Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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seiner unglücklichen Schwäche zurückgezogen hatte; aber jetzt« (sie wies auf Raskolnikow) »ist uns ein hochherziger junger Mann behilflich, der über große Mittel und Konnexionen verfügt und den Semjon Sacharowitsch schon als Knaben gekannt hat, und seien Sie versichert, Amalia Ludwigowna …«

      Alles dies sprudelte sie mit großer Geschwindigkeit hervor, die sich im Laufe der Rede immer mehr steigerte; aber der Husten setzte auf einmal dem Redestrom ein Ende. In diesem Augenblicke kam der Sterbende zur Besinnung und stöhnte; Katerina Iwanowna lief zu ihm hin. Der Kranke öffnete die Augen und blickte, noch ohne jemand zu erkennen oder etwas zu verstehen, Raskolnikow an, der neben ihm stand und sich über ihn beugte. Er atmete schwer, in tiefen, einzelnen Stößen; an den Rändern der zusammengepreßten Lippen trat Blut hervor; die Stirn war mit Schweiß bedeckt. Da er Raskolnikow nicht erkannte, begann er unruhig mit den Augen zu suchen. Katerina Iwanowna sah ihn mit trauriger, aber strenger Miene an; die Tränen rannen ihr aus den Augen.

      »O Gott, die ganze Brust ist ihm eingedrückt! Und das Blut, das Blut!« sagte sie verzweiflungsvoll. »Wir müssen ihm den Oberkörper vollständig entkleiden! Dreh dich ein bißchen um, Semjon Sacharowitsch, wenn du das kannst!« rief sie ihm zu.

      Marmeladow erkannte sie.

      »Einen Priester!« sagte er mit heiserer Stimme.

      Katerina Iwanowna trat ans Fenster, lehnte sich mit der Stirn gegen den Fensterrahmen und rief verzweifelt:

      »Oh, dieses elende Leben!«

      »Einen Priester!« sagte der Sterbende nach einer kurzen Pause noch einmal.

      »Der wird schon geholt!« schrie ihn Katerina Iwanowna an. Verschüchtert durch den strengen Ton schwieg er. Mit zaghaftem, traurigem Blick suchte er sie; sie kehrte wieder zu ihm zurück und trat an das Kopfende. Er beruhigte sich ein wenig, jedoch nicht für lange.

      Seine Augen blieben bald auf der kleinen Lida, seinem Lieblinge, haften, die in einer Ecke stand, wie im Fieber zitterte und ihn mit ihren erstaunt starrenden Kinderaugen ansah.

      »Ach … ach …«, sagte er und zeigte beunruhigt auf sie hin. Er wollte etwas sagen.

      »Was willst du denn nun noch?« rief Katerina Iwanowna.

      »Barfuß! Barfuß!« murmelte er und deutete mit halbirrem Blick auf die nackten Füße des kleinen Mädchens.

      »Schweig du nur!« rief Katerina Iwanowna in gereiztem Tone. »Du weißt selbst, warum sie barfuß ist.«

      »Gott sei Dank, da ist der Arzt!« rief Raskolnikow erfreut.

      Der Arzt trat ein, ein schon älterer Mann, sorgfältig gekleidet, ein Deutscher; er sah sich mit mißtrauischer Miene nach allen Seiten um, dann trat er zu dem Kranken, fühlte den Puls, betastete aufmerksam den Kopf, knöpfte mit Katerina Iwanownas Hilfe das ganz von Blut durchtränkte Hemd auf und entblößte die Brust des Kranken. Die ganze Brust war zerdrückt, zusammengequetscht und zerfleischt; auf der rechten Seite waren mehrere Rippen gebrochen. Auf der linken Seite, gerade über dem Herzen, war ein entsetzlich aussehender, großer schwarzgelber Fleck, der von einem furchtbaren Hufschlage herrührte. Der Arzt machte ein sehr ernstes Gesicht. Der Polizist erzählte ihm, daß der Überfahrene von einem Rade erfaßt und bei dessen Umdrehungen etwa dreißig Schritte auf dem Pflaster fortgeschleift worden sei.

      »Ein Wunder, daß er überhaupt wieder zu sich gekommen ist«, flüsterte der Arzt leise Raskolnikow zu.

      »Wie denken Sie über ihn?«

      »Er wird gleich sterben.«

      »Ist denn gar keine Hoffnung mehr?«

      »Nicht die geringste. Er liegt in den letzten Zügen … Außerdem ist der Kopf gefährlich verwundet … Hm … Vielleicht könnte man noch einen Aderlaß vornehmen, … aber … helfen wird das auch nicht. In fünf bis zehn Minuten stirbt er sicher.«

      »Lassen Sie ihn lieber doch noch zur Ader!«

      »Meinetwegen … Aber ich sage Ihnen vorher, daß es völlig nutzlos ist.«

      Abermals wurden Schritte vernehmbar; die Menge auf dem Flur teilte sich, und auf der Schwelle erschien ein Geistlicher, ein grauhaariger Mann, mit dem Sakrament. Einer von den Polizisten hatte ihn geholt, noch ehe der Verunglückte hinaufgebracht worden war. Der Arzt trat ihm sofort seinen Platz ab und wechselte mit ihm einen vielsagenden Blick. Raskolnikow bat den Arzt, noch ein wenig dazubleiben. Der zuckte die Achseln und blieb.

      Alle traten zurück. Die Beichte dauerte nicht lange. Der Sterbende nahm nichts mehr richtig auf; er konnte nur abgebrochene, undeutliche Laute hervorbringen. Katerina Iwanowna faßte Lida bei der Hand, hob den Knaben vom Stuhle, ging in die Ecke beim Ofen und fiel auf die Knie; auch die Kinder ließ sie vor sich niederknien. Das kleine Mädchen zitterte nur; der Knabe aber, auf den nackten Knien liegend, hob langsam und bedächtig die Hand in die Höhe, bekreuzigte sich ganz ordnungsgemäß und verbeugte sich bis zum Boden, wobei er mit der Stirn an die Diele schlug, was ihm anscheinend ein besonderes Vergnügen machte. Katerina Iwanowna biß sich auf die Lippen und hielt die Tränen zurück; sie betete gleichfalls; von Zeit zu Zeit zog sie dem Knaben das Hemd zurecht; dem kleinen Mädchen warf sie über die allzusehr entblößten Schultern ein Halstuch, das sie, ohne sich von den Knien zu erheben und ihr Gebet zu unterbrechen, aus der Kommode genommen hatte. Unterdessen wurde die nach den inneren Zimmern führende Tür wieder von Neugierigen geöffnet. Auch auf dem Flur drängten sich die Zuschauer in immer dichterer Menge, ohne jedoch die Schwelle des Zimmers zu überschreiten; es waren Mieter aus allen Etagen des Hauses. Nur ein einziges Lichtstümpfchen beleuchtete die ganze Szene.

      In diesem Augenblicke drängte sich vom Flur her Polenjka, die zur Schwester gelaufen war, um diese zu holen, eilig durch die Menge hindurch. Als sie eintrat, war sie vom schnellen Laufen ganz außer Atem; sie nahm sich das Tuch ab, suchte mit den Augen die Mutter, trat zu ihr und sagte: »Sie kommt; ich habe sie auf der Straße getroffen.« Die Mutter zog sie neben sich auf die Knie nieder. Aus dem Menschenschwarm drängte sich leise und schüchtern ein junges Mädchen hervor, und seltsam wirkte ihr plötzliches Erscheinen in diesem Zimmer mitten unter Armut und Lumpen, Tod und Verzweiflung. Dürftig zwar war auch ihre Kleidung; sie war mit den billigsten Sachen, aber auffällig, nach Art der Straßendirnen aufgeputzt, nach dem Geschmack und den Gebräuchen, die in dieser eigenartigen Lebenssphäre Geltung haben, und mit deutlicher, schmählicher Hervorkehrung des Zweckes. Sonja blieb auf dem Flur dicht an der Schwelle stehen, überschritt aber die Schwelle nicht, sondern blickte ganz ohne Fassung und wie verständnislos ins Zimmer hinein; an ihr Aussehen schien sie gar nicht zu denken: an das aus vierter Hand gekaufte, hier so unpassende bunte Seidenkleid mit der langen, lächerlichen Schleppe, an die gewaltige Krinoline, die die ganze Tür versperrte, an die hellen Stiefelchen und an den Sonnenschirm, den sie in der Nacht nicht brauchte, aber doch bei sich trug, an den lächerlichen runden Strohhut mit der feuerroten Feder. Unter diesem nach Knabenart schief aufgesetzten Hute blickte ein mageres, blasses, erschrockenes Gesichtchen hervor, mit offenem Munde und vor Schreck starren Augen. Sonja war etwa achtzehn Jahre alt, klein und schmächtig, hatte aber ein recht hübsches Gesicht, schönes blondes Haar und prächtige blaue Augen. Sie blickte unverwandt nach dem Sofa und dem Geistlichen hin; auch sie war vom schnellen Gehen außer Atem gekommen. Endlich merkte sie, daß in der Menge über sie geflüstert wurde; auch vernahm sie wohl einzelne Worte. Sie schlug die Augen nieder, tat einen Schritt über die Schwelle und stand nun im Zimmer, aber immer noch dicht an der Tür.

      Beichte und Abendmahl waren beendet. Katerina Iwanowna trat wieder an das Lager ihres Mannes. Der Geistliche trat zurück und wandte sich, ehe er wegging, mit einigen Worten der Teilnahme und des Trostes an sie.

      »Wo soll ich denn mit diesen hier bleiben?« unterbrach sie ihn, auf die Kinder weisend, in scharfem, gereiztem Tone.

      »Gott ist gnädig; hoffen Sie auf die Hilfe des Allerhöchsten …«, begann der Geistliche.

      »Ja, ja, gnädig ist er, aber nicht gegen uns!«

      »Sie versündigen sich. Sie versündigen sich, meine liebe Dame«, sagte der Geistliche kopfschüttelnd.

      »Und daß sie den hier totgefahren haben, ist wohl keine Sünde?« rief Katerina Iwanowna, auf den Sterbenden weisend.

      »Vielleicht


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