Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
du wirklich nicht tun, mein Kind. Die Sache wird zu teuer für dich. Hätte ich nur früher davon gehört, so würde ich es gleich verhindert haben.«
Es zuckre in dem Gesicht des kleinen Mädchens, und der Inspektor glaubte, nun würde sie zu weinen anfangen, aber statt dessen sagte sie: »Ich möchte fragen, ob ich dem Herrn Inspektor ein wenig von dem kleinen Mads erzählen darf?«
»Ich habe eure Geschichte schon gehört,« sagte der Inspektor in seiner gewöhnlichen ruhigen, sanften Weise. »Du tust mir sehr leid, das kannst du mir glauben. Aber ich will nur dein Bestes.«
Da richtete sich das Gänsemädchen Aase noch straffer auf und fügte mit lauter, klarer Stimme: »Seit der kleine Mads neun Jahre alt war, hat er weder Vater noch Mutter gehabt und hat ganz für sich selbst sorgen müssen wie ein erwachsener Mensch. Er hat sich für zu gut gehalten, auch nur um eine Mahlzeit zu betteln, er wollte immer alles bezahlen. Er sagte, es schicke sich nicht für einen Mann zu betteln. Er ging auf dem Lande herum und kaufte Eier und Butter auf, und er war so gewiegt im Handeln wie ein alter Kaufmann. Er war nie fahrlässig und er steckte nie auch nur einen Pfennig beiseite, sondern brachte mir alles. Der kleine Mads nahm seine Arbeit mit, wenn er Gänse auf dem Felde hütete und war so fleißig, als wäre er ein erwachsener Mann. Die Bauern da unten m Schonen gaben dem kleinen Mads oft viel Geld mit, wenn er von einem Hof zum andern ging, denn sie wußten, daß sie sich auf ihn verlassen konnten wie auf sich selbst. Darum ist es nicht richtig zu sagen, daß der kleine Mads nur ein Kind gewesen sei, denn es gibt viele Erwachsene, die nicht –«
Der Inspektor stand da und sah zu Boden; keine Muskel in seinem Gesicht bewegte sich, und das Gänsemädchen Aase schwieg, denn sie glaubte, daß ihre Worte keinen Eindruck auf sie machten. Daheim war es ihr gewesen, als hätte sie so viel von dem kleinen Mads zu sagen, aber jetzt erschien es ihr so gar wenig. Wie sollte sie dem Inspektor begreiflich machen, daß der kleine Mads es verdiente, mit denselben Ehren begraben zu werden wie ein Erwachsener?
»Und wenn ich doch das ganze Begräbnis selbst bezahlen will …« sagte Aase und dann schwieg sie wieder.
Da erhob der Inspektor den Kopf und sah dem Gänsemädchen Aase in die Augen. Er maß und wog sie, wie es der zu tun pflegt, der viele Menschen unter sich hat. Er dachte daran, was sie alles durchgemacht hatte, indem sie ihr Heim und die Eltern und Geschwister verlor; aber das hatte ihren Mut nicht gebrochen, und es würde sicher ein prächtiges Menschenkind aus ihr werden. Er wagte nicht, der Last, die sie zu tragen hatte, noch mehr hinzuzufügen, denn es könnte ja sein, daß dies der Strohhalm würde, unter dem sie zusammenbrach. Er begriff, welch Entschluß es sie gekostet hatte, zu ihm zu kommen, um mit ihm zu reden. Sie mußte diesen Bruder ja über alles in der Welt geliebt haben. Einer solchen Liebe durfte man nicht mit einem Abschlag begegnen.
»Es geschehe, wie du willst,« sagte der Inspektor.
XLIV. Bei den Lappen
Die Beeidigung war vorüber. Alle Gäste des Gänsemädchens Aase waren gegangen, und sie saß allein in der kleinen Hütte, die ihrem Vater gehört hatte. Sie hatte die Tür abgeschlossen, um Ruhe zu haben und an ihren Bruder denken zu können. Sie dachte an alles, was der kleine Mads gesagt und getan hatte, an eins nach dem andern, und das war so viel, daß sie vergaß zu Bett zu gehen und nicht nur den ganzen Abend, sondern bis spät in die Nacht sitzen blieb. Je mehr sie an den Bruder dachte, um so klarer wurde es ihr, wie schwer es sein würde, ohne ihn zu leben, und schließlich legte sie den Kopf auf den Tisch und weinte bitterlich. »Was soll aus mir werden, wenn ich den kleinen Mads nicht mehr habe,« schluchzte sie.
Es war, wie gesagt, spät in der Nacht, und das Gänsemädchen Aase hatte einen anstrengenden Tag gehabt, da war es denn nicht verwunderlich, daß der Schlaf sie übermannte, sobald sie den Kopf senkte. Und es war ja auch nicht verwunderlich, daß sie von dem träumte, an den sie fortwährend gedacht hatte. Es war ihr, als komme der kleine Mads leibhaftig zu ihr ins Zimmer herein. »Aase, jetzt mußt du dich aufmachen und versuchen, unsern Vater zu finden,« sagte er. – »Wie kann ich das nur, ich weiß ja nicht einmal, wo ich ihn suchen soll,« schien sie zu antworten. – »Darüber sollst du dir keine Sorgen machen,« entgegnete der kleine Mads frisch und fröhlich, wie es eine Art war. »Ich will dir schon jemand schicken, der dir helfen kann.«
Während das Gänsemädchen Aase träumte, daß der kleine Mads dies sagte, klopfte es an ihre Kammertür. Es war ein wirkliches Klopfen und nicht etwas, was sie träumte. Aber sie war in dem Maße von ihrem Traum befangen, daß sie nicht zu unterscheiden vermochte, was Wirklichkeit war und was Einbildung, und als sie hinging, um die Tür zu öffnen, dachte sie: ›Nun kommt ganz sicher der Helfer, den der kleine Mads nur zu schicken versprochen hat.‹
Hätte nun Schwester Hilma oder irgendein anderer richtiger Mensch auf der Schwelle gestanden, als das Gänsemädchen Aase die Tür öffnete, so würde sie gleich gemerkt haben, daß der Traum aus war, aber es war kein Mensch. Der geklopft hatte, war ein kleiner Wicht, nicht viel größer als eine Spanne hoch. Obgleich es spät in der Nacht war, war es doch noch so hell wie am Tage, und Aase sah sogleich, daß es derselbe kleine Bursche war, den sie und der kleine Mads, während sie das Land durchwanderten, ein paarmal getroffen hatten. Damals war sie bange vor ihm, und das würde sie auch jetzt gewesen sein falls sie richtig wach gewesen wäre. Aber sie hatte ein Gefühl, als träume sie noch, und darum blieb sie ruhig stehen. ›Dacht’ ich mir’s doch, daß es der sei, den der kleine Mads mir schicken wollte, der mir behilflich sein sollte, den Vater zu finden,‹ dachte sie.
Und darin hatte sie nicht unrecht, denn der kleine Kerl kam gerade, um mit ihr über ihren Vater zu sprechen. Als er sah, daß sie nicht bange vor ihm war, erzählte er ihr mit wenigen Worten, wo der Vater zu finden sei, wie auch, was sie tun müsse, um zu ihm zu gelangen.
Aber während er sprach, erwachte das Gänsemädchen Aase allmählich zu vollem Bewußtsein, und als er geendet hatte, war sie ganz wach. Und da erschrak sie so darüber, daß sie hier stand und mit einem sprach, der nicht ihrer Welt angehörte, daß sie kein Wort über ihre Lippen zu bringen vermochte, nicht einmal einen Dank. Im Gegenteil, sie lief schnell in die Stube hinein und schlug die Tür hart hinter sich zu. Es war ihr freilich, als könne sie sehen, daß das Gesicht des Kleinen einen sehr betrübten Ausdruck annahm, als sie das tat; aber sie konnte nicht anders. Sie war ganz außer sich vor Entsetzen und kroch schnell in das Bett und zog die Decke über den Kopf.
Aber obwohl sie so bange vor dem Kleinen geworden war, begriff sie doch, daß er nur ihr Bestes gewollt hatte, und am nächsten Tage beeilte sie sich, das zu tun, wozu er ihr geraten hatte.
Auf dem linken Ufer des Luossojaure, eines kleinen Sees, der noch viele Meilen nördlicher liegt als Malmberget, war ein kleines Lappenlager. An dem südlichen Ende des Sees ragt ein mächtiger Bergkegel auf, der Kirunavåra heißt und der, wie man erzählte, aus lauter Eisenerz bestehen soll. Auf der nordöstlichen Seite lag ein anderer Berg, der Luossovåra hieß, und das war auch ein reicher Eisenberg. Man war jetzt im Begriff, eine Eisenbahn von Gellivare zu diesen Bergen hinauf zu führen, und in der Nähe von Kirunavåra wurden ein Bahnhof, ein Hotel und eine Menge Wohnungen für die Ingenieure und Arbeiter gebaut, die hier wohnen würden, wenn der Gewinn des Erzes erst ordentlich in Gang gekommen war. Es war dies eine ganze Stadt mit hübschen und gemütlichen Häusern, die dort hoch oben entstand, und zwar in einer Gegend, die so weit nördlich gelegen war, daß die kleinen, verkrüppelten Birken, die den Erdboden bedeckten, erst nach dem Hochsommer ihre Blätter aus den Knospen entfalten konnten.
Westlich von dem See lag das Land frei und offen, und da hatten, wie gesagt, ein paar Lappenfamilien ihr Lager aufgeschlagen. Sie waren vor einem Monat hierhergekommen und hatten nicht viel Zeit gebraucht, um ihre Wohnung in Ordnung zu bringen. Sie hatten weder Felsen sprengen noch zu mauern brauchen, um guten und ebenen Baugrund zu schaffen, sondern sobald sie einen trockenen und guten Platz in der Nähe des Sees gefunden, hatten sie nichts weiter zu tun gebraucht, als ein wenig Weidengestrüpp wegzuhauen und einige Erdhügel zu ebnen, um den Bauplatz herzurichten. Auch hatten sie nicht lange gezimmert und gehämmert,