Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
ihm das Gefühl, als verwirkliche sich jener ängstliche Traum aller Autodidakten, welche sich im Mannesalter, ja mit grauen Haaren in die Schulstube versetzt sehen, mitten unter ein Geschlecht mutwilliger Knaben, den alten strengen Lehrer vor sich, der sie beschämt und um ganze Reihen von blühenden Buben hinunterrücken läßt. Er fürchtete sich, aufgefordert zu werden, aufzustehen und Rechenschaft zu geben von allem, was er nicht gelernt habe.
Nun füllte sich aber allmählich der Saal, und voll Verwunderung änderte sich Heinrichs Stimmung wieder, als er die gedrängte Versammlung übersah. Neben einer Menge junger Leute seines Alters, welche höchst selbständig und rücksichtslos ihre Plätze einnahmen und behaupteten, erschienen viele vorgerückteren Alters, gut oder schlecht gekleidet, welche schon stiller und bescheidener unterzukommen suchten, und sogar einige alte Herren mit weißem Haar, selbst rühmliche Lehrer in anderen Gebieten, nahmen entlegene Seitenplätze ein, um dort zu sehen, was es noch für sie zu lernen gäbe. So mochten über hundert Zuhörer versammelt sein, welche des Vortragenden harrten, jeder mit anderer Empfänglichkeit, anderen Absichten und anderen Erfahrungen, so daß eigentlich jeder im wahren Sinne des Wortes hier ein Autodidakt war, das heißt ein solcher, der sich am Ende selbst zu dem macht, was er ist und wird. Dies wurde in der Tat augenscheinlich, als der berühmte Mann endlich in die Tür trat, sich das Haar zurechtstrich, rasch und anständig nach seinem Känzelchen eilte und dort mit achtungsvoller Anrede seinen Vortrag begann nicht wie einer, der streng und trocken lehren will, sondern wie ein Künstler, welcher durch Artigkeit, Wahl der Worte, Verbindung der Gedanken, durch Geist und Witz sich hervortun möchte und sichtlich bestrebt ist, sich den Beifall auch der geringsten seiner Zuhörer zu erwerben. Aus der leichten Anordnung und dem rednerischen fließenden Vortrage des Gegenstandes, ohne alle geschriebene Vorlage, machten sich nicht im mindesten die mühseligen Studien und die gewissenhaft sorgfältigen Arbeiten fühlbar, welche sie gekostet hatten; die schnell vorübergehende anschauliche Rede schien mehr eine Anregung und Aufforderung zu eigener Belehrung als eine feststehende unveränderliche Lehre zu sein, bei jedem wieder anders wirkend und sein unmittelbares Selbsturteil erweckend. Der gleiche Gegenstand führte den einen sofort und vielleicht für immer zu philosophischem Denken, den andern zu umfassender Naturbetrachtung, den dritten zur besonderen Erforschung des menschlichen Körpers oder zur Heilkunst; der vierte endlich, durch die Darstellung des Nahrungsprozesses, verfiel gar auf nationalökonomische Studien und wurde vielleicht ein großer Politikus, während der fünfte, sechste und siebente die gleichen Dinge nur anhörten und niederschrieben, um sie in einem halben Jahre gänzlich zu vergessen und später als große Theologen, Seelenkundige und Sittenlehrer von Fleischeslust, Herzensverstocktheit, Augen- und Ohrendienst zu reden, ohne eine klare Vorstellung von den betreffenden Organen zu besitzen.
Auf Heinrich, welcher arglos gekommen war, zu äußerer plastischer Verwendung einige gute Kenntnisse zu holen, wirkte schon die erste Stunde so, daß er sowohl seinen Zweck als alle seine Verhältnisse vergaß und allein gespannt war auf die zuströmende Erfahrung. Hauptsächlich beschäftigte ihn alsobald die wunderbar scheinende Zweckmäßigkeit in den Einzelheiten des tierischen Organismus; jede neue Tatsache schien ihm ein Beweis zu sein von der Scharfsinnigkeit und Geschicklichkeit Gottes, und obgleich er sich sein Leben lang die ganze Welt nur als vorgedacht und geschaffen vorgestellt hatte, so war es ihm nun bei diesem ersten Einblicke zu Mut, als ob er bisher eigentlich gar nichts gewußt hätte von der Erschaffung der Kreatur, dagegen jetzt mit der lebendigsten Überzeugung wider jedermann das Dasein und die Weisheit des Schöpfers behaupten könne und wolle. Aber nachdem der kluge Lehrer die Trefllichkeit und Unentbehrlichkeit der Dinge auf das schönste geschildert, ließ er sie unvermerkt in sich selbst ruhen und so vollkommen ineinander aufgehen, daß die ausschweifenden Schöpfergedanken ebenso unvermerkt zurückkehrten und in den geschlossenen Kreis der Tatsachen gebannt blieben, welcher jener Schlange der Ewigkeit gleicht, die sich selbst in den Schwanz beißt. Und wo ein Teil noch unerklärlich war und dunkel ins Fabelhafte verschwand, da holte der Redner ein helles Licht aus dem Erklärten und ließ es in jene Dunkelheit glänzen, so daß wenigstens alle unbescheidenen und ungehörigen Seitengedanken vertrieben wurden und der dunkle Gegenstand unberührt und jungfräulich seiner Zeit harrte, wie eine ferne Küste im Frühlichte. Selbst da, wo er entsagen zu müssen glaubte auf eine jemalige Erkenntnis, tat er dies mit der überzeugenden Hinweisung, daß doch alles mit rechten Dingen zuginge und in der Grenze des menschlichen Wahrnehmungsvermögens keineswegs eine Grenze der Folgerichtigkeit und Einheit der Natur läge. Hiebei brauchte er keinerlei gewaltsame Reden und vermied gewisse theologische Ausdrücke so gut wie den Widerspruch dagegen; die Stumpfsinnigen und Eingenommenen merkten auch von allem nichts und schrieben unverdrossen nieder, was ihnen zweckdienlich schien für Eigenliebe und aufzustellende Meinungen, während die Unbefangenen alle Hintergedanken fahrenließen und bei des Lehrers klugen Wendungen mit frohem Lächeln die Achtung vor dem reinen Wissen lernten.
Auch im zuhörenden Heinrich traten die willkürlichen Voraussetzungen und Anwendungen bald in den Hintergrund, ohne daß er wußte, wie ihm geschah, als er sich den Einwirkungen der einfachen Tatsachen hingab; denn das Suchen nach Wahrheit ist immer ohne Arg, unverfänglich und schuldlos; nur in dem Augenblicke, wo es aufhört, fängt die Lüge an bei Christ und Heide. Er versäumte nun keine Stunde in dem Hörsaal und nahm begierig ein neues Ganzes in sich auf, welches er vom Anfang bis zum Ende verstand und übersehen konnte. Wie ein Alp fiel es ihm vom Herzen, daß er nun doch noch etwas zu wissen anfing; im gleichen Augenblicke bereute er auch nicht mehr die gewaltsame und lange Unterbrechung des Lernens, da dasselbe dem Stillen des leiblichen Hungers gleicht sobald der Mensch zu essen hat, empfindet er nichts mehr von der Pein und der Ungeduld des Hungers. Das Glück des Wissens gehört auch dadurch zum wahren Glücke, daß es einfach und rückhaltlos und, ob es früh oder spät eintrete, immer ganz das ist, was es sein kann, ohne Reue über das Versäumte zu erwecken; es weiset vorwärts und nicht zurück und läßt über dem unabänderlichen Bestand und Leben des Gesetzes die eigene Vergänglichkeit vergessen.
Heinrich wurde von Wohlwollen und Liebe erfüllt gegen den beredten Lehrer, von dem er nicht gekannt war und mit welchem er nicht ein Wort gesprochen hatte; denn es ist nicht eine schlimme Eigenschaft des Menschen, daß er für geistige Wohltaten dankbarer ist als für leibliche, und sogar in dem erhöhten Maße, daß die Dankbarkeit und Anhänglichkeit wächst, je weniger selbst die geistige Wohltat irgendeinem unmittelbaren äußerlichen Nutzen Vorschub zu leisten scheint. Nur wenn leibliches Wohltun so hingebend und unwandelbar ist, daß es Zeugnis gibt von einer moralischen Kraft, also dem Empfänger wiederum zu einer geistigen Erfahrung und Wohltat, zu einem innern Halt- und Stützpunkte wird, erreicht seine Dankbarkeit eine schönere Höhe, welche ihn selber bildet und veredelt. Die Erfahrung, daß unbedingte Tugend und Güte irgendwo sind, ist ja die schönste, die man machen kann, und selbst die Seele des Lasterhaften reibt sich vor Vergnügen ihre unsichtbaren dunklen Hände, wenn sie sich überzeugt, daß andere für sie gut und tugendhaft sind.
Mit dem praktischen Sinne und dem raschen Aneignungsvermögen des Autodidakten fand sich Heinrich zurecht in der reichen Welt, die sich ihm auftat; mit der plastischen Anschauungsweise, welche er als Künstler mitbrachte, wußte er die verschiedenen Momente des organischen Wesens lebendig aufzufassen, auseinanderzuhalten, wieder zu verbinden und sich deutlich einzuprägen und so die Kunde von dem, woraus er eigentlich bestand, wodurch er atmete und lebte, in dem edelsten Teile desselben selbst aufzubewahren und mit sich herumzutragen, ein Vorgang, dessen Natürlichkeit jetzt endlich wohl so einleuchtend werden dürfte, daß er zum Gegenstande allgemeinster Erziehung gemacht wird. Mit dieser Kenntnis, auf welche der Mensch das erste Anrecht hat, müßten alle Volksschulen abschließen; sie ist es, welche alle anderen von selbst anzieht, und in notwendigster Weise sehr zweckmäßig gerade je nach Beschaffenheit des lernenden jungen Menschen. Alle Einwürfe und Altklugheit, Halbverständnis oder gar von Verbreitung einer allgemeinen Hypochondrie in das unbefangene Volksgemüt werden verstummen, sobald die klassische Form für den großen öffentlichen Unterricht vom leiblichen Menschen gefunden ist.
Die Kenntnis vom Charakteristischen und Wesentlichen der Dinge läßt diejenige vom letzten Grunde einstweilen eher vermissen oder führt wenigstens auf den Weg, denselben auf eine vernünftigere und mildere Weise zu suchen, während sie zugleich alle unnützen, müßigen Märchen und Vorurteile hinwegräumt und dem Menschen einen schönen, wirklichen Stoff und Halt zum Nachdenken gibt, ein Nachdenken, welches dann zu dem einzig möglichen