Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер

Gesammelte Werke von Gottfried Keller - Готфрид Келлер


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die Bilder und Kartons ringsherum zurück, zusammen, drängte sie auf einen Haufen an die Wand, bis das große Zimmer leer und geräumig erschien. Wie einen guten tröstenden Freund entdeckte er da die Gipsfigur des borghesischen Fechters, welche aus ihrem Winkel zutage trat. Unwillkürlich hob er sie empor und setzte sie auf ein Tischchen mitten in das hereinströmende Licht.

      Alles war Leben in dem von Sonne, Wind und Wetter gereiften Körper dieses abgehärteten Kriegers, der mit ehrlichem Fleiße sich seiner Haut wehrte. Den feindlichen Angriff abwehrend und zugleich selbst kraftvoll angreifend, war der ganze Mann mit allen Gliedern in der Anregung dieses Doppelzweckes gespannt; Verteidigung und Ausfall, Selbsterhaltung und Wirkung nach außen, Zusammenziehen und Ausdehnung vereinigten sich in einem Momente, in welchem das schönste Spiel der Muskeln darstellte, wie das Leben recht eigentlich durch sich selbst um sich selber kämpfte in dieser munteren Menschenkrabbe.

      Trotz des bröckligen beschmutzten Gipses ging ein Licht von dem rüstigen, tapfern Bilde aus, welches erhellend in Heinrichs Augen fiel. Er hatte sonderbarerweise noch nie einen ernstlichen Versuch zur kundigen Nachahmung der menschlichen Gestalt gemacht und gerade seit seinem Aufenthalte in der Kunstresidenz, wo Mittel und Aufforderung genug im größten Maßstabe sich aufdrängten, sich eigensinnig davon zurückgehalten, in der willkürlich bescheidenen Einbildung, daß Beruf und Bestimmung die ausschließliche Ausbildung des einmal gewählten Zweiges erforderten. Nicht nur verkannte er das Gesetz, daß, je weiter und mannigfaltiger die Kunde verwandter Gegenstände ist, desto freier und vollkommener ein Auserwähltes betrieben werde, sondern es verbarg sich in jener Bescheidenheit auch die Anmaßung, schließlich in dem einen Fache so glänzen zu wollen, daß alle andere Kenntnis entbehrlich erschiene. Nicht sowohl in der Erkenntnis dieses Irrtums als mehr, um sich irgend Luft zu verschaffen, spitzte er rasch eine schlanke Reißkohle scharf zu, stemmte einen Blendrahmen, mit frischem Papier bezogen, gegen die Knie und begann aufmerksam und aufgeregt den Fechter zu zeichnen. Obschon er nicht die mindeste Kenntnis von dem besaß, was unter der Haut wirkte und sich darstellte, und kaum eine zufällige Ahnung vorn Knochengerüste hatte, ging es doch in der ersten Anspannung und Hitze ganz gut vonstatten, und er freute sich sogar, die Dinge zu nehmen, wie er sie unmittelbar sah, und mit natürlichem Scharfblicke sich zurechtzufinden.

      Er zeichnete anhaltend mehrere Stunden und brachte nicht eine elegante Studie, sondern eine Arbeit zustande, welche ihn unvermuteterweise wenigstens nicht abschreckte. Aber je länger er zeichnete, desto wunderlicher erging es ihm; die Phantasie eilte, indem die Kohle in der Hand rüstig arbeitete, mächtig voraus und sah sich bereits weit vorgeschritten in der Behandlung und Verwendung der menschlichen Gestalt. Und wie in der fieberischen Aufregung die Glieder des Fechters sich verhältnismäßig leicht gestalteten und die kraftvollen Muskelwölbungen sich reihten, deren Namen und Bedeutung er nicht kannte, flog die Phantasie in die Vergangenheit zurück, und Heinrich erinnerte sich plötzlich, wie frühere und früheste Versuche in Figuren, in der Heimat aus Scherz oder Laune unternommen, ihn eigentlich nicht ein Jota mehr Mühe gekostet als andere Dinge; er malte sich die Erinnerung, die Gegenstände und Anlässe auf das genaueste aus und glaubte deutlich zu sehen, wie nur der Mangel an Pflege und Fortsetzung schuld sei, warum er nicht in diesem Gebiete ebensoviel und vielleicht Besseres leistete als in der erwählten Landschaft. Mit einem Worte, mit einem seltsamen Frösteln Überzeugte er sich, aufspringend und die Tafel von sich schleudernd, daß seine geliebte und begeisterte Wahl, der er vom vierzehnten Jahre an bis heute gelebt, nicht viel mehr als ein Zufall, eine durch zufällige Umstände bedingte Ideenverbindung gewesen sei.

      Jünglinge von zwei- oder dreiundzwanzig Jahren wissen noch nicht, daß jedes Leben seinen eigenen Mann macht, und haben noch keine Trostgründe für Jahre, welche sie verloren wähnen. Wenn sie schon bei acht Jahre zurückzählen können, die sie über einer Lebenstätigkeit zugebracht, so befällt sie eine Art heiligen Grauens, selbst wenn diese Jahre wohl angewandt sind. Sie vertändeln, verträumen die Stunden und Tage, aber sie hegen einen tiefen Respekt vor den Jahren, tun sich auf ihre Jugend soviel als möglich zu gut und stecken sich unaufhörlich feste Ziele, welche sie in so oder so viel Jahren erreichen wollen.

      Um so verdutzter und bitterlicher lächelte Heinrich jetzt vor sich hin. Er ergriff in der Verwirrung seine alte Flöte, tat einige seiner naturwüchsigen selbsterfundenen Läufe darauf und warf sie wieder weg. Der Ärmste ahnte aber nicht einmal, was die verklungenen Töne gesungen hatten und daß, wenn zufällig ein Klavier in seinem elterlichen Hause gestanden und er etwa als Kind einen Musikkundigen in der Nähe gehabt hätte, es sich vielleicht jetzt gar nicht einmal um Bäume oder Menschen handeln, sondern er irgendwo als eingeübter Musikant oder gar als hoffnungsvoller Komponist existieren würde, der auf seinen selbstgewählten Beruf schwüre, ohne auf einem festern Grunde zu stehen, kurz, daß ihn der Zufall auf hundert andere vermeintliche Bestimmungen hätte führen können.

       Inhaltsverzeichnis

      Mehr um für seine verwirrten Gedanken ein Unterkommen zu finden als aus einem festen Entschlusse drehte nun Heinrich den Fechter herum und zeichnete denselben während mehrerer Tage von verschiedenen Seiten. Sobald aber das erste instinktive Geschick und Feuer sich abgekühlt, drängte es ihn, die Erscheinungen, welche sich auf dieser bewegten Oberfläche zeigten, in ihrem Grund und Wesen näher zu kennen. In der Meinung, keine Zeit mehr zu verlieren, ging er vor allem aus, eine genauere Kunde vom menschlichen Körper zu erwerben, und suchte zu diesem Zwecke einige junge Mediziner auf, die er als Landsleute kennengelernt und zuweilen gesehen hatte. Sie zeigten ihm bereitwillig ihre anatomischen Atlanten, erklärten aus ihrem Wissen heraus, was ihnen gut dünkte, und führten ihn in die öffentlichen Sammlungen, wohl auch durch die Säle, wo ein blühendes Geschlecht von Jünglingen, geleitet von gewandten Männern, mit vergnügtem Eifer einen Vorrat von Leichen zerlegte.

      Als Heinrich erstaunte, so viele begeisterte Leute zu sehen, welche ein und denselben Gegenstand in allseitigster Bestrebung hin und her wandten und sich der bloßen Erkenntnis freuten, ohne etwas dazu- noch davonzutun, noch die mindeste Erfindungslust zu besitzen, als er noch mehr erstaunte über die reiche Welt selbst, welche sich bei näherer Einsicht an diesem einzigen Gegenstande selbst auftat, mit weiten unerforschten Gebieten, Vermutungen, Hoffnungen, welche so voll und wichtig klangen wie diejenigen, welche die Vorgänge des Weltraumes, des gestirnten Himmels zum Gegenstande hatten; als er endlich nicht wußte, wie er sich zu all diesem verhalten sollte, riet ihm ein junger Doktor, eine berühmte Vorlesung über Anthropologie zu besuchen, welche eben in diesen Tagen ihren Anfang nahm. Der kluge junge Mann wußte wohl, daß dergleichen allgemeine, einleitende Lehren am besten geeignet wären, die erste verzeihliche Neugierde zu stillen, den Nichtberufenen aber gerade dadurch abhielten, sich dann ferner da zwecklos umherzutreiben, wo er nicht hingehörte.

      So trat Heinrich zum ersten Male in das weitläufige, palastartige Universitätsgebäude und sah sich unter die summende Menge junger Leute verwickelt, welche aus allen Sälen strömte und auf den Gängen und Treppen sich kreuzte. Heinrich mußte alle diese jungen Männer als seit zartester Jugend der Schule angehörend sich denken, unter dem doppelten Schutze des Staates und der Familie ununterbrochen lernend ins männliche Alter und in die Selbständigkeit hinüberreifend, und zwar so, daß mit der letzten Prüfung zugleich der sichere Eintritt in das bürgerliche Leben verbunden war. Sie bildeten gewissermaßen die Staatsjugend, gegenüber welcher er sich als obskuren Gegenstand, als Stoff des Staates fühlte, besonders da sein heimatliches demokratisches Bewußtsein hier zurücktrat vor der allgemeinen Kluft, welche durch alle europäische Erziehung sich ausdehnt. Diese durcheinanderwogenden Jünglinge erschienen ihm auf den ersten Blick rücksichtslos und selbstgefällig, und in Erwartung von Amt und Würden, welche sie zu verhöhnen vorgaben, einstweilen ihren Entwicklungszustand zu einer Art souveräner Autorität machend, von welcher aus alles sich bemessen und verachten ließe; ja innerhalb derselben schien es noch verschiedene Kasten, Stufen und Abzeichen zu geben, als reichliche Gelegenheit, schon hier, unter dem Deckmantel der akademischen Freiheit, den Korporalsstab der Autorität tüchtig zu schwingen, und mancher jugendliche Führer sah schon leibhaftig aus wie ein Rekruten quälender Korporal.

      Doch diese Eindrücke wechselten rasch mit anderen, als Heinrich in den bezeichneten


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