Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf

Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf - Selma Lagerlöf


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Renntiere Rast machten, um zu weiden. Die Tiere fühlten den Südwind durch ihren Pelz wehen; sie wußten, daß er im Laufe weniger Tage den Schnee von den Berghängen wegfegen würde. Das Mädchen und der Junge mußten ihnen durch schmelzenden Schnee und über brechendes Eis nacheilen. Als sie endlich so hoch ins Gebirge hinaufgekommen waren, daß der Nadelwald aufhörte, und die verkrüppelten Birken begannen, rasteten sie einige Wochen und warteten, daß der Schnee auf den obersten Berghalden schmelzen sollte; dann zogen sie da hinauf. Das Mädchen jammerte, keuchte und stöhnte und sagte wieder und wieder, sie sei müde, sie müsse umkehren und wieder ins Tal hinabsteigen, aber sie ging trotzdem lieber mit als daß sie allein blieb, ohne eine Menschenseele, mit der sie ein Wort sprechen konnte.

      Als sie die Gebirgsebene erreicht hatten, schlug der Junge auf einem schönen, grünen Platz, der zu einem Gebirgsbach sanft abfiel, ein Zelt für das Mädchen auf. Am Abend fing er die Renntierkühe mit einer Wurfleine ein, molk sie und gab ihr Renntiermilch zu trinken. Er fand auch ein wenig Renntierkäse und getrocknetes Renntierfleisch, dos seine Leute, als sie im vorigen Sommer dort lagerten, oben auf dem Berge versteckt hatten. Aber das Mädchen jammerte immer und war nie zufrieden. Sie wollte weder Renntierkäse noch getrocknetes Renntierfleisch essen, auch wollte sie keine Renntiermilch trinken. Sie konnte sich nicht darin finden, im Zelt zu kauern oder im Freien mit ein paar Zweigen unter sich und nur mit einem Renntierfell bedeckt, zu schlafen. Aber der Sohn des Gebirgsvolks lachte nur über all ihr Gejammer und fuhr fort, gut gegen sie zu sein.

      Nach Verlauf einiger Tage kam das Mädchen zu dem Jungen, als er dasaß und die Renntiere molk und bat, ob sie ihm nicht helfen dürfe. Sie übernahm es auch, Feuer unter dem Kessel anzuzünden, wenn Renntierfleisch gekocht werden sollte, Wasser zu tragen und Käse zu machen. Nun kam bald eine schöne Zeit, das Wetter war warm, und es war leicht, Essen zu beschaffen. Sie gingen zusammen aus und legten Vogelschlingen, fischten Lachsforellen in den Bächen und pflückten Multebeeren in den Mooren.

      Als d«r Sommer vorüber war, zogen sie so tief vom Gebirge herab, daß sie die Grenze zwischen Nadel-und Laubwald erreichten. Dort schlugen sie wieder ihr Lager auf. Es war jetzt Schlachtzeit, und sie mußten jeden Tag hart arbeiten, aber es war auch eine gute Zeit, denn sie konnten sich noch bessere Nahrung verschaffen als im Sommer. Als der Schnee kam und das Eis anfing, die Seen zu bedecken, zogen sie weiter ostwärts in den dichten Tannenwald hinab. Sobald sie ihr Zelt errichtet hatten, begannen sie mit den Winterarbeiten. Der Junge lehrte das Mädchen, Faden aus Renntiersehnen zu drehen, die Felle zubereiten, Kleider und Schuhe daraus zu nähen, Kämme und allerlei Gerät aus dem Geweih der Renntiere anzufertigen, auf Schneeschuhen zu laufen und im Renntierschlitten zu fahren. Als der dunkle Winter vergangen war und die Sonne wieder warm zu scheinen anfing, sagte der Junge zu dem Mädchen, jetzt wolle er sie nach dem Süden begleiten, damit sie ihr Volk und ihren eigenen Stamm finden könne. Da sah ihn das Mädchen verwundert an: »Warum willst du mich wegschicken?« fragte sie. »Sehnst du dich danach, mit deinen Renntieren allein zu sein?« – »Ich dachte, du sehntest dich fort,« sagte der Junge. – »Ich habe nun fast ein Jahr das Leben des Lappenvolkes gelebt,« erwiderte das Mädchen. »Ich kann nicht mehr zu meinem Volk zurückkehren und in engen Wohnungen leben, nachdem ich frei in den Bergen und Wäldern umhergewandelt bin. Jage mich nicht weg, laß mich hier bleiben, denn euer Leben ist besser als das unsere.«

      Und das Mädchen blieb ihr ganzes Leben lang bei dem Jungen und sehnte sich nie wieder nach ihrem Volk und dem Leben in den Tälern. »Und wenn du, Aase, nur einen Monat hier bleiben wolltest, so würdest du dich auch nie mehr von uns trennen wollen.«

      Mit diesen Worten schloß der Lappenjunge Aslak seine Erzählung, und im selben Augenblick nahm sein Vater, Ola Serka, die Pfeife aus dem Mund und erhob sich. Der alte Ola verstand mehr Schwedisch, als er zugeben wollte, und er hatte die Worte des Sohnes verstanden. Und während er ihnen lauschte, war es ihm plötzlich klar geworden, wie er es machen müsse, um Jon Assarson mitzuteilen, daß seine Tochter gekommen sei, um ihn zu suchen.

      *

      Ola Serka ging an den Luossajaura hinab und wanderte am Ufer entlang, bis er einen Mann antraf, der auf einem Stein saß und angelte. Der Fischer hatte graues Haar und seine Haltung war gebückt. Die Augen sahen müde aus, und es lag etwas Schlaffes und Hilfloses über seiner ganzen Erscheinung; er sah aus wie jemand, der versucht hat, etwas zu tragen, das zu schwer für ihn war, oder etwas zu ergründen, was zu schwierig war, und der nun gebrochen ist und mißmutig, weil ihm das nicht gelungen ist.

      »Du hast scheinbar Glück bei deinem Fischfang gehabt, Jon, da du die ganze Nacht hier gesessen und geangelt hast, sagte der Bergbewohner auf Lappländisch, indem er herantrat.

      Der andere fuhr zusammen und sah auf. Der Köder an seiner Angel war weg, und es lag nicht ein einziger Fisch neben ihm. Er befestigte schnell einen neuen Köder an dem Angelhaken und warf die Leine wieder aus. Ola Serka hatte sich indessen neben ihn gesetzt.

      »Ich möchte gern mit dir über etwas reden,« begann er. »Du weißt, daß ich eine Tochter hatte, die im vergangenen Jahr gestorben ist, und wir haben sie seither immer vermißt.« – »Ja, das weiß ich,« erwiderte der Fischer kurz, als sei es ihm unangenehm; an ein verstorbenes Kind erinnert zu werden. Er sprach gut Lappländisch. – »Aber es hat keinen Zweck, das Leben zu vertrauern,« fuhr der Lappe fort. – »Nein, das hat wohl keinen Zweck.« – »Und nun habe ich gedacht, ich wollte ein anderes Kind annehmen. Meinst du nicht auch, daß das klug wäre?« – »Es kommt darauf an, was für ein Kind es ist, Ola,«

      »Ich will dir erzählen, was ich von dem Mädchen weiß, Jon!« sagte Ola, und dann erzählte er dem Fischer, zur Hochsommerzeit seien ein paar fremde Kinder, ein Junge und ein Mädchen, zu Fuß nach Malmberget gekommen, um ihren Vater zu suchen, und als sie hörten, daß der Vater abwesend sei, seien sie dageblieben, um auf ihn zu warten. Aber während sie sich dort aufhielten, sei der Junge bei einer Minensprengung ums Leben gekommen, und da habe das Mädchen durchaus gewollt, daß ein großes Begräbnis ihm zu Ehren veranstaltet werde. Darauf beschrieb Ola sehr schön, wie das arme Mädchen alle Menschen bewogen habe, ihr zu helfen und wie sie zum Inspektor gegangen war, um mit ihm zu reden.

      »Ist dies das Mädchen, das du zu dir nehmen willst, Ola?« fragte der Fischer. –»Ja,« sagte der Lappe. »Als wir von ihr hörten, mußten wir alle miteinander weinen, und wir waren uns alle darin einig, daß, wer eine so gute Schwester gewesen, auch eine gute Tochter sein müsse, und wir wünschten, daß sie zu uns kommen möge.« – Der andere saß eine Weile stumm da. Es war klar, daß er die Unterhaltung nur fortsetzte, um seinem Freund, dem Lappen, eine Freude zu bereiten.

      »Es ist wohl von deinem eigenen Stamm, dies Mädchen?« – »Nein, es gehört nicht zum Lappenvolk.« – »Dann ist sie aber doch wohl eine Tochter von Ansiedlern, so daß sie an das Leben hier im Norden gewöhnt ist?« – »Nein, sie stammt weit her aus dem Süden,« sagte Ola und sah dabei aus, als habe das gar nichts mit der Sache zu tun. Aber nun wurde der Fischer eifriger. »Dann glaube ich nicht, daß du sie zu dir nehmen solltest,« sagte er. »Sie kann es gewiß nicht vertragen, zur Winterzeit in einem Lappenzelt zu wohnen, wenn sie nicht von Geburt an daran gewöhnt ist.« – »Sie bekommt gute Eltern und gute Geschwister im Lappenzelt,« fuhr Ola Serka beharrlich fort. »Es ist schlimmer allein zu sein, als zu frieren.«

      Aber es schien so, als wenn der Fischer immer eifriger würde, die Sache zu verhindern. Es war, als könne er sich nicht mit dem Gedanken aussöhnen, daß ein Kind, das schwedische Eltern hatte, unter den Lappen aufgenommen werden sollte. »Du sagtest doch, sie hatte einen Vater in Malmberget?« – »Er ist tot,« sagte der Lappe kurz. – »Bist du dessen auch ganz sicher, Ola?« – »Da braucht man doch nicht mehr zu fragen!« entgegnete der Lappe verächtlich. »Das ist doch ganz selbstverständlich. Das Mädchen und ihr Bruder hätten doch nicht nötig gehabt, allein durch das Land zu wandern, wenn ihr Vater noch am Leben gewesen wäre! Sollten zwei kleine Kinder gezwungen sein, sich selbst zu versorgen, wenn sie einen Vater hätten? Sollte das kleine Mädchen es nötig gehabt haben, selbst zu dem Inspektor zu gehen und mit ihm zu reden, wenn ihr Vater noch gelebt hätte? Meinst du, sie würde jetzt auch nur einen Augenblick verlassen sein, jetzt, wo ganz Lappland davon spricht, was für ein tüchtiges kleines Mädchen sie ist, wenn ihr Vater nicht tot wäre?«

      Der Mann mit den müden Augen


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