Gesammelte Werke. Oskar Panizza

Gesammelte Werke - Oskar Panizza


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möchten einige das Theater verlassen. Offenbar wurde noch einmal gesammelt. Ich suchte durch ein etwas größeres Geldstück die Aufmerksamkeit des Tellerträgers auf mich zu lenken, da ich verschiedene Fragen zu stellen hatte. Auf der Bühne verdunkelten sich jetzt die Lampen und aus dem Rumoren und Poltern merkte man, es werde eine neue Szene aufgeschlagen. – »Sie haben da vortreffliche Figuren!« sprach ich den Sachsen an, der im Zuschauerraum die Herrschaft führte. »Ja«, meinte er, »seit wir den neuen Christus haben, geht es besser.« – »Hatten Sie früher einen anderen Christus?« – »Ja, der war geschnitzt, aber ganz schlecht, und schon ganz schwarz; der nahm sich unter den schönen Wachsköpfen wie der Teufel aus. Wir haben ihn verkauft.« – »Allerdings, der neue Christus ist vortrefflich.« – »Oh, ich sag’ Ihnen, der ist so schön, so sanft, wissen Sie, das blonde Haar, das blaue Auge, ich sag’ Ihnen, die Leute haben oft geweint.« – »Spricht er denn nicht die Worte: Wahrlich, ich sage euch…?« – »Nein, der hat nie gesprochen, das käm’ zu teuer. Das ›Ja!‹, welches er spricht, haben wir hier in Nürnberg erst machen lassen, das kostete uns allein über achtzig Gulden.« – »Dieses ›Nja!‹ scheint aber selbst wieder sehr kompliziert zu sein?« – »Ja, es hat zwei Pfeifen und ein Schnarr-Register.« – »Sagen Sie einmal: Warum spricht der Judas englisch?« – »Den haben wir von einer englischen Truppe gekauft.« – »Ja, aber gerade die inhaltsschweren Worte, die er zu reden hat, die versteht ja kein Mensch?« – »Oh, das macht nichts; im Gegenteil, es wirkt ungeheuer; die Leute sind ganz baff, diesen Judas geben wir für keinen anderen her, nicht einmal für einen hannoveran’schen, der ist unsere beste Figur!« – »Was ist das, ein ›hannoveranischer Judas‹?« – »Pst!« machte der Sachse und deutete auf den Vorhang, der sich soeben erhoben hatte.

       Kreuztragung

      Eine weite kahle Heide. Auf dem Boden hie und da etwas buschiges Gras, dessen breite, prachtvoll grüne Halme, wie mir schien, in Schweinfurtergrün getaucht und mit Silberpuder bestreut waren. Keine Seele auf der weiten Fläche. Ob dieses Feld in der Nähe von Jerusalem war, ob der Zug nach Golgatha hier vorüber mußte, ob voraussprengende römische Kriegsknechte jeden Moment zu erwarten waren, oder ob es das Stelldichein einer friedlichen Szene werden würde, ob die schöne Magdalene hier vor dem Publikum ihre blonden Flechten auseinanderwickeln werde, um sie mit ihren Tränen zu waschen, das alles wußte kein Mensch, da ja im Vorausgehenden die Direktion bewiesen hatte, daß sie sich unmöglich, weder in der Aufeinanderfolge der Szene, noch in den Einzelheiten des jeweilig Dargestellten, wortgetreu an den Text der synoptischen Evangelien halten könne. Aber Stimmung machte schon diese weite, grünumflossene Ebene, die von den acht Lampen hinter der Verschalung grell beleuchtet wurde. – Und plötzlich näherte sich aus der rechten Kulisse eine große Maschine, deren Schatten die Soffittenbeleuchtung zu früh auf der hinteren Szenenwand zu Gesicht brachte. Man wußte noch nicht, was es war. Es schien nur ein kolossales Ding. Jetzt kam es näher. Und plötzlich erschien ein Balken, der hinunterging; dann kam ein Balken, der hinausging; dann die Vereinigung der beiden Balken, und dann ein Kopf. Ein wachsbleicher Kopf mit wunderschönen blonden Haaren, die auf dem Scheitel geteilt waren. Es war wieder der weiße Lord. Es war Christus, der in ein großes, bauschiges, helles Gewand gehüllt, unter dem Kreuz zusammengeknickt, auf der Szene vorüberzog. Doch bewegte er die Füße nicht. Im Gegenteil, alles war starr und steif. Und dieses vermehrte noch das Eindrucksvolle. Offenbar wurde durch einen Bühneneinschnitt über die ganze Breite der Bühne hin die im Souterrain genügend befestigte Figur hindurchgezogen. Der Rücken war wohl gekrümmt, und überhaupt die ganze Gestalt so tragisch und gebrechlich wie möglich hingestellt; trotzdem war der Kopf in einer ganzen Vierteldrehung nach links zum Publikum hinausgedreht und außerdem noch so weit zur Schulter hinaufgehoben, daß die Augen fast waagerecht zu liegen kamen. Er schaute nun so mit gespenstig-bleichen, wie erstarrten, wie bei einer anderen milden Gelegenheit gefrorenen Gesichtszügen, aus denen jeder Schmerz und jede Anstrengung gewichen war, direkt aus der Bühne heraus: eine Kombination von Pose und Affekt, die in der Natur gar nicht möglich wäre, die aber hier die kolossalste Wirkung hervorbrachte. Es war nicht derselbe Christuskopf wie beim Abendmahl. Der dort war englischer, breitkiefrig, fleischig und die Perücke glatt gestriegelt. Der hier war idealer, deutscher, etwas hohlwangig, mit feinfühligem Kinn und wunderschönen blonden Locken, die auf die Schulter herniederflossen. Langsam, starr, lautlos und stet zog dies gepeinigte Christusbild wie eine Vision quer über die Bühne. Es war jetzt beiläufig in der Mitte. Der Sachse sprach kein Wort. Dies wir auch gar nicht nötig. Jedermann, das kleinste Kind, wer nur aus dem Publikum jemals einen Schulkursus in deutschen Landen mitgemacht hatte, oder einmal ein Bild von einem Franziskanerpater geschenkt bekommen hatte, der wußte: das ist Christus unter dem Kreuz. Dieser stumme Religionsunterricht hatte die ungeheuerlichste Wirkung unter den Zuschauern und setzte sich in ihrer Phantasie wie eine gewaltige Macht fest. Und ich war froh, als der weiße Mann endlich zwei Drittel der Bühne zurückgelegt hatte. Auf Momente hatte ich die Empfindung, das vor Entrüstung fassungslose Publikum möchte hinausstürmen und irgendeinen zwischen den Buden ergreifen und als »Verräter« halb totgeschlagen hereinschleppen. Denn was das blonde bleiche Antlitz da droben nicht sprechen konnte, das sprach wie mit Stentorstimme im Gewissen des Publikums: »Wer hat das angerichtet? Wer ist schuld an dieser Marter? Wer ist der Teufel, der es zu verantworten hat, daß dieser wunderbare Mensch da droben so leidet?« – Wie es beim Vorüberführen von so festgegossenen Bildnissen geht: die Augen schauen, in welcher Stellung auch immer, stets den Beschauer an. Und als der Heiland sich der linken Soffitte näherte, schauten seine wasserhellen, blauen Augen mit einem schmerzlichen, vorwurfsvollen Ausdruck zurück ins Publikum, als sprächen sie: »Folge mir nach!«, so daß einzelne Mädchen entsetzt von der äußersten Rampe, bis zu welcher das Publikum vorgehen konnte, zurückwichen. Und in der Phantasie eines Menschen, der leichter entzündbar ist als andere, mochte jetzt der Gedanke entstehen, es könnte einer, von dem zurückschauenden Blick des Heilandes verwirrt und seiner Umgebung vergessend, mit einem einzigen Satz über Rampe und Lichter hinweg auf die Bühne springen, um zerknirscht dem bleichen, wächsernen Bild zu Füßen zu sinken. Aber Gott sei Dank, alles blieb still, wie durch ein Bleigewicht in der Brust hingefesselt, starr, fasziniert. – Jetzt war die lichtumflutete, gewaltige Erscheinung dicht bis an die linke Soffitte gekommen. Eine Verzögerung schien zu entstehen. Das Bild machte halt. Hinter ihm folgte, wie eine schwarze Schlange, der riesige Kreuzbalken. Aber vorn schienen die kleinen Balkenenden, die über die Schulter hereinhingen, nicht zur Soffitte hineinzukönnen. Das Bild schwankte jetzt hin und her. Der Sachse ging vor und schaute in die Soffitte. Nur jetzt keine Katastrophe, dachte ich mir, den Menschen, die diese weiße Gestalt bis in ihr spätestes Alter mit sich in der Phantasie herumschleppen werden, noch ein Ärgernis zu bereiten! – Doch jetzt ging’s wieder vorwärts. Noch ein einziger, langer, blauer Blick über die ganze Versammlung, und das blonde Haupt verschwand hinter der Soffitte, und der Vorhang fiel. Ein einziger großer Atemzug im ganzen Publikum löste die Anwesenden wie von einem lange ertragenen Alp. »Zum Besten des Maschinisten!« sagte der Sachse und ließ einen Teller herumgehen.

       Pause

      Während noch alles still dastand, einige flüsterten, niemand aber die feierliche Stille zu unterbrechen wagte, hörte man plötzlich von hinter der Bühne her einen schallenden Klatsch und gleich darauf in norddeutschem Dialekt an jemanden zornig die Frage gerichtet: »Wie können Se man so dämlich sein und Christus an die Wandverkleidung anrennen lassen?« – Obwohl diese barbarische Unterbrechung, welche mit einem Schlag das ganze Komödiantenwesen aufdeckte, die feierliche Stimmung ins Gegenteil zu verkehren geeignet war, so zeigte sich doch im Publikum keine Neigung, auf die Komik des Vorgangs einzugehen. Die Macht der weißen Christuserscheinung, die mit ihren hellen, kolossalen Umrissen in der Phantasie nachzitterte, war doch stärker als diese Lappalie. Nur der Sachse lachte verstohlen in seinen Teller hinein. Er kannte offenbar den Schlingel, der die Christusfigur im letzten Moment ihres Verschwindens, als sie ins Wanken kam, schlecht dirigiert oder die Soffitte nicht richtig gestellt hatte. – »Sie scheinen stark auf die Nerven Ihres Publikums zu rechnen!« sagte ich zum Sachsen, als er zum Einsammeln zu mir kam, indem ich durch eine Silbermünze seine Aufmerksamkeit mir aufs neue zu sichern suchte. Bei dieser Gelegenheit bemerkte ich, daß seine Ernte an Geldstücken eine ganz überraschend reiche war. – »Wir müssen darauf halten«, antwortete er, »mit dem Entrée können wir knapp die Platzmiete bezahlen!« – »Sind während der letzten Nummer noch keine Unfälle vorgekommen?«


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