Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
morgen … kche-kche-kche! noch weiter auf!« rief sie unter heftigen Hustenanfällen.) »Damals war der Kammerjunker Fürst Schtschegolskoi eben aus Petersburg angekommen; er tanzte mit mir eine Masurka und wollte am andern Tage zu uns kommen und um meine Hand anhalten; aber ich dankte ihm in den verbindlichsten Ausdrücken und sagte, daß mein Herz bereits einem andern gehöre. Dieser andere war dein Vater, Polenjka; mein Papa wurde furchtbar zornig … Ist das Wasser bereit? Nun, dann gib das Hemd her; und wo sind die Strümpfe? … Lida«, wandte sie sich an die jüngste Tochter, »du kannst diese Nacht einmal ohne Hemd schlafen, das geht schon, … und lege deine Strümpfe daneben, … ich will gleich alles zusammen waschen … Warum bloß dieser Lumpenkerl nicht nach Hause kommt, der Trunkenbold! Sein Hemd trägt er schon so lange, daß es aussieht wie ein Topflappen, und zerrissen ist es auch ganz … Ich könnte es jetzt alles zusammen waschen, damit ich mich nicht zwei Nächte hintereinander zu quälen brauche! O Gott! Kche-kche-kche-kche! Schon wieder! Was ist das?« rief sie, als sie die vielen Menschen auf dem Flur sah und die Männer, die sich mit irgendeiner Last ins Zimmer hineindrängten. »Was ist das? Was bringen die da? O Gott!«
»Wo sollen wir ihn hier hinlegen?« fragte einer der Polizisten, nachdem der blutbefleckte, besinnungslose Marmeladow ins Zimmer gebracht war, und sah sich nach allen Seiten um.
»Auf das Sofa! Legt ihn nur aufs Sofa, mit dem Kopfe hierher!« wies Raskolnikow die Träger an.
»Er ist auf der Straße überfahren worden! Er war betrunken!« rief jemand vom Flur her.
Katerina Iwanowna stand ganz bleich da und atmete nur mühsam. Die Kinder waren heftig erschrocken. Die kleine Lida schrie auf, stürzte zu Polenjka hin, schlang die Arme um sie und zitterte am ganzen Leibe. Nachdem unter seiner Leitung Marmeladow auf das Sofa gelegt worden war, trat Raskolnikow schnell auf Katerina Iwanowna zu.
»Ich bitte Sie dringend, beruhigen Sie sich, erschrecken Sie nicht!« sagte er hastig. »Als er die Straße überschritt, hat ihn eine Kutsche überfahren; beunruhigen Sie sich nicht; er wird ja wieder zu sich kommen; ich habe veranlaßt, daß er hierhergebracht wurde, … ich bin schon einmal bei Ihnen gewesen; Sie erinnern sich vielleicht … Er wird ja wieder zu sich kommen; ich werde alles bezahlen!«
»Dahin hat er es nun gebracht!« schrie Katerina Iwanowna und stürzte zu ihrem Manne hin.
Raskolnikow merkte bald, daß diese Frau nicht zu denen gehörte, die gleich in Ohnmacht fallen. Im nächsten Augenblick lag unter dem Kopfe des Unglücklichen ein Kissen, woran noch niemand gedacht hatte. Katerina Iwanowna begann ihm die Kleider auszuziehen, untersuchte ihn, war eifrig um ihn beschäftigt und verlor nicht den Kopf; an sich selbst dachte sie mit keinem Gedanken mehr, biß sich auf die zitternden Lippen und unterdrückte das Wehgeschrei, das sich ihrer Brust entringen wollte.
Raskolnikow hatte unterdessen jemand beauftragt, schnell einen Arzt zu holen. Einige der Anwesenden wußten, daß ein solcher im Nachbarhause wohnte.
»Ich habe nach einem Arzte geschickt«, sagte er wieder zu Katerina Iwanowna. »Beunruhigen Sie sich darüber nicht; ich werde alles bezahlen. Haben Sie kein Wasser hier? … Und geben Sie mir auch eine Serviette, ein Handtuch oder so etwas, recht schnell; es ist noch nicht recht zu sehen, von welcher Art seine Verletzung ist … Es handelt sich nur um eine Verletzung; tot ist er nicht; dessen können Sie ganz sicher sein … Wir wollen mal hören, was der Arzt sagt!«
Katerina Iwanowna lief zum Fenster. Dort stand in einer Ecke auf einem durchgesessenen Stuhl eine große irdene Schüssel mit Wasser, in der sie die Wäsche der Kinder und ihres Mannes in der Nacht hatte waschen wollen. Diese nächtliche Wäsche bewerkstelligte Katerina Iwanowna immer eigenhändig, mindestens zweimal in der Woche, mitunter auch öfter; denn sie waren so weit heruntergekommen, daß sie Wäsche zum Wechseln so gut wie gar nicht mehr hatten, sondern jedes Familienmitglied fast nur ein einziges Exemplar von jeder Art besaß. Unreinlichkeit konnte Katerina Iwanowna aber nicht ertragen; ehe sie Schmutz im Hause geduldet hätte, quälte sie sich lieber bei Nacht, wenn alle schliefen, über ihre Kräfte hinaus ab, damit am Morgen die nasse Wäsche an einer Leine getrocknet war und die Ihrigen etwas Reines zum Anziehen hatten. Sie ergriff die Schüssel, um sie auf Raskolnikows Wunsch ihm hinzubringen, wäre aber beinahe mit ihr hingefallen. Raskolnikow hatte bereits ein Handtuch gefunden, tauchte es nun ins Wasser und wusch dem Verunglückten das von Blut überströmte Gesicht. Katerina Iwanowna stand dabei; das Atmen machte ihr Schmerzen, und sie drückte die Hände gegen ihre Brust. Sie bedurfte selbst der Hilfe. Raskolnikow begann einzusehen, daß er vielleicht nicht gut daran getan hatte, den Verunglückten hierherschaffen zu lassen. Auch der Schutzmann stand ratlos da.
»Polenjka«, rief Katerina Iwanowna. »Lauf zu Sonja, schnell. Wenn du sie nicht zu Hause triffst, so bestelle jedenfalls, daß der Vater überfahren ist und daß sie gleich herkommen soll, … sowie sie nach Hause kommt. Schnell, Polenjka! Hier, binde dir das Tuch um!«
»Lauf, was du kannst!« rief auf einmal der Knabe von seinem Stuhle. Nachdem er das gesagt hatte, versank er wieder in sein früheres Schweigen und nahm wieder seine gerade Haltung auf dem Stuhle ein, die Augen weit geöffnet, die Fersen nach vorn, die Fußspitzen auseinander.
Unterdessen hatte sich das Zimmer so angefüllt, daß kein Apfel zur Erde konnte. Die Polizisten waren weggegangen bis auf einen, der vorläufig noch dageblieben war und sich bemühte, das Publikum, das von der Treppe her eingedrungen war, wieder auf die Treppe hinauszutreiben. Dafür strömten aus den inneren Zimmern fast alle Mieter der Frau Lippewechsel herein; anfangs drängten sie sich nur an der Türe herum, aber dann ergossen sie sich in dichtem Schwarm in das Zimmer. Katerina Iwanowna geriet darüber in Zorn.
»So laßt ihn doch wenigstens ruhig sterben!« schrie sie den Haufen an. »Das ist wohl ein Schauspiel für euch! Die Zigaretten im Munde! Kche-kche-kche! Es fehlt bloß noch, daß ihr mit den Hüten auf dem Kopfe hereinkommt! … Da hat ja auch einer den Hut auf! … Habt doch wenigstens vor einem Sterbenden Achtung!«
Der Husten erstickte sie fast; aber die Scheltrede half. Die Mieter hatten offenbar vor Katerina Iwanowna einigermaßen Furcht; einer nach dem andern, drängten sie sich wieder zur Tür zurück mit jenem eigentümlichen Gefühle innerer Befriedigung, das stets, selbst bei den Nächststehenden, rege wird, sobald einem andern ein plötzliches Unglück zustößt, und von dem trotz des aufrichtigsten Mitleides und Bedauerns doch schlechterdings niemand frei ist.
Durch die Tür hörte man jedoch Stimmen, die vom Krankenhause sprachen und daß es nicht in der Ordnung sei, die Mitbewohner ohne Not zu stören.
»Es ist wohl nicht in der Ordnung, daß jemand stirbt?« rief Katerina Iwanowna und lief schon zur Tür, um sie aufzureißen und ihnen eine zornige Strafrede zu halten; aber in der Tür stieß sie mit Frau Lippewechsel selbst zusammen, die eben erst von dem Unglück gehört hatte und nun angelaufen kam, um nach dem Rechten zu sehen. Sie war eine ganz alberne, verdrehte Deutsche.
»Ach, mein Gott!« rief sie und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. »Ihr Mann betrunken ein Pferd getreten. Ihn ins Krankenhaus! Ich bin die Wirtin!«
»Amalia Ludwigowna! Ich bitte Sie, zu überlegen, was Sie reden«, begann Katerina Iwanowna hochmütig (mit der Wirtin sprach sie immer in hochmütigem Tone, damit diese »sich ihrer Stellung bewußt bliebe«, und selbst jetzt konnte sie sich dieses Vergnügen nicht versagen), »Amalia Ludwigowna …«
»Ich Ihnen habe gesagt einmal für immer, daß Sie niemals wagen, mir zu sagen Amalia Ludwigowna; ich heiße Amalia Iwanowna.«
»Sie heißen nicht Amalia Iwanowna, sondern Amalia Ludwigowna, und da ich nicht zu Ihren gemeinen Schmeichlern gehöre wie Herr Lebesjatnikow, der jetzt hinter der Tür lacht« (wirklich war durch die Tür Gelächter zu hören und der Ausruf: ›Sie sind wieder mal aneinandergeraten!‹), »so werde ich Sie immer Amalia Ludwigowna nennen, obgleich ich absolut nicht begreifen kann, warum Ihnen dieser Name nicht gefällt. Sie sehen selbst, was Semjon Sacharowitsch zugestoßen ist; er liegt im Sterben. Ich bitte Sie, diese Tür sofort zuzuschließen und niemand hier hereinzulassen. Lassen Sie ihn wenigstens ruhig sterben! Sonst können Sie ganz sicher sein, daß schon morgen der Generalgouverneur selbst es zu hören bekommt, wie Sie sich benommen haben. Der Fürst kennt mich noch von der Zeit her, als ich noch unverheiratet war, und erinnert sich auch sehr gut an Semjon Sacharowitsch,