Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


Скачать книгу
es gibt heutzutage wunderliche Menschen«, erwiderte die Frau.

      »Aber ihr hättet ihn doch auf die Polizei bringen sollen«, fügte der Kleinbürger hinzu.

      »Es kommt nichts dabei heraus, wenn man sich mit so einem einläßt«, erklärte der große Hausknecht. »Ein Spitzbube war es gewiß! Er legte es selbst darauf an, hingebracht zu werden, das war ja klar, und wenn man sich mit ihm einläßt, kommt man nicht wieder los! Wir kennen das!«

      ›Soll ich nun hingehen oder nicht?‹ überlegte Raskolnikow, während er an einer Kreuzung mitten auf dem Straßendamm stehenblieb und sich rings umsah, wie wenn er von jemand die Entscheidung erwartete. Aber von keiner Seite her erfolgte eine Antwort; alles war stumm und tot wie die Steine, über die er hinschritt; für ihn war alles tot, für ihn allein … Plötzlich nahm er in der Ferne, etwa zweihundert Schritte von ihm, am Ende der Straße in der Dunkelheit einen Menschenauflauf wahr und hörte lautes Reden und Schreien … Mitten in der Menge stand eine Equipage … Ein Licht flimmerte mitten auf der Straße. ›Was ist da vorgefallen?‹ fragte sich Raskolnikow, wandte sich nach rechts und ging auf den Menschenhaufen zu. Es war, als ob er sich an alles anklammerte, und er lächelte kalt, als er sich dessen bewußt wurde; denn er hatte bereits den festen Entschluß gefaßt, auf das Polizeibureau zu gehen, und war sich ganz sicher gewesen, daß nun alles sogleich zu Ende sein werde.

      VII

      Mitten auf der Straße stand eine elegante, herrschaftliche Kutsche, mit zwei feurigen Grauschimmeln bespannt. Es saß niemand darin; der Kutscher selbst war vom Bock gestiegen und stand daneben; ein paar Männer hielten die Pferde am Zaume… Ringsherum drängten sich eine Menge Menschen, in der vordersten Reihe standen Polizisten. Einer von diesen hielt eine kleine, brennende Laterne in der Hand, mit der er, sich niederbückend, etwas beleuchtete, was auf dem Straßendamme dicht bei den Rädern lag. Alle redeten und schrien, zornig und bedauernd; der Kutscher schien sehr bestürzt zu sein und rief von Zeit zu Zeit aus: »So ein Unglück! O Gott, so ein Unglück!«

      Raskolnikow drängte sich, so gut er konnte, durch und erblickte endlich den Anlaß all dieser Aufregung und Neugier. Auf dem Boden lag ein soeben von den Pferden niedergetretener Mann, anscheinend besinnungslos, sehr schlecht, aber doch wie ein »besserer Herr« gekleidet. Er war ganz mit Blut besudelt; Blut rieselte ihm vom Kopfe und vom Gesichte; das Gesicht war ganz zerschlagen, zerschunden und verstümmelt. Offenbar war er von den Hufen sehr schwer verletzt worden.

      »Mein Gott!« jammerte der Kutscher. »Wie soll man sich denn noch mehr vorsehen! Ja, wenn ich schnell gefahren wäre oder ihm nicht zugerufen hätte; aber ich fuhr ganz ruhig und gleichmäßig. Alle haben es gesehen und wissen, daß das die Wahrheit ist. Aber so ein Betrunkener hört und sieht eben nichts; das kennt man ja … Ich sah ihn, wie er über die Straße ging und dabei taumelte und beinahe hinfiel – ich rief ihn einmal an, noch einmal, zum dritten Male, und ich hielt die Pferde zurück; aber er lief ihnen direkt zwischen die Beine, da lag er! Ob er es nun mit Absicht tat, oder ob er zu sehr beduselt war – ich weiß nicht. Die Pferde sind jung und schreckhaft; sie zogen an, er schrie auf, da wurden sie noch scheuer, … und da war das Unglück da.«

      »Ja, geradeso ist es gewesen«, rief aus der Menge ein Augenzeuge.

      »Er hat ihn angerufen, das ist die Wahrheit; dreimal hat er ihn angerufen!« ließ sich eine andre Stimme vernehmen.

      »Genau dreimal; das haben alle gehört!« rief ein dritter.

      Übrigens war der Kutscher nicht allzu niedergedrückt und erschrocken. Die Equipage gehörte offenbar einem reichen, vornehmen Herrn, den sie irgendwo abholen sollte; die Polizisten waren daher natürlich eifrig bemüht, das Verhalten des Kutschers als ordnungsgemäß anzuerkennen. Der Überfahrene sollte auf das Polizeibureau und ins Krankenhaus gebracht werden. Niemand kannte seinen Namen.

      Unterdessen hatte sich Raskolnikow etwas weiter hindurchgedrängt und beugte sich aus größerer Nähe über ihn. Auf einmal erleuchtete die Laterne das Gesicht des Unglücklichen: er erkannte ihn.

      »Ich kenne ihn, ich kenne ihn!« rief er und drängte sich ganz nach vorn. »Es ist ein verabschiedeter Beamter, der Titularrat Marmeladow. Er wohnt hier in der Nähe, im Koselschen Hause… Schnell einen Arzt! Ich bezahle es, hier!«

      Er zog Geld aus der Tasche und zeigte es einem der Polizisten. Er befand sich in gewaltiger Aufregung.

      Den Polizisten war es sehr erwünscht, daß sie den Namen des Verletzten erfahren hatten. Raskolnikow gab auch seinen eigenen Namen und seine Adresse an und befürwortete mit aller Energie, wie wenn es sich um seinen eigenen Vater handelte, den schleunigen Transport des bewußtlosen Marmeladow nach dessen Wohnung.

      »Dort, nur drei Häuser weit«, sagte er eifrig, »das Haus gehört einem Herrn Kosel, einem reichen Deutschen… Er war jetzt gewiß gerade in betrunkenem Zustande auf dem Wege nach Hause. Ich kenne ihn… Er ist ein Trinker… Er wohnt da mit seiner Familie, Frau und Kindern; auch eine erwachsene Tochter hat er. Ihn ins Krankenhaus zu schaffen, dauert zu lange; aber hierherum wohnt gewiß ein Arzt. Ich bezahle es, ich bezahle es! Hier findet er doch gleich Hilfe und hat seine richtige Pflege; bis er ins Krankenhaus kommt, ist er schon tot.«

      Er hatte dabei auch bereits den Polizisten heimlich etwas in die Hand gedrückt; übrigens war es ja eine ganz klare und gesetzliche Sache, und jedenfalls war Hilfe hier näher zu haben. Es fanden sich hilfsbereite Hände; der Überfahrene wurde aufgehoben und fortgetragen. Das Koselsche Haus war nur etwa dreißig Schritte entfernt. Raskolnikow ging hinten, hielt vorsichtig den Kopf des Verunglückten und gab den Weg an.

      »Hierher, hierher! Die Treppe hinauf müssen wir ihn mit dem Kopfe voran tragen; wendet ihn herum… so, so ist’s recht! Ich werde es bezahlen; ich werde mich euch erkenntlich zeigen!« murmelte er.

      Katerina Iwanowna wanderte, wie immer, sobald sie nur einen arbeitsfreien Augenblick fand, in ihrem kleinen Zimmerchen auf und ab, vom Fenster nach dem Ofen und zurück; dabei hielt sie die Arme fest über der Brust verschränkt, redete mit sich selbst und hustete. In der letzten Zeit hatte sie angefangen, häufiger und mehr mit ihrer ältesten Tochter, der neunjährigen Polenjka, zu sprechen, die zwar vieles noch nicht verstand, dafür aber sehr wohl begriff, daß es der Mutter ein Bedürfnis war, mit ihr zu reden, und ihr darum immer mit ihren großen, klugen Augen folgte und sich schlau bemühte, zu tun, als ob sie alles verstände. Augenblicklich war Polenjka damit beschäftigt, ihren kleinen Bruder, der den ganzen Tag über nicht recht wohl gewesen war, auszukleiden, um ihn schlafen zu legen. Der Knabe saß schweigend und mit ernster Miene auf einem Stuhle, gerade aufgerichtet und ohne sich zu rühren, die fest zusammengepreßten Beinchen waagerecht ausgestreckt, die Fersen nach vorn, die Fußspitzen auseinander, und wartete darauf, daß ihm für das alte Hemdchen, das in der Nacht gewaschen werden sollte, ein frisches angezogen werde. Er hörte zu, was die Mutter mit der Schwester sprach, machte spielend die Lippen dick, öffnete die Augen weit und saß ruhig da, ganz wie alle artigen kleinen Knaben sich zu benehmen haben, wenn sie zum Zubettgehen ausgezogen werden. Sein noch kleineres Schwesterchen stand in bloßen Lumpen am Bettschirm und wartete, bis es an die Reihe kommen würde. Die Tür nach der Treppe zu war offen, um wenigstens einigermaßen die Wolken von Tabaksrauch abzuleiten, die aus den anderen Zimmern hereindrangen und die arme Schwindsüchtige fortwährend zwangen, lange und qualvoll zu husten. Katerina Iwanowna schien in dieser Woche noch mehr abgemagert zu sein, und die roten Flecke auf ihren Wangen brannten noch greller als früher.

      »Du glaubst gar nicht, Polenjka«, sagte sie, im Zimmer auf und ab gehend, »du kannst dir gar keine Vorstellung davon machen, wie vergnügt und großartig wir in dem Hause meines lieben Papas lebten und wie dieser Trunkenbold mich zugrunde gerichtet hat und euch alle zugrunde richten wird! Mein Papa war Verwaltungsbeamter im Range eines Obersten und beinahe schon Gouverneur; es fehlte ihm nur noch eine Beförderung, so daß alle schon immer zu ihm kamen und sagten: ›Wir betrachten Sie schon als unsern Gouverneur, Iwan Michailowitsch!‹ Als ich … kche! als ich … kche-kche-kche! … oh, dieses elende Dasein!« rief sie, nachdem sie den Schleim abgehustet hatte, und faßte nach ihrer Brust. »Als ich … ach, als auf dem letzten Balle … beim Adelsmarschall … mich die Fürstin Bessemelnaja erblickte, die mir später den Segen erteilte, als ich deinen Papa heiratete, Polenjka, da fragte sie sogleich: ›Ist das nicht das liebenswürdige


Скачать книгу