Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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und dann ist es für andere Besuche zu spät. Er sagt: ›Sie wird nicht böse darüber; sie hat ein gutes Herz!‹ Das ist seine Denkungsweise! Nun, ist das hübsch? Ist das edel?«

      »Nun, meinetwegen, ich will hinfahren«, antwortete Aljoscha in kläglichem Ton. »Ich wäre nur so gern noch ein bißchen bei euch geblieben …«

      »Was hast du denn von uns? Wir müssen vielmehr über viele Dinge unter vier Augen sprechen. Aber höre, nimm das nicht übel; es ist eben notwendig; versteh das wohl!«

      »Wenn das notwendig ist, dann will ich sogleich … was ist dabei übelzunehmen? Ich will nur noch auf ein Augenblickchen zu Lew und dann gleich zu ihr. Noch eins, Iwan Petrowitsch«, fuhr er fort, während er nach seinem Hut griff, »Sie wissen, daß mein Vater auf das Geld verzichten will, das er in dem Prozeß mit Ichmenew gewonnen hat?«

      »Ja, ich weiß es; er hat es mir gesagt.«

      »Wie edel er daran handelt! Katja glaubt nicht, daß das edel von ihm gehandelt ist. Setzen Sie ihr das doch auseinander! Leb wohl, Katja, und, bitte, zweifle nicht daran, daß ich Natascha liebe. Und warum gebt ihr alle mir solche Vorschriften und macht mir Vorwürfe und beobachtet mein Tun und Lassen, gerade als stände ich unter eurer Aufsicht? Sie weiß, wie sehr ich sie liebe, und hat Vertrauen zu mir, und ich weiß, daß sie zu mir Vertrauen hat. Ich liebe sie ohne alle Künsteleien, ohne alle Verpflichtungen. Ich weiß nicht, wie ich sie liebe. Ich liebe sie einfach. Und darum ist gar kein Grund vorhanden, mich wie einen Verbrecher ins Verhör zu nehmen. Da, frage nur Iwan Petrowitsch; jetzt ist er hier und wird es dir bestätigen; daß Natascha eifersüchtig ist und daß sie mich zwar sehr liebt, daß aber in ihrer Liebe doch viel Egoismus steckt, weil sie mir nichts zum Opfer bringen will.«

      »Wie meinen Sie das?« fragte ich erstaunt; ich traute meinen Ohren nicht.

      »Was redest du da, Aljoscha?« rief Katja, beinah schreiend, und schlug die Hände zusammen.

      »Nun ja; was gibt’s da sich zu wundern? Iwan Petrowitsch weiß es. Sie verlangt immer, daß ich bei ihr bleiben soll. Und wenn sie es auch nicht mit Worten verlangt, so ist doch deutlich, daß sie es gern möchte.«

      »Schämst du dich denn nicht? Schämst du dich denn nicht?« sagte Katja, die vor Zorn ganz rot geworden war.

      »Warum soll ich mich denn schämen? Aber wirklich, wie du auch bist, Katja! Ich liebe sie ja mehr, als sie glaubt; aber wenn sie mich in der richtigen Art liebte, so wie ich sie liebe, dann brächte sie mir gewiß ihr Vergnügen zum Opfer. Sie schickt mich allerdings selbst weg; aber ich sehe es ihr ja am Gesicht an, daß ihr das schmerzlich ist; also ist es für mich ganz dasselbe, wie wenn sie mich zurückhielte.«

      »Nein, da steckt etwas dahinter!« rief Katja, indem sie sich mit zornfunkelnden Augen wieder an mich wandte. »Gestehe, Aljoscha, gestehe sofort: alles das hat dir dein Vater gesagt? Heute gesagt? Und bitte, suche mich nicht zu täuschen: ich bekomme es doch sofort heraus! Ist es so oder nicht?«

      »Nun ja, er hat es zu mir gesagt«, antwortete Aljoscha. verlegen. »Aber was ist dabei? Er hat mit mir heute so freundlich und herzlich gesprochen; und sie hat er mir gegenüber immer gelobt, so daß ich ordentlich erstaunt war: sie hat ihn beleidigt, und er lobt sie noch!«

      »Und Sie, Sie haben ihm geglaubt«, sagte ich, »Sie, dem sie alles gegeben hat, was sie nur geben konnte? Ja selbst jetzt, noch heute, war ihre einzige Sorge, Sie könnten sich bei ihr unbehaglich fühlen und sie könnte Ihnen an dem Besuch bei Katerina Fjodorowna hinderlich sein! Das hat sie mir selbst heute gesagt. Und auf einmal haben Sie diesen Lügenreden Glauben geschenkt! Schämen Sie sich denn nicht?«

      »Du Undankbarer! Aber er schämt sich ja nie, über nichts!« sagte Katja mit einer wegwerfenden Handbewegung nach ihm hin, als ob er ein total verdorbener Mensch wäre.

      »Aber was wollt ihr denn eigentlich?« fuhr Aljoscha in kläglichem Ton fort. »Und so bist du immer, Katja! Immer findest du an mir nur Schlechtes… Von Iwan Petrowitsch will ich schon gar nicht reden! Ihr glaubt, daß ich Natascha nicht liebe. Das mit ihrem Egoismus habe ich anders gemeint. Ich wollte nur sagen, daß sie mich gar zu sehr liebt, in einer maßlosen Weise, und daß sie dadurch sowohl mir als auch sich selbst das Leben schwer macht. Mein Vater aber wird mich nie betrügen, selbst wenn er es wollte. Ich lasse mich nicht betrügen. Er hat überhaupt nicht gesagt, daß sie eine Egoistin wäre, im schlimmen Sinn des Wortes; ich habe ihn ganz gut verstanden. Er hat alles genau so gesagt, wie ich es jetzt wiedergegeben habe: ihre Liebe zu mir sei so groß und übermäßig, daß sie geradezu zum Egoismus werde; sie mache dadurch sowohl mir als auch sich selbst das Leben schwer, und das werde später für mich noch schlimmer werden. Na, damit hat er doch die Wahrheit gesagt, aus Liebe zu mir, und darin liegt doch nichts Beleidigendes für Natascha; im Gegenteil hat er anerkannt, daß ihre Liebe sehr groß ist, ja übermäßig, geradezu sinnlos…«

      Aber Katja unterbrach ihn und ließ ihn nicht zu Ende reden. Sie machte ihm heftige Vorwürfe und bewies ihm, daß sein Vater nur deswegen Natascha zuerst gelobt habe, um ihn durch seine scheinbare Güte zu täuschen, und nur in der Absicht, heimlich und unmerklich Aljoscha selbst gegen sie aufzuwiegeln und so ihre Verbindung zu zerreißen. Sie setzte ihm mit ebensoviel Wärme als Klugheit auseinander, daß Natascha ihn liebe, daß aber keine Liebe das verzeihen könne, was er ihr antue, und daß der wahre Egoist hierbei er selbst, Aljoscha, sei. Allmählich brachte Katja ihn in einen Zustand schrecklicher Traurigkeit und tiefer Reue; er saß mit niedergeschlagenen Augen und einer Märtyrermiene neben uns, gab keine Antworten mehr und schien völlig vernichtet zu sein. Aber Katja war unerbittlich. Ich betrachtete sie mit größter Spannung. Es war mein lebhafter Wunsch, dieses seltsame Mädchen sobald wie möglich kennenzulernen. Sie war noch vollständig Kind, aber ein merkwürdiges Kind mit bestimmten Ansichten, festen Grundsätzen und einer leidenschaftlichen angeborenen Liebe zum Guten und zur Gerechtigkeit. Wenn man sie wirklich noch ein Kind nennen konnte, so gehörte sie zu der Kategorie der denkenden Kinder, die in unseren Familien ziemlich zahlreich sind. Es war klar, daß sie schon viel nachgedacht hatte. Es mußte interessant sein, in dieses denkende Köpfchen hineinzublicken und zu sehen, wie sich dort rein kindliche Ideen und Vorstellungen mit ernsten, aus eigener Erfahrung gewonnenen Gefühlen und Lebensbeobachtungen (denn Katja hatte schon gelebt) mischten und zugleich auch mit Ideen, die ihr noch unverständlich waren und nicht ihrer Erfahrung entstammten, sondern ihr theoretisch, in Büchern, imponiert hatten; diese letzteren Ideen waren wahrscheinlich sehr zahlreich, und sie bildete sich wohl ein, durch eigene Erfahrung zu ihnen gelangt zu sein. Im Verlauf dieses ganzen Abends und in der Folgezeit habe ich, wie ich glaube, Katja ziemlich gut kennengelernt. Ihr Herz war leicht erregbar und den Affekten zugänglich. In manchen Fällen verschmähte sie gewissermaßen die Kunst der Selbstbeherrschung, stellte die Wahrheit über alles, hielt den gesamten Zwang des gesellschaftlichen Lebens für törichte konventionelle Form und war, wie es schien, auf diese Anschauung stolz, wie man das bei vielen temperamentvollen Menschen findet, sogar bei solchen, die über die Jahre der Jugend schon hinaus sind. Aber gerade das verlieh ihr einen besonderen Reiz. Sie liebte es sehr, nachzudenken und nach der Wahrheit zu forschen, verfuhr aber dabei so frei von aller Pedanterie und mit so kindlicher Munterkeit, daß man gleich beim ersten Blick dieses ihr originelles Benehmen nett fand und sich mit ihm aussöhnte. Ich dachte an Lew und Boris, und es schien mir, daß das alles durchaus in der Natur der Dinge liege. Und merkwürdig: ihr Gesicht, an dem ich beim ersten Blick nichts besonders Schönes wahrgenommen hatte, wurde gleich an diesem Abend mit jedem Augenblick für mich immer schöner und anziehender. Diese naive Verquickung von Kind und denkendem Weib, dieser kindliche und im höchsten Grad aufrichtige Durst nach Wahrheit und Gerechtigkeit und dieser unerschütterliche Glaube an den Erfolg des eigenen Strebens, all dies erleuchtete ihr Gesicht gleichsam von innen heraus mit einem schönen Licht und verlieh ihm eine hohe, geistige Schönheit, und man begriff, daß es einem nicht so schnell gelingen konnte, diese Schönheit, die sich nicht jedem gewöhnlichen, gleichgültigen Blick darbot, in ihrem ganzen Umfang und Inhalt zu erfassen. Und es wurde mir verständlich, daß Aljoscha sich zu ihr leidenschaftlich hingezogen fühlen mußte. Er, der nicht selbst denken und urteilen konnte, liebte gerade diejenigen, die für ihn dachten und dies sogar gern taten; Katja aber hatte ihn schon ganz unter ihre Vormundschaft genommen. Sein Herz war von unerschütterlichem Edelsinn und unterwarf sich allem, was ehrenhaft und schön war; Katja aber hatte schon mit all


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