Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe. Wilhelm Raabe
Zweites Kapitel
handelt von der Berechtigung der Existenz des Städtleins Holzminden und insbesondere von der Berechtigung der Existenz Klaus Eckenbrechers.
Auf dem Rathause der Stadt Holzminden befinden sich wenige Dokumente, Urkunden und Belege über die Stadt selbst und noch weniger oder vielmehr gar keine über den Klaus. Wir haben aber trotz dem Zahn der Zeit und den Zähnen der Ratten und Mäuse durch unermeßlichen, fabelhaften Fleiß und nächtliches Studium mancherlei in Erfahrung gebracht, wofür wir uns den Dank der Gelehrten, welchen wir hier auf diesem Feld den ersten Pfad durch den Urwald bahnten, bei Gelegenheit ausbitten.
Wir beginnen mit der Geschichte der Stadt, sagen, wo sie gelegen ist, was für ein Volk sie bewohnt, und gelangen dadurch endlich auch zu der Vorgeschichte unseres Klaus, der eine »historische Figur« ist und wohl wert, ein wenig aus der Nacht der Vergessenheit ans Licht und unter die Augen und Brillen des deutschen Publikums gehoben zu werden.
Holtesminne oder Holtesmeni oder auch Holtesminnethun hieß bereits zur Zeit Karls des Großen dieser vergessene Erdenfleck. Die erste Benamsung steht auf dem alten Stadtsiegel.
Was Minne ist, weiß ein jeder, oder sollte wenigstens ein jeder wissen, und Holtesminnethun bedeutet ein gar angenehmes, liebliches, minnigliches Ding und Örtchen am Holze – ein Winkelchen im grünen Walde, versteckt zwischen Berg und Tal – ein Eckchen gemacht für ein glückliches weltvergessenes Dasein! Und wahrlich, es ist gar kein übel gewählter Name für das Nestchen!
Der große Wald, der Solling, zieht sich von Osten und Süden gegen die Feldmark der Stadt hinab, und hübschgeformte Berge blicken über die Stifter Corvey und Paderborn herein. Im Westen erheben sich der Ziegenberg und der Brunsberg über der Stadt Höxter, dann folgt der hohe Köterberg, welcher mit dem alten Brocken die zweifelhafte Ehre teilt, ein Lieblingsaufenthalt, Absteigequartier und Tanzplatz des bösen Feindes und des verruchten, schadenfrohen Volkes der Hexen zu sein. Gegen Nordwest bespült die Weser den Fuß der Klippen des Kiekensteins, welcher mit dem Knapp, der Graupenburg, dem Borrberg und dem Eberstein im Nordosten jenen Teil des Oggegaus – pagus Auga – , in welchem die Stadt Holzminden liegt, schließt.
Römische Kohorten sind hier durch den schreckenvollen, geheimnisvollen Urwald gezogen und haben die gebleichten Gebeine vorangegangener Kriegsgenossen unter Schaudern vor den unbekannten Wäldern, Göttern und Menschen bestattet. Sie haben auch versucht, Siegeszeichen hier aufzurichten wie überall; es ist ihnen jedoch nicht gelungen.
Cherusker und Sachsen haben hier gehaust, und letztere hausen hier noch. Die Sachsen hatten auch eine Feste auf dem Brunsberge, einen Ringwall, welchen der große Kaiser Karl mit gewaltiger Heersmacht belagerte und welchen Wittekind »de Heertog« entsetzen wollte, wobei aber ein großer Teil seines Volkes von den Franken in die gelben Fluten der Weser getrieben wurde und elendiglich umkam, die alten Götter anrufend.
Viel könnte ich erzählen von dem Kaiser Ludwig dem Frommen, welcher das Stift Corvey gründete, die Gebeine des heiligen Märtyrers Stephan dahin führte und darauf mit unendlichem Gefolge von Pfaffen und Laien, singend, betend und sich geißelnd, die Reliquien des heiligen Vitus, dessen Bild noch zu sehen ist in der Abteikirche, allwo es steht und den abgeschlagenen Kopf in dem Arm trägt.
Viel könnte ich sagen von den schrecklichen Einfällen und der grausamen Tyrannei der Hunnen, von dem großen Abt Saracho und den berühmten Grafen von Eberstein, deren letzter am Altar der Klosterkirche zu Amelungsborn erschlagen wurde und begraben liegt und denen die Stadt Holzminden vor undenklichen Zeiten zugehörig war. Ich bescheide mich aber und sage nur noch, daß die Grafen den Flecken Holtesminne schon im zwölften Jahrhundert zur Stadt machten und daß die Stadt im grausigen Jahr eintausendvierhundertsiebenundvierzig viel litt, als hier dreißigtausend Hussiten über die Weser gingen, nachdem sie eine blutige, brandschwarze Spur durch das deutsche Land gezogen hatten.
Ich bescheide mich und versetze mich samt meinem großgünstigen Leser sogleich in das Jahr eintausendfünfhundertneunzehn, von welchem Jahre der Vers geht:
»Dusend Fivhundert un Negentein
Ward Dassel leider allto rein.«
Das hat seine Bezüge auf unsern Klaus Eckenbrecher, und läuft der Faden davon also:
Die großen Herren damaliger Zeit, Pfaffen und Laien, faßten sich und ihre Untertanen in ihren Mißhelligkeiten gegenseitig nicht mit Sammethandschuhen an, sondern zerzausten sich und ihnen so oft als möglich weidlich auf eine Art, welche eben nicht die allerchristlichste und gelindeste war, das Fell. So war nun in der berühmten und berüchtigten Hildesheimschen Stiftsfehde der Flecken Dassel am Sollinge, der gut bischöflich war, von den Braunschweigschen übel behandelt und ausgeplündert worden. Als nun im obengemeldeten Jahre des Herrn 1519 die hildesheimschen Herren und Obersten, Bischof Johann, Herzog Heinrich von Lüneburg, Karl von Geldern auf der Soltauerhaide so wacker dreingeschlagen hatten, daß sie nicht nur das Heer der Herzoge Erich und Wilhelm samt dem Zuzug eines ehrbaren Rates der Stadt Braunschweig vollständig zersprengten, sondern auch die beiden feindlichen Kriegsherren selbst gefangennahmen, da gedachten die Einwohner von Dassel sich rächen und ihren Schaden ungestraft gleichmachen zu können. Sie überfielen unversehens die feindlichen Dörfer Vorwohle und Bevern, trieben großen Unfug darin und zogen, nachdem sie ihr Mütlein gekühlt hatten, mit tüchtiger Beute wieder ab. Aber – übel gewonnen, übel zerronnen! – die Sturmglocken riefen die Geschichte bald aus im Lande, und was einen Harnisch, einen rostigen Schild, einen Flamberg, einen Spieß, eine alte Luntenbüchse oder nur eine Mistgabel, einen Dreschflegel, eine Holzaxt aufbieten konnte, war damit bereit und zog unter großem Geschrei aus, den »Pfaffenknechten« ihren Lohn heimzuzahlen und ihnen die Hellebarden, Kraut und Lot zu kosten zu geben.
Zuerst waren die ergrimmten Bürger von Stadtoldendorf, das Volk der Leinweber, auf den Beinen; ihnen folgten die von Holzminden. Die umhersitzenden Edlen und Ritter, gleich den Wespen und Hornissen, die einen Honigtopf wittern, sattelten ebenfalls und zogen mit ihren Hintersassen den Städtern zu.
Nun kam das Unheil den Leuten von Dassel auf die ungekämmten Köpfe!
Unvermutet wurden sie mitten in ihrem Triumphe überfallen. Die Feinde stießen die eben erst wieder aufgebauten Häuser des Fleckens mit Brand an und machten so lustigen Kehraus, daß keine Wurst, keine Speckseite, kein Schinken, kein Huhn, keine Gans und Ente, kein Kuh-und Pferdeschwanz im Orte blieb.
Die Chronisten streiten sich über die Kopfzahl des weggeführten Viehes; aber darin sind sie allesamt einig, daß Johann von Grone, Ritter, allein fünfhundert Malter Getreide ausdreschen und nach Jühnde im Göttingschen führen ließ.
Ausnahmsweise ging aber das Fest ohne viel Verstürzung von Menschenblut ab. Hans Holtegel, ein Bürger von Dassel, wurde im ersten Anlauf erschossen, und einem andern, von dem sogleich die Rede sein wird, ward der Prozeß gemacht. Das war alles, und das war wenig.
Das Rathaus des Fleckens stand in Flammen; Weiber und Kinder schrieen und heulten zwischen den schreienden und heulenden Angreifern; die waffenfähigen Bürger hatten sich in ihrer Not in die Kirche und auf den Turm der Kirche gerettet. Aber auch an dieses heilige Gebäude hielten nun die Sieger in ihrer Wut die Brandfackel und ließen johlend und brüllend von allen Seiten ihre Hakenbüchsen darauf abgehen, bis sie die unglücklichen Eingeschlossenen auf Ehrenwort: ihnen solle nichts an Leib und Leben geschehen – herausgeräuchert hatten.
Halbgebraten krochen die Männer von Dassel hervor, und man hielt ihnen Wort bis auf ein Bruchteil, indem man dem Rädelsführer und Haupthahnen beim übelberatenen Beutezug, Lüdike Leifheit, den Kopf auf der Stelle vor die Füße legte.
In diesen Wirrwarr versetzen wir uns nun.
Noch brannte es lichterloh rings um die Kirche: die Schafe, Rinder, Kühe, Ochsen blökten, die Schweine quiekten, die Pferde wieherten, die Menschen jammerten und jubelten.
Um die Beute und die Gefangenen tanzten die betrunkenen