Gesammelte Werke. Oskar Panizza
auf den weißen Mann, von dem ich nicht sicher war, ob er sich verstelle, oder ob er tot war. Auch konnte ich nicht feststellen, ob der weiße Mensch oben noch am Balken hing, da alle Kerzen sich hier zu der Bettszene zurückgezogen hatten. Jedenfalls machte der weiße Mann im Bett nicht die geringste Bewegung, als die vordersten unter den Schwarzen ihn mit Küssen bedeckten, Speichel auf seine Hände und Füße schmierten und ihn dabei ganz mit Wachs volltropften. Und eine unter ihnen, ein mageres, häßliches Weib, nur mit einem einzigen dünnen Rock bekleidet, warf sich in ihrer ganzen Länge auf ihn, ohne daß er zerbrach, woraus ich schloß, daß er jedenfalls nicht von Gips war. Sie umklammerte ihn heftig, rieb ihr runzliges, beulenbedecktes Gesicht gegen seine Wangen und rief in einem fort eine kreischende Phrase, die ich aber nicht verstehen konnte, weil der Wind konträr ging. Um so sicherer war jedoch der Effekt auf die Umstehenden, die nach kurzem Erstaunen wie wütend auf die Obenliegende sich stürzten, wie mir schien, nicht aus Entrüstung, sondern aus Neid, wegen des gelungenen Streiches, der der Mageren, Dünnbekleideten gelungen war. Denn stets drängten sich da, wo es gelang, sie wegzureißen, andere Gesichter, Backen und schwitzende Hälse hin, um den weißen Mann zu berühren. Und merkwürdig, als man nun endlich die Spindeldürre weggezerrt hatte, warfen sich andere, Schwerfälligere und Dickere, die keine Aussicht hatten, bis zum weißen Mann vorzudringen, wiederum auf sie, um sie an jenen Stellen, wo sie mit dem weißen Manne in so unflätige Berührung gekommen war, abzuküssen und abzulecken, als handelte es sich um ein Gift, um einen Impfstoff, der von dem kalkigen Menschen ausging und von Lippe zu Lippe übertragbar war. Gegen dieses Verfahren wehrte sich aber die so gewaltsam Entfernte mit Händen und Füßen. Eine schreckliche Balgerei entstand in dem engen Häuschen, die Alte drängte heraus, andere drängten hinein, um zu dem weißen Mann zu gelangen. Wie es bei solchen Gelegenheiten geht, wurden einzelne, mit eingepferchten Armen, mit dem ganzen Körper emporgehoben und stiegen mit kirschrotem Gesicht, wie rote Bengallichter, aus der schwarzen, wühlenden Masse langsam, aber sicher in die Höhe. Andere, die den Arm mit dem rettenden Wachslicht freibekommen hatten und in die Höhe hielten, träufelten nun im Gewühl das Wachs auf die verzweifelt nach oben blickenden Kirschgesichter, auf die Halskrausen und die daraus hervorquellenden Kröpfe. Leider konnte ich nur das Bild als solches, die Formen und Bewegungen sehen; von den Lauten des Schmatzens, Küssens, Leckens, Abglitschens, Fluchens, – von dem eigentlichen Inhalt der Szene, was sie mit dem weißen, nackten Mann sprachen, was sie von ihm wollten – das entging mir alles. Endlich erbrach sich förmlich das mit den schwarzen Menschen gefüllte Häuschen; eine Öffnung entstand, wie ein Krater, und heraus flog das dürre Weib auf den platten steinernen Boden hin; ihr dünner Rock war teils zerrissen im Kampf, teils hinaufgeschlagen. Man sah, daß sie keine Hosen anhatte, die mageren, schlottrigen Beine steckten in schmutzigblauen dicken Strümpfen, die mit quittengelben Bendeln befestigt waren. So lag sie am Boden, wo sich kein Mensch mehr um sie kümmerte.
Ich war noch damit beschäftigt, mir die Bedeutung dieser merkwürdigen Szene zurechtzulegen, insonderheit mich zu fragen, welches die Rolle sei, die dieser weiße Mann den ganzen Berg herauf gespielt hatte! Erst läßt er sich ins Gesicht spucken, dann liegt er stillvergnügt im Schoße einer jungen Frau, darauf hängt er sich an einen Balken und hält Zwiegespräche mit den Schwarzen ab, um sich endlich ins Bett zu legen und von den alten Weibern umgarnen zu lassen! Ist er krank oder ein Simulant oder ein Schauspieler? – Eine plötzliche Bewegung, die auf der Spitze des Berges begann, hinderte mich an dem weiteren Verfolgen meiner Betrachtungen. Die ganze enorme Menge der Schwarzen, sowohl die, welche den Gipfel des Berges, wo die drei Balken standen, gar nicht verlassen hatten, als auch jene Weiber, welche etwas unterhalb in dem offenen Schlafzimmer des weißen Mannes die Balgszene aufgeführt hatten, stürzten sich, wie auf ein gemeinsam verabredetes Zeichen, wie auf einen Signalpfiff, in wilde Flucht, liefen, was sie laufen konnten, die andere Seite des Berges hinab, die glücklicherweise weniger steil verlief als der Aufstieg, da sonst der Sturz einzelner und ein Drüberfallen der Nachfolgenden unausbleiblich gewesen wäre. – Alles lief in wilder Hast durcheinander, Kerzen und kleine Büchelchen in Goldschnitt wurden weggeworfen, Weiber hoben die Röcke empor, um besser laufen zu können! Vorn dran, nicht am wenigsten geschickt im Vorwärtskommen, galoppierten die drei Dickbäuche mit ihren gestickten Mantillen. – Ich glaubte schon, die Schwarzen hätten eine endgültige Niederlage erlitten, und die Weißen, in Verfolgung ihres Sieges durch Nachsetzen hinter dem Feinde, kämen aus dem Häuschen gesprungen und eilten mit Spießen und Stangen unter Anführung des armen weißen Menschen in wilder Hast hinterdrein. Aber alles blieb ruhig und still. In Verfolgung der Richtung, die die Schwarzen eingeschlagen hatten, entdeckte ich auf halbem Abhang des Berges ein – Wirtshaus. Dieses Wort, dieser sättigende Begriff, brach auf einmal, wie einfallendes Tageslicht, ernüchternd in die phantastischen Ereignisse der Nacht. Ich begann an der Sonderexistenz einer weißen und schwarzen Rasse wieder zu zweifeln. Ein Gejohle drang aus den erleuchteten Fenstern der Schenke, welche die Schwarzen im Sturm eingenommen hatten, als berieten sie drinnen über die erlittene Niederlage und über eine etwaige Neuaufnahme des Feldzugs. Bald belehrte ich das Erklingen von Fiedeln und dumpfes Aufstampfen auf den Boden, daß getanzt wurde. Das Wirtshaus lag, bei dem eigentümlichen Winkel, den der Grat des Berges beschrieb, näher am Dorf und bei mir, als der bewaldete Bergrücken, auf dem sich alle bisherigen Szenen abgespielt hatten; auf diese Weise konnte ich Menschen und Stimmen leichter beobachten und vernehmen, als im Verlauf der Nacht, wo nur ein günstiger Windstoß mir die oder jene Phrase zugebracht hatte. Ein Fenster von der Schenke flog jetzt auf; aus einem wie aus nächster Nähe zu mir herüberdringenden Durcheinander von Gläserklirren, Lachen, Schreien, Tanzweisen von einer miserablen Trompete aufgeführt, Stampfen und Fluchen war zunächst nichts Bestimmtes zu unterscheiden. Das plötzliche Aufschreien einiger weiblichen Kehlen belehrte mich, als ich durch den dem Fenster entströmenden Dampf beobachten konnte, daß mit den Weibsleuten Unfug getrieben wurde. Endlich aber ließ sich eine tiefe, versoffene Mannsstimme durch den Tumult mit der Aufforderung vernehmen: »Laßt uns Kegel schieben!« – Eine ruhigere Stimme, vermutlich die des Wirtes, schien zu antworten, es seinen keine Kugeln da! – »Haut den Luthrischen die Köpf’ ab! ließ sich wieder die erste Stimme vernehmen. Diese Aufforderung schien wie ein elektrischer Funke die Masse der Schwarzen zu berühren. »Haut den Luthrischen die Köpf’ ab!« antwortete ein Echo von Dutzenden von Stimmen. Alles sprang von den Sitzen auf und drängte nach dem Ausgang. Wie eine plötzliche Aufrüttelung, die einen aus einem tiefen Traume aufweckt, brachte mich dieser Kampfesruf in die nüchternste Wirklichkeit zurück.
Voll Angst flog mein Auge noch einmal über den Kamm des Berges zurück. Er war ganz leer; hinten machte sich in einem hellen Saum die anbrechende Morgendämmerung geltend. Die Tannen waren nun lichter und man übersah alles besser. Die Häuschen standen nackt und verlassen da, und in ihnen die weißen Figuren starr und regungslos in ihren verzwickten Stellungen wie weggeworfene Puppen aus gefrorenem Gips. Pfeilgerade starrten die drei Balken auf der Höhe in die Luft. An ihnen hingen die drei vertrackten weißen Gestalten, die zwei äußeren mit verkrümmten Gliedmaßen, als versuchten sie sich loszureißen. Aber zu meiner größten Verwunderung entdeckte ich, wie an dem mittleren Balken, an dem der arme weiße Mensch mit langgestrecktem Körper hing, das blonde Mädchen, welches inzwischen die Spitze des Berges erreicht hatte, emporgeklettert war. Sie hatte bereits den Querbalken erreicht, ihre lichten Zöpfe flatterten hoch im Morgenwinde empor. Und während sie sich fest an den Stamm anklammerte, küßte sie den weißen Menschen, dem sie schmeichelnd den Hals umfaßte, auf den Mund. Voll Entsetzen wandte ich mich ab.
Unten stürmte der schwarze Haufe den letzten Bergesabhang, der von der Schenke ins Dorf führte, herunter. »Haut den Luthrischen die Köpf’ ab!« schrie es wild durcheinander. Ich erkannte sie jetzt. Es waren Menschen wie auch ich. Aber alle frühere Ordnung, alles zielbewußte Vorgehen schien verloren. Kreuze und Fahnen schwankten hin und her, wie von Betrunkenen getragen. Kleine Knaben, die Weihrauchkessel über den Buckel geworfen, galoppierten voraus. Hinten keuchten schwerfällig die in Gold und Seide gekleideten dicken Anführer, mit gerötetem Gesicht, dem einen war die Brille aus dem Ohr gerissen. Mit zerknittertem Busentuch kamen die Weiber schimpfend und lärmend hinterdrein. »Haut den Luthrischen die Köpf’ ab!« erscholl es immer näher und deutlicher. Es war, als hätten sie oben gegen die Weißen verloren und suchten jetzt nach einem Opfer für ihre Rache. Halb mit Entsetzen, halb voll Mitleid blickte ich auf den Zug. Ich war Lutheraner; aber nicht die Sorge um meinen Kopf beschäftigte mich. Ein Gefühl, halb Schauder von alle