Heimatkinder Staffel 3 – Heimatroman. Kathrin Singer
»Bitte, keine Komödie. Das passt nicht zu dir.«
»Was nennst du eine Komödie? Dass ich mich meinen Kindern endlich als Vater zu erkennen gebe? Dass ich sie zu mir nehmen will, dass ich für sie sorgen will, wie es sich gehört?«
»Mir kommen die Tränen! Du willst mich unter Druck setzen. Du glaubst, dass ich den Kindern folgen werde wie ein herrenloses Hündchen.«
»Julia, nun höre mir einmal gut zu. Glaubst du, ich hätte meine Kinder auf die Dauer bei Matthias gelassen? Bildest du dir das wirklich ein?«
»Warum nicht? Wo könnten sie es besser haben?«
»Ha! Hier wachsen sie auf wie die reinen Toren! In welcher Zeit leben wir denn? Im achtzehnten Jahrhundert, als noch die Postkutschen fuhren? Meinst du, ich will eines Tages mit ansehen, wie meine Kinder hilflos im Leben stehen als kleine Hinterwäldler? Für ein Kind ist es heutzutage wirklich wichtiger, dass es lernt, wie es sich im modernen Verkehr bewegt, als Rehe zu streicheln oder Vögel zu füttern.«
»Wenn du das, was du da eben von dir gegeben hast, wirklich glaubst und ernst meinst, dann bist du ein Schwachkopf, Björn Hartmann. Aber das kann ich nicht glauben. Bleiben wir sachlich. Wie hast du dir die Zukunft der Kinder vorgestellt? Soviel ich weiß, hast du nicht einmal eine eigene Wohnung.«
»Ich kann eine Wohnung oder ein Haus mieten – jederzeit!«, gab er trotzig zurück.
»Und dann? Wer wird für die Kinder sorgen?«
»Du natürlich.«
»So, davon bist du also überzeugt. Aber nehmen wir mal an, ich tue es nicht. Was dann?«
Björn lächelte irritiert. »Dann suche ich mir eine verständnisvolle Haushälterin.«
»Und du selbst? Du zigeunerst wie bisher in der Welt herum.«
»Auf keinen Fall! Ich suche mir einen anderen Job.«
Julia legte die Hand auf seinen Arm. »Björn, ich bitte dich nur um eines. Du bist doch ein anständiger Kerl. Denke jetzt nicht zuerst an dich, sondern an die Kinder, an deine Kinder.«
»Aber das tue ich doch die ganze Zeit!«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Björn, das tust du nicht.«
Mit einer zupackenden, heftigen Bewegung umklammerte Björn ihre Hände. »Julia, ich bin verrückt nach dir. Ich weiß doch, dass du meinen Bruder nur wegen der Kinder geheiratet hast.«
»So, dann weißt du mehr als ich.«
»Natürlich, du redest dir ein, dass du Matthias gernhast. Klar! Das würde jede Frau an deiner Stelle tun! Aber jetzt musst du der Wahrheit ins Gesicht sehen. Und die Wahrheit ist, dass ich hundertmal besser zu dir passe als Matthias.«
»Eingebildet bist du überhaupt nicht.«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich besser bin als mein Bruder – nur anders. Und wir beide, Julia, du und ich, wir sind wie füreinander geschaffen!«
»Es ist noch keine vierundzwanzig Stunden her, da habe ich Matthias die Treue versprochen.«
»Du bist ein fabelhafter Kerl, Julia. Ich bewundere dich, ehrlich. Gerade, dass du es dir selbst so schwer machst, finde ich klasse. Aber warum quälst du dich? Jeder Rechtsanwalt wird dir sagen, dass diese Ehe nicht gilt, dass man sie einfach für nichtig erklären lassen kann – vor Gericht natürlich.«
»Für nichtig erklären?«
»Ja! Mein Bruder hat dich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in diese Ehe gelockt. Er hat dich nach Strich und Faden betrogen und hintergangen. Du wolltest doch die neue Mutter der Kinder werden, das lag klar auf der Hand. Und weil Matthias dich in dem Glauben gelassen hat, er wäre der leibliche Vater von Heidi und Carsten, darum hat er dich betrogen. So eine Ehe gilt nicht. Das bestätigt dir jeder Rechtsanwalt.«
Julia holte tief Luft. Sie wirkte betroffen. »Björn, ich brauche erst einmal Zeit zum Nachdenken. Das ist eine Sache, die ich nicht übers Knie brechen kann.«
»Natürlich nicht. Du tust mir so leid, mein armer Liebling«, sagte er mitleidig.
»Du brauchst mich nicht zu bedauern.«
»Du bist ahnungslos und gutgläubig in eine Falle getappt. Man hat dir übel mitgespielt.«
Julia holte tief Kluft. »Aber die Hauptleidtragenden sind die Kinder, Björn.«
»Wieso?«
»Sie sind verwirrt und verstört. Sie haben Angst. Es ist schlimm, es ist ganz fürchterlich, wenn Kinder Angst haben!«
Sie sprang auf und stürzte zum Forsthaus zurück. Das Blut rauschte in ihren Ohren, in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie nahm nicht mehr wahr, was Björn ihr nachrief.
Plötzlich stand Matthias vor ihr, ihr Mann! Aus dunklen, melancholischen Augen sah er sie an – ein Blick, der ihr ins Herz schnitt.
»Matthias«, fragte sie leise, »ist es wahr? Hast du mich absichtlich in dem Glauben gelassen, Heidi und Carsten wären deine eigenen Kinder?«
Er hob mit einer ratlosen, verzweifelten Geste die Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht. Nicht bewusst. Aber wer kann sagen, was sich in den Tiefen der Seele abspielt? Zu meiner Entschuldigung kann ich nur eines vorbringen.«
»Ja, ich höre.«
»Nie und nimmer habe ich geglaubt, dass Björn jemals auf die Idee kommen könnte, die Kinder zu sich zu nehmen. Nach dem Tod seiner Frau war er heilfroh, ja, überglücklich, dass ich ihm die Sorge um Carsten und Heidi abnahm. Mein Bruder ist einfach nicht der Typ des Familienvaters. Er liebt seine Ungebundenheit über alles. Und darum wird er seine Drohung, uns die Kinder wegzunehmen, auch nicht wahr machen. Im Moment ist er völlig durcheinander, wie vor den Kopf geschlagen. Schon als kleiner Junge war er ein Heißsporn, der mit dem Kopf durch die Wand wollte. Er meint es nicht so. Warte nur in Ruhe ab, Julia. In ein paar Tagen sieht alles anders aus.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.«
»Und noch eines darfst du nie vergessen.« Er wirkte sehr ernst und bestimmt. »Ich liebe dich. Ich liebe dich mehr als mein Leben.«
Julias Herz raste. Ihre Pulse hämmerten. Sie spürte, dass ihr das Blut heiß ins Gesicht schoss. Erst als das Gesicht des Mannes undeutlich wurde, begriff sie, dass ihre Augen in Tränen schwammen. Völlig verwirrt wandte sie sich ab. »Entschuldige, ich muss mich erst einmal um die Kinder kümmern.«
Sie hastete ins Haus. Heidi und ihr Bruder saßen wie die armen Sünder im Wohnzimmer.
Das blonde kleine Mädchen stolperte Julia entgegen. »Mami!«
Carsten erhob sich von der Sesselkante, auf der er steif gehockt hatte, und fragte mit unbewegtem Gesichtchen: »Oder bist du jetzt nicht mehr unsere Mami?«
Julia schluchzte trocken auf und schloss beide Kinder gleichzeitig in die Arme. »Ich bin eure Mami, und ich bleibe eure Mami. Habt keine Angst! Macht euch keine Sorgen. Alles wird gut, das verspreche ich euch!«
»Ist es wahr, dass Onkel Björn unser Vati ist?«, fragte Carsten mit ruhiger Stimme.
»Schaut einmal, ihr beiden, das ist doch gar nicht so wichtig. Ob Onkel oder Vati, wichtig ist nur, dass sie euch lieb haben und ihr sie. Onkel oder Vati, das sind doch nur Worte. Ich bin ja auch nicht eure richtige Mutti, und trotzdem bin ich eure Mami, weil ich euch über alles liebe.«
»Ja, das bist du!«, seufzte Heidi aus tiefstem Herzen.
Draußen am Waldrand rief der Kuckuck.
*
Es war Nacht. Durch das offene Fenster des Arbeitszimmers, in dem der Forstmeister reglos am Schreibtisch saß, den Kopf schwer auf beide Fäuste gestützt, schien der Mond. Leise und beruhigend flüsterte der Nachtwind in den Wipfeln.
In Matthias Hartmanns Herzen aber tobte ein Sturm, der ihn zu zerstören drohte.