie schön war dieses blaue Auge! Wenn der Blick des wirklichen Heilandes nur halb so innig war, dann mußte er alle Frauen Jerusalems in dem Maße entzücken, daß sie nach Hause zu ihren Männern liefen und unter Androhung der Entziehung aller weiblichen Gnadenmittel erklärten, ein Mensch mit so schönen blauen Augen dürfe nicht hingerichtet werden! – Der Budenbesitzer hatte nach den schwerwiegenden, Christi Mund entnommenen Worten: »Einer unter euch wird mich verraten!« offenbar dem Publikum Zeit gelassen, sich zurechtzufinden. Er mußte aber auch warten, bis der Sinn dieser Worte in die Wachsköpfe der Jünger eingedrungen war. Und dies schien nun wirklich der Fall zu sein. Denn als der artistische Leiter, ich meine der Budenbesitzer, noch einmal mit kräftigem Dresdener Dialekt, eindringlich und mit echt protestantischer Verve betont hatte: »Wahrlich, ich sage euch, einer unter euch wird mich verraten!« – als dann Christus wieder mit hinschmelzendem Rhythmus das breite Lordsgesicht erhoben, die prachtvoll weißen Hände über den Fisch ausgestreckt und ein klingendes »Nja!« herausgestoßen hatte, begann sofort eine wächsern-glänzige Revolution unter den Jüngern. Jakobus (der Ältere) und Andreas, jener in einem schottisch karierten Überwurf, die beide an der linken äußersten Tischecke einander zugewandt saßen, und von denen der letzte bis dahin ständig in die rechte Soffitte, Jakobus dagegen auf eine vor ihm stehende Schale mit roten Äpfeln geblickt hatte, begannen nun beide, mit bedenklicher Miene die Köpfe hin und her, von den Jüngern zum Publikum und vom Publikum wieder zu den Jüngern, zu drehen, als wollten sie sagen: »Das ist ganz unmöglich! Diese Geschichte mit dem ›Verraten‹ ist ganz unmöglich; wirklich ganz unmöglich!« – Einige Leute im Publikum, fröstelnd getroffen von den schwarz lackierten Augen des Jakobus (des Älteren), räuspern verlegen und schauen vorsichtig um, ob sich der Verräter unter den Zuschauern befinde. Die ruhelos schnurrenden Köpfe der beiden Jünger bleiben schließlich dicht einander gegenüber stehen und durchbohren sich gegenseitig mit glänzigstarrenden Blicken, als röchen sie mit den Augen gegenseitig auseinander heraus, wer von ihnen heute noch »den Herrn« verraten werde.

      Zweifellos war auf der anderen Seite des Tisches eine ähnliche Reihe von Entrüstungen vor sich gegangen, ohne daß ich sie beobachten konnte; ich schloß dies daraus, daß die oben schon genannten Bartholomäus und jüngerer Jakobus, von denen der letzte einen gelbseidenen Kaftan anhatte, und die beide zu Anfang ruhig und gelassen dortgesessen hatten, nun mit Händen und Oberkörper zum Tisch hingelümmelt waren und trotzig und wie herausfordernd zu Christus hinüberschauten. Der artistische Arrangeur hatte hier offenbar eine große Schwierigkeit zu überwinden und wäre durch diese Gruppe beinahe zu Fall gekommen. Zum Glück hatte der jüngere Jakobus, der eine von den beiden etwas ungeschlachten Jüngern, die hohlgemachte Hand am Ohr, so daß man sah, er horchte. Was seine wulstigen, dicken Lippen trugen, war etwa: »Was ist da gesagt worden von ›Verraten‹? Haben wir recht gehört? Wer verraten? Wie verraten? – Beim ›Verraten‹ müssen wir bitten, unsere Namen auszuschließen!« – Eine sehr gute Geste hatte sich Matthäus einstudiert, der als späterer Evangelienschreiber seinen Platz gleich links vom »Herrn« hatte, und der mit der rechten Hand immer in bestimmten Pausen an die Stirne fuhr, als besänne er sich, ob denn ein ähnlicher Verdacht früher schon ausgesprochen worden sei, im übrigen aber in dessen maßvoller Zurückweisung mit seinen Genossen gleichen Sinnes war. Daß Thomas, der später durch seinen Unglauben so viel Aufsehen gemacht, und der wiederum links von Matthäus saß, ungläubig sein Haupt – nun schon seit fünf Minuten – schüttelte, war vom Mechaniker der Gruppe zu erwarten gewesen. Und da in diesem Falle der Akteur – Thomas – von jedem Übertreiben sich fernhielt, also beim Schütteln auf der Höhe der Exkursion nicht jeweilig mit dem Blick das Ohr seines Nachbarn zur Rechten oder Linken (dort saß Philippus) streifte, so war sein ewiges Verneinen durchaus im Rahmen des Protestes der anderen.

      In all dieser fleißigen Bewegung, diesem Fragen, Besinnen, Kopfschütteln, Entrüstettun usw. war aber Christus, dieser schöne Mann in der Mitte, vollständig apathisch und sozusagen stocksteif, er kümmerte sich nicht im geringsten um das, was um ihn vorging, sondern blickte ruhig auf seinen Fisch.

      Nun aber ging es auf der linken Seite wieder mit verstärkter Vehemenz los. Petrus, ein Mann in den Sechzigern, mit grauem, spitzig zulaufendem Vollbart und resoluten Gesichtszügen, der, zur Linken von seinem Bruder Andreas plaziert, die ganze Zeit mit verdutztem Kopfe dortgesessen hatte, wurde plötzlich lebendig, hob den Kopf gegen das Publikum, zog ein mit Silberpapier überzogenes, sensenartiges Messer hervor und fuhr mit kopfabschneidenden, kräftigen Bewegungen hoch über seinem Haupte etwa fünf-bis sechsmal hin und her, wobei der dicht neben ihm (in der Richtung zu Christus) sitzende Judas Ischariot eine deutliche, ruckartige Bewegung machte und an seinen Hals langte, während im Publikum tiefe, Entsetzen verratende Atemzüge hörbar wurden, und ein Zuschauer zu meiner Linken seinen Rockkragen hinaufschlug. In der Tat, diese energische Handlung Petri machte den besten Eindruck; wie überhaupt auf dieser linken Seite (rechts vom »Herrn«), wo außer den schon genannten noch der agitatorisch angelegte Simon der Zelot saß (neben Judas), sich, wie man sofort erkannte, die älteren, reiferen und kritikbegabteren Elemente vereinigt hatten. Während auf der anderen Seite (links vom »Herrn«) man sich mit zweifelsüchtigen Mienen, Mundwinkelzucken und Augenzwinkern begnügte, aber keine großartig theatralische Bewegung, Messerführung oder resolutes Sich-in-den-Bart-Greifen das Vorhandensein eines tiefer angelegten Räderwerks in den betreffenden Geistesmaschinen verriet. Aber weder vermochte hier Ruhe und Gleichgültigkeit, noch dort Aufgeregtheit und Petrus mit seinem Blankziehen, das zu bewirken, was jetzt am allernötigsten gewesen wäre, um die Sache vorwärts zu bringen, nämlich Christus aus seiner Lethargie aufzumuntern oder ihn zu veranlassen, etwas darüber zu sagen, wer denn eigentlich der »Verräter« sei. – Christus hatte seine langen Hände auf dem Fisch, sein Gesicht war auf die Hände gerichtet, und über dem Gesicht hing die prachtvollblonde englische Perücke in unlösbarer Steifheit herunter über Gesicht, Fisch und Hände. – »Einer unter euch wird mich verraten!« – Diese Worte aus dem Munde des »Herrn« muß ich statt des Budenbesitzers hier noch einmal dem Leser ins Gedächtnis zurückrufen. Diese Phrase hatte all die Aufregung in dieser wächsernen Gesellschaft hervorgerufen; alles Messerziehen und Sich-an-den-Kopf-Langen bezog sich auf sie. Es würde keine Ruhe unter diesen ehrenwerten Männern eintreten, bis der Verräter bekannt ist. –


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