Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
ja, nicht einmal um Türen und Schlösser hatten sie sich bekümmert. Sie brauchten nichts weiter zu tun, als die Zeltpfähle tüchtig fest in den Boden zu rammen und Leinwand darüber zu hängen, dann war ihr Haus so gut wie fertig. Auch mit dem Hineinschaffen der Möbel hatten sie sich keine großen Umstände gemacht. Das Wichtigste war, einige Felle und Tannenzweige auf dem Boden auszubreiten und den großen Kessel, in dem sie ihr Renntierfleisch kochten, an einer eisernen Kette aufzuhängen, die oben an den Zeltstangen befestigt wurde.
Die Ansiedler auf der östlichen Seite des Sees, die sich aus Leibeskräften damit abmühten, ihre Häuser fertig zu schaffen, ehe der strenge Winter hereinbrach, wunderten sich über die Lappen, die seit vielen, vielen Hunderten von Jahren hier in dem kalten Norden umhergestreift waren, ohne daran zu denken, daß man andern Schutz gegen Sturm und Kalte haben könne, als ein paar dünne Zeltwände. Und die Lappen wunderten sich über die Ansiedler, die sich alle diese schwere und mühselige Arbeit machten, da zum Leben doch nichts weiter nötig war als der Besitz von einigen Renntieren und einem Zelt.
Eines Nachmittags im Juli regnete es dort oben am Luossaujara ganz fürchterlich, und die Lappen, die sich sonst zur Sommerzeit nicht viel innerhalb ihrer Zeltwände aufhielten, waren alle miteinander in eins der Zelte gekrochen und kauerten dort um das Feuer und tranken Kaffee.
Während sie da saßen und noch so vergnüglich bei der Kaffeetasse plauderten, kam ein Boot von der Kirunaerseite herübergerudert und legte bei dem Lappenlager an. In dem Boot saßen ein Arbeiter und ein kleines Mädchen, das wohl dreizehn bis vierzehn Jahre alt sein mochte; sie stiegen bei dem Lager aus. Die Hunde fuhren mit heftigem Gebell auf sie ein, und einer der Lappen steckte den Kopf zur Zeltöffnung heraus, um zu sehen, was es gäbe. Er war sehr erfreut, als er den Arbeiter sah, denn der war ein guter Freund der Lappen, ein munterer und redseliger Mann, der die Sprache der Lappen sprechen konnte. Der Lappe rief ihm gleich zu, er solle ins Zelt hineinkommen. »Du kommst wie gerufen, Söderberg,« rief er. »Der Kaffeekessel hängt über dem Feuer; bei diesem Regenwetter kann doch niemand etwas anfangen. Komm herein und erzähle uns etwas Neues.«
Der Arbeiter kroch zu den Lappen hinein, und mit viel Mühe, aber unter lustigem Scherzen und Lachen, gelang es, für ihn und das kleine Mädchen Platz in dem Zelt zu schaffen, das schon ganz voll von Menschen war. Der Mann begann sofort lappländisch mit seinen Wirten zu sprechen. Währenddessen saß das Mädchen, das mit ihm gekommen war, und das nichts von der Unterhaltung verstand, ganz stumm da und betrachtete erstaunt den Kochtopf und den Kaffeekessel, das Feuer und den Rauch, die Lappen und die Lappenfrauen, die Kinder und die Hunde, die Wände und den Fußboden, die Kaffeetassen und die Tabakpfeifen, die bunten Kleider und die geschnitzten Gerätschaften.
Aber auf einmal hielt sie mit ihrer Untersuchung inne und schlug die Augen nieder, denn sie merkte, daß alle im Zelt sie ansahen. Söderberg mußte etwas von ihr erzählt haben, denn sowohl die Lappen als auch die Lappenfrauen nahmen ihre kurzen Tabakpfeifen aus dem Munde und starrten sie an. Der ihr zunächstsitzende Lappe klopfte ihr auf die Schulter und sagte auf schwedisch: »Gut! Gut!« Eine Lappenfrau schenkte eine große Tasse Kaffee ein, die ihr mit vieler Mühe hinübergereicht wurde, und ein Lappenjunge in ihrem Alter kroch zu ihr hinüber. Da blieb er liegen und glotzte sie an.
Sie erriet, daß Söderberg den Lappen erzählt haben mußte, wie sie das große Begräbnis für ihren Bruder, den kleinen Mads veranstaltet hatte, aber sie saß da und wünschte, daß er nicht so viel von ihr erzählen möge, sondern die Lappen fragen wollte, ob sie nichts von ihrem Vater wüßten. Der kleine Wicht hatte gesagt, daß er sich bei den Lappen aufhalte, die ihr Lager westlich vom Luossajaura aufgeschlagen hätten, und da hatte sie um Erlaubnis gebeten, mit einem Kieszug da hinauf zu fahren – denn richtige Züge gingen noch nicht auf der Bahn – um nach ihrem Vater suchen zu kommen. Alle, die Aufseher wie auch die Arbeiter taten ihr Bestes, um ihr zu helfen, und in Kiruna hatte ein Ingenieur Söderberg, der Lappisch sprechen konnte, mit ihr über den See geschickt, um sich nach dem Vater zu erkundigen.
Sie hatte gehofft, daß sie ihn treffen würde, sobald sie hier ankäme, und sie hatte ein Gesicht nach dem andern im Zelt angesehen, konnte aber gar nicht in Zweifel sein, daß sie alle dem Lappenvolk angehörten. Der Vater war nicht unter ihnen.
Sie sah, daß die Lappen und Süderberg immer ernsthafter wurden, je länger sie miteinander redeten, und die Lappen schüttelten die Köpfe und klopften sich an die Stirn, als sprächen sie von jemand, der nicht ganz bei Verstand sei. Da wurde sie so unruhig, daß sie es nicht länger aushalten konnte, still zu sitzen und zu warten, und sie fragte Söderberg, was die Lappen von ihrem Vater wüßten.
»Sie sagen, er ist fortgegangen, um zu fischen,« antwortete der Arbeiter. »Sie wissen nicht, ob er heute abend noch ins Lager zurückkommt, aber sobald das Wetter ein wenig besser wird, will einer von ihnen ausgehen und nach ihm suchen.«
Dann wandte er sich wieder an die Lappen und sprach eifrig mit ihnen weiter. Er wollte offenbar nicht, daß Aase noch mehr Fragen über ihren Vater an ihn richtete.
*
Am nächsten Morgen war schönes Wetter. Ola Serka selbst, der vornehmste unter den Lappen, hatte gesagt, er wolle ausgehen und nach Aases Vater suchen. Aber er beeilte sich nicht; er kauerte vor dem Zelte, dachte an Jon Assarson und überlegte, wie er ihm die Nachricht beibringen sollte, daß seine Tochter gekommen war, um ihn zu suchen. Es handelte sich nämlich darum, dies so zu bewerkstelligen, daß Jon Assarson nicht erschrak und entfloh, denn er war ein sonderbarer Mann, den der Anblick von Kindern bange machte. Er pflegte zu sagen, ihn befielen so trübe Gedanken, wenn er sie sähe, und das könne er nicht ertragen.
Während Ola Serka hierüber nachdachte, saßen das Gänsemädchen Aase und Aslak, der Lappenjunge, der am vorhergehenden Abend vor ihr gelegen und sie angeglotzt hatte, auf dem freien Platz vor dem Zelt und plauderten miteinander. Aslak war zur Schule gegangen und konnte Schwedisch sprechen. Er erzählte Aase von dem Leben der Lappen und versicherte sie, daß sie besser dran seien als alle andern Menschen. Aase fand, daß ihr Leben schrecklich sei, und das sagte sie. »Du weißt nicht, was du sprichst,« sagte Aslak. »Bleibe nur eine Woche bei uns, und du wirst sehen, daß wir das glücklichste Volk auf der ganzen Erde sind.«
»Wenn ich noch eine Woche hierbleibe, so fürchte ich, daß ich von all dem Rauch da drinnen im Zelt erstickt werde,« sagte Aase. – »So darfst du nicht reden,« sagte der Lappenjunge. »Du weißt nichts von uns. Ich will dir eine Geschichte erzählen, daraus kannst du sehen, daß du immer lieber bei uns sein wirst, je länger du hier bist.«
Und dann begann Aslak, Aase von der Zeit zu erzählen, wo die große Krankheit, die man den schwarzen Tod nannte, durch das Land ging. Er wußte nicht, ob sie hier oben in dem richtigen Lappland, wo sie sich jetzt befanden, gewütet hatte, aber in Jämtland hatte sie so arg gehaust, daß alle Lappen, die dort im Gebirge und in den Wäldern wohnten, bis auf einen Jungen von fünfzehn Jahren gestorben waren, und von den Schweden die in der Flußtälern wohnten, blieb auch nur ein Mädchen am Leben, das ebenfalls fünfzehn Jahre alt war.
»Der Junge und das Mädchen waren einen ganzen Winter in dem öden Lande umhergewandert, um nach Menschen zu suchen, und als der Frühling kam, stießen sie endlich aufeinander,« erzählte Aslak weiter. »Da bat das schwedische Mädchen den Lappenjungen, mit ihr südwärts zu ziehen, damit sie zu Leuten ihres eigenen Stammes kämen. Sie wolle nicht in Jämtland bleiben, wo alles ausgestorben war. ›Ich will dich führen, wohin du willst,‹ sagte der Junge, ›aber nicht vor dem Winter. Jetzt ist es Frühling, und du weißt, daß wir, die wir zu dem Lappenvolk gehören, dahin gehen müssen, wohin unsere Rentiere uns führen.‹
Das schwedische Mädchen war das Kind reicher Eltern. Sie war daran gewöhnt, unter einem Dach zu wohnen, in einem Bett zu schlafen und an einem Tisch zu essen. Sie hatte die armen Gebirgsbewohner immer verachtet und meinte, daß die, so da unter offenem Himmel wohnten, sehr unglücklich sein müßten. Aber sie fürchtete sich, in ihr Heim zurückzukehren, wo nichts war als tote Menschen. ›Ja, dann laß mich aber mit dir auf die Berge hinaufziehen,‹ sagte sie zu dem Jungen, ›dann brauche ich doch nicht hier allein umherzuwandern, ohne je eine menschliche Stimme zu hören.‹ Darauf ging der Junge gern ein, und so kam es, daß das Mädchen die Renntiere auf ihrer Wanderung ins Gebirge begleitete. Die Herde sehnte