Gesammelte Werke. Oskar Panizza
neben dem »Herrn« sitzenden jugendlichen Johannes zu, gleichsam mit der Frage, was er zu der schrecklichen Anklage meine. Dieser Johannes war ein blutjunger, liebenswürdiger, schöner Mensch mit vollen Mädchenwangen, blauen, unverdorbenen Augen und süßem, roten Mund; er trug ein rosafarbiges, bauschiges Kleid mit weiblichem Schnitt, das mit einem blendendweißen Kragen den jungfräulichen Hals abschloß. Eine blonde Lockenfülle, die bis auf den schneeweißen Kragen niederfloß, ergänzte dieses pausbäckige Gesicht zu einer so verführerischen Erscheinung, daß die jungen Mädchen, die sich zu zwei oder drei im Zuschauerraum befanden, flüsternd zusammenrückten und sich mit dem Ellbogen anstießen, auch von diesem Moment an keinen Blick mehr von dem prächtigen jungen Menschen abwandten. Seine geheime Konstruktion erlaubte ihm, die Arme flügelähnlich vom Körper auf und nieder zu heben, und als er dies zum Zeichen der Bejahung oder der Meinung, daß er an dem Wort des »Herrn« nichts zu ändern habe, etwa fünf-bis sechsmal hintereinander mit luftiger Geschwindigkeit tat, wurden plötzlich die Mienen aller Apostel bleich und käsig, bleicher fast als Wachs. Die zwei Hingelümmelten am äußersten Ende des Tisches, Bartholomäus und der jüngere Jakobus, zogen sich von der Tischplatte zurück, wie durch die Geste des jungen Johannes gleichsam vergewissert, daß also wirklich der »Verräter« da sei; der jüngere Jakobus ließ die hohle Hand vom rechten Ohr niedersinken, als habe er genug gehört; Thomas stellte sein ungläubiges Schütteln ein; Matthäus schlug sich nicht mehr mit der Hand vor die Stirn. Und auch drüben auf der linken Seite ließen alle die steifen, teils zur Abwehr, teils staunend und fragend erhobenen Arme fallen; eine allgemeine resignierte Abspannung gab sich durch die Reihen der schwergetroffenen Jünger kund.
Nun darf der Leser nicht vergessen, was es für eine Bewandtnis damit hat, daß diese elf Apostel, alles bejahrte, ergraute Männer mit ernsten Gesichtszügen, durch diese kleine, fast flatterhafte Meinungskundgebung des jungen Johannes so im Innersten getroffen wurden. Johannes war eben der erklärte Liebling Jesu, er »lag an der Brust des ›Herrn‹«, wie es im Evangelium von ihm heißt, und wußte dessen Gedanken; Christus muß dem jungen Johannes wiederholt Dinge mitgeteilt haben, von denen die anderen erst viel später Kenntnis erhielten; dies erklärt die apodiktische Sicherheit, mit der jedes Wort und jede Geste von ihm aufgenommen wurde; und dies erklärt auch den Umstand, daß der junge Fant den Ehrenplatz rechts neben Christus einnahm, und zwar auf einer Seite des Tisches, auf der die Charakterköpfe der ältesten und wichtigsten Apostel den größten Gegensatz zu einem Milchgesicht bilden mußten, dessen Gesichtszüge zwar Unschuld, aber auch vollständige Unerfahrenheit verrieten. Denn auf dieser Seite, ihm zunächst, folgten – um noch einmal die Reihe zu nennen – der entflammte Zelot Simon (der Kananiter), dann der verwegene und zielbewußte Judas Ischariot (der, wie das gebildete Publikum wohl größtenteils weiß, der »Verräter« ist); dann der gleich vom Leder ziehende, stets bewaffnete Petrus; dann dessen nicht minder entschlossener Bruder Andreas; und schließlich der mürrisch und finster dreinschauende, jedenfalls sorgengequälte ältere Jakobus in seinem schottischen Anzug. Der Kontrast kam noch in anderer Weise zum Ausdruck: während nämlich alle Apostel sich von dem gedeckten Tisch losgelöst hatten, als hätten sie kein Recht mehr, an dem heiligen Mahl teilzunehmen, und – durch geschickte Machination der unter dem Sitz befindlichen Hauptschraube jedes einzelnen – mit freiem Oberkörper dortsaßen, war Johannes neben Christus der einzige, der, wenn der Ausdruck verständlich ist, den Tisch belegt hatte. Aber wie belegt! Denn während Christus in seiner stereotypen Haltung, Hände und Gesicht in unerbittlicher Apathie über den Karpfen gebeugt, nach wie vor stumm verharrte, lag der junge Johannes mit beiden Armen über die ganze Tischplatte gelümmelt, das Kinn am Tischtuch und die apfelblütigen Wangen hinaus ins Publikum gerichtet, wo er mit seinen naiven Unschuldsaugen ein junges Mädchen anguckte, das zitternd und erregt neben ihrer Mutter stand. Diese war eine Postoffizialswitwe, wie ich zufällig wußte, da ich sie draußen zwischen den Buden schon einmal hatte anreden hören. Und sie schien nichts wider dieses gegenseitige Angucken der jungen Leute zu haben. – Nun will ich gern zugeben, daß der Künstler den jungen Johannes zu jugendlich, zu läppisch gebildet hatte, vielleicht um gerade dem Publikum die Stelle begreiflich zu machen, in der es von ihm heißt, daß »ihn der ›Herr‹ lieb hatte, und daß er an der Brust des ›Herrn‹ ruhte«. – Aber das alles hindert nicht, daß die alten Apostel von dem jungen Menschen in der unwürdigsten Weise abhingen, auf jedes seiner Worte lauschten, und daß dieses unnatürliche Verhältnis hier in der schroffsten Weise seinen Ausdruck fand.
Eine bleierner trübe Stimmung lag nun auf der ganzen Versammlung. Der Heiland unbeweglich in seiner früheren Haltung. Die Apostel tief in Gedanken versunken. Der junge Johannes mit seinem pausbäckigen Lächeln schien von der ganzen Sache gar nichts zu verstehen. Auch im Publikum war eine gewisse trostlose Gedrücktheit zu bemerken. Ein schallendes »Nja!« entfuhr noch einmal den Lippen des Heilandes – und zwar diesmal, ohne daß er aufsah – und schien zum Überfluß nochmals zu bekräftigen: »So ist’s, wie ich gesagt habe. Und da wird nichts dran geändert!« – Für mich war damit, nebenbei bemerkt, entschieden, daß der »Nja«-Mechanismus mit der Bewegung des Kopfaufrichtens und des Fischsegnens nichts zu tun hatte. Nun aber änderte sich plötzlich die Szene: Judas, der während der letzten Minuten sich mit dem schottischgekleideten Jakobus – über den Tisch hinüber – leise unterhalten hatte und zweifellos des Englischen mächtig war, war plötzlich aufgesprungen. Und indem er mit dem goldgestickten, gefüllten Beutel, den er in der Hand hatte, ein paarmal tüchtig auf den Abendmahlstisch einhieb, schrie er: »What’s the matter?« dreimal mit so schneidender, inquisitorischer Stimme, daß alle heftig erschraken und sogar Christus in leise zitternde Bewegung geriet. – »What’s the matter? –What about ›wird mich verraten‹? What’s the matter?« Dabei warf er den wunderschönen, von schwarzem, hohenpriesterähnlichem Vollbart umrahmten, funkelnden Kopf heftig nach links und rechts, im Vorübergleiten den Heiland fest ins Auge nehmend. Er war ein prächtiger Mann, mit rassigem, scharfgeschnittenem Gesicht; eine kühne Adlernase gab dem ganzen Kopf etwas Siegreiches, Ideales. Zweifellos war er der Bedeutendste der ganzen Gesellschaft, von imponierendem Äußern. Gewiß hatte er längst die jede echte Genialität erstickende Gefahr der sanften, unscheinbaren Heilandslehre erkannt, die alle Menschen gleichmachen wollte. Er verband mit der Schärfe des Denkens die Entschlossenheit des Handelns. Und nur das Herz fehlte ihm. Sein Plan, die neue Lehre unschädlich zu machen, war korrekt in Konzeption und Ausführung. Die paar Silberlinge waren gar kein Gegenstand. Nur vergaß er, daß der blonde Heiland auch zum Sterben bereit war. Ein süßer Herzenswahnsinn hatte in diesem längst Platz gegriffen, als er sich entschloß, nach Jerusalem zu reisen. Eine fatalistische Schwelgerei ließ ihn innerlich lächeln über die Spieße und Stangen der Pharisäer und die Mordtaktik des Judas. Aber dieser, wie gesagt, war ganz korrekt. Er war ein guter Schüler cäsarischer Berechnung und Rücksichtslosigkeit, welche er ja durch die römische Herrschaft täglich vor Augen hatte. Nur vergaß er, daß mit dem Tod Christi nicht alles vorbei sei. Diesen blutigen Schachzug hatte er aus dem so milden, guten, tränenreichen Antlitz des Heilandes nicht herausgelesen.
Das Publikum konnte nicht umhin, seiner Freude über die dramatische Kühnheit des Judas Ausdruck zu geben. Alle waren plötzlich fast auf seiner Seite. Ein angenehmes Grausen über die schroffe Manier des schönen »Verräters« überkam alle. Besonders die Weiber waren entzückt. Viele fanden den schwarzen Schnurrbart göttlich. Nur ein altes Weib neben mir, mit einer Zahnlücke auf der rechten Seite, pfiff und zischte aus dieser Lücke so kräftig heraus, daß man ihr die Entrüstung anmerkte, ohne hinzusehen. Sie war jedenfalls bibelfest. – Vielleicht Protestantin. – Judas trug prächtige Kleidung. Offenbar standen ihm bedeutende, hohepriesterliche Mittel zu Gebote. Die dreißig Silberlinge kamen nicht in Betracht, schon der scharlachrote Überwurf, der mit goldenen, sich ringelnden Schlänglein bestickt war, konnte um diese Summe nicht hergestellt werden. Der Kopf drehte sich vorzüglich. Er machte immer eine ganze halbe Wendung, vom Heiland hinüber zum Andreas, ohne das Publikum zu würdigen. – Die Direktion wußte, daß dieser Moment das Publikum aufs tiefste erregte, und ließ zugunsten des Bekleidungsfonds für die Apostel einen Teller herumgehen.
Pause
Während der Sachse mit dem Teller herumging, fiel zu meiner größten Überraschung der Vorhang plötzlich über der Abendmahlszene. Auf den Moment, wo Christus Judas den Bissen reicht, schien also der Verfertiger der Gruppe wohl wegen der großen mechanischen Schwierigkeiten Verzicht