GRAHAMS PRÜFUNG (Survivor). A.R. Shaw
immer als sehr peinlich empfunden.
»Bist du auf irgendetwas allergisch?«
Bang zuckte nur mit den Schultern und machte ein fragendes Gesicht. Er hatte noch nie jemanden getroffen, der allergisch auf Reis oder Bohnen war, also entschied Graham, dass es in Ordnung war, dem Jungen das Essen zu geben. Ihm wurde bewusst, dass diese Aufpasser-Eltern-Geschichte eine Menge mit sich brachte, was es zu beachten galt.
Graham holte den kleinen roten Plastikbecher heraus, den er immer für seine Nichte reserviert hatte. Er füllte ihn mit kaltem Leitungswasser und reichte ihn Bang zusammen mit der dampfenden Schüssel. Der Junge beäugte das Essen. Für einen Moment sah es so aus, als würde er es auf den Boden werfen. Aber der Hunger siegte.
Als er sah, wie Bang aß, fühlte sich Graham ein wenig schuldig dafür, wie einfach es seine Familie im Vergleich mit anderen gehabt hatte. Zumindest hatte niemand Hunger leiden müssen. Er war glücklich, dass er dem Jungen wenigstens etwas Gutes tun konnte. Als er fertig war, überlegte Graham, ob er ihm einen Nachschlag geben sollte. Er entschied, dass das wahrscheinlich keine gute Idee war. Offensichtlich hatte Bang in den letzten Wochen kaum etwas gegessen, so abgemagert, wie er aussah. Stattdessen bot er ihm mehr sauberes Wasser an. Er wollte nicht, dass der Junge wieder von sich gab, was er gegessen hatte.
Nachdem sie mit Essen fertig waren, nahm sich Graham Zeit, ihm ein paar Fragen zu stellen. Schließlich kannte er den Jungen nur wenige Stunden, und doch hatte er jetzt die volle Verantwortung für sein Leben. Er brauchte so viele Informationen, wie er bekommen konnte, um ihre nächsten Schritte zu planen. Heute Nacht wollte sich Graham auf den Weg zur Blockhütte seiner Familie am Skagit River machen, ganz in der Nähe des Old Cascade Highways. Diesen Plan hegte er schon eine ganze Weile. Zumindest, so hoffte Graham, würden sie dort sicher vor Tieren und dem Gestank sein, der diese in die Zivilisation lockte. Selbst jetzt konnte er in der Entfernung die Rudel heulen hören. Außerdem wuchsen die Brände, die in Seattle ausgebrochen waren, weiter unvermindert an. Was als fernes Glühen begonnen hatte, schien sich auszubreiten.
Das Warten auf den Tod seines Vaters war das Einzige gewesen, was Graham bislang an diesem Ort gehalten hatte. Sein Vater hätte sich nie an einer anderen Stelle als neben seiner Frau zur letzten Ruhe betten lassen. Aber jetzt war es Zeit, aufzubrechen.
Graham wusste, dass er mit dem zurückhaltenden Jungen irgendwie ins Gespräch kommen musste. Er erinnerte sich an Hyun-Oks Brief und fragte: »Sag mal, wie alt bist du, Bang?«
Statt zu antworten, hielt Bang seine Hand hoch und spreizte alle fünf Finger.
Graham versuchte es noch einmal. »Kannst du jagen?«, fragte er. Das Gesicht des Jungen hellte sich ein wenig auf. Er nickte als Antwort. »Sehr gut, wir müssen dafür sorgen, dass du bald einmal auf die Jagd gehen kannst«, sagte er und versuchte, das Beste aus der Situation zu machen, auch wenn Bang nicht sprechen mochte.
Graham fand es wichtig, seinem neuen Schützling einige Dinge klar zu machen, bevor sie loszogen. »Bang, wir müssen ein paar Regeln ausmachen, damit uns nichts passiert.« Er rief sich die Stimme seiner Schwester in Erinnerung, wenn sie mit ihrer Tochter gesprochen hatte. »Du musst immer in meiner Nähe bleiben. Ich muss wissen, wo du bist, zu jeder Zeit. Wenn du irgendetwas wissen willst, frag mich, in Ordnung?«
Bang nickte nur.
»Hast du irgendeine Frage?«, wollte Graham wissen und wartete geduldig.
Bangs Gesicht war leer, aber dann fragte er plötzlich: »Hast du einen Pick-up?«
Graham lächelte erleichtert. Er wusste, dass das der Durchbruch war. Er erinnerte sich an sich selbst als fünfjähriger Junge und daran, wie sehr ihn die großen Pick-ups begeistert hatten.
»Na klar, und zwar einen blauen. Ich wollte eigentlich heute Abend damit losfahren, aber ich fürchte, wir brauchen einen neuen Plan. Wir müssen das Haus heute verlassen. Wir brauchen einen Ort, wo es sicherer ist als hier, bevor der Winter kommt. Wir fangen jetzt an zu packen und starten, sobald es dunkel ist. Bis dahin haben wir eine Menge zu tun.«
Er half Bang von der Küchentheke herunter, holte mehrere große Ziploc-Plastikbeutel aus dem Schrank und zeigte ihm, wie man sie mit dem Reis aus dem geöffneten 25-Pfund-Sack füllen und verschließen konnte.
Dem Jungen dabei zuzusehen, wie er die kleinen Körner mit einer Tasse in die Plastikbeutel schüttete, erinnerte Graham an eine Szene, die er erst vor ein paar Tagen erlebt hatte. Seine Mutter hatte eine Vorliebe für Pintobohnen gehabt, »weil sie so vielseitig sind«, wie sie immer gesagt hatte. Immerhin hatte sie die Ernährung der Familie nicht nur auf eine Sorte Reis ausgerichtet. In der Garage lagerten zehn 25-Pfund-Säcke mit verschiedenen Reissorten: Jasmin, Calrose, Langkorn und Basmati. So wurde es beim Essen wenigstens nicht ganz so langweilig.
Einmal hatten sich Graham und sein Vater im Scherz darum gestritten, welchen Sack sie als nächstes aufmachen sollten. Schließlich hatten sie sich auf ein Rotationssystem geeinigt. Graham mochte den Jasminreis am liebsten, aber sein Vater bevorzugte den kurzen, klebrigen Calrose. Sein Vater meinte, mit dieser Sorte würde man »etwas auf die Rippen bekommen«, und er pflegte zu sagen: »Das ist mal ein Reis, der fit macht für harte Männerarbeit.«
Und schon gehts wieder los. Ich verliere mich in Erinnerungen, die mich jetzt nur zurückhalten.
Graham vermutete, dass es normal war, wenn Erinnerungen an Erlebnisse mit einem geliebten Menschen auftauchten, der kurz zuvor gestorben war. Er fragte sich, ob Bang das Gleiche empfand. Mit dem Unterschied, so hoffte er jedenfalls, dass es in Bangs neuer Umgebung nicht so viele Reize gab, die solche Erinnerungen stimulieren konnten. Sobald sie in der Blockhütte waren, würden seine Erinnerungsschübe hoffentlich ein wenig nachlassen. Graham wollte nicht, dass sie komplett verschwanden. Sie sollten nur genug nachlassen, um ihn vor dem Wahnsinn oder einem Leben voller Verzweiflung zu retten.
Nachdem er Bang einige Minuten beobachtet hatte, sagte er: »Ich gehe gleich in die Garage und bereite ein paar Dinge vor. Ich lasse die Tür offen, also ruf mich, wenn du etwas brauchst.« Bang sah nur kurz zu ihm auf, nickte und widmete sich dann wieder konzentriert seiner Aufgabe. Graham bemerkte, wie der Blick des Jungen über das Sofa streifte, auf dem seine Mutter gestorben war. Auch bei ihm kamen die Erinnerungen.
Graham schob das versteinerte Holzstück vor die geöffnete Garagentür, das sein Vater dort für diesen Zweck platziert hatte. Das Erste, was ihm in der Dunkelheit entgegenkam, war der Geruch seines Vaters.
Er machte das Licht an und begutachtete die Fahrräder, die ordentlich an Haken von der Decke hingen. Er holte das Rad herunter, mit dem sein Vater oft gefahren war, dazu das rosafarbene Barbie-Fahrrad seiner Nichte, das Grahams Eltern für die Besuche ihrer Enkelin aufbewahrt hatten. Er erschauderte beim Anblick der glitzernden Quasten und des Körbchens. Als Junge in Bangs Alter hätte er sich um keinen Preis der Welt auf so etwas gesetzt. Aber dies waren keine normalen Zeiten, und der Junge würde damit klarkommen müssen. Rasch demontierte Graham die Quasten und den Korb, aber das war alles, was er tun konnte.
Er trug das kleine Fahrrad zur Werkbank seines Vaters, wo er noch immer den Mann spüren konnte, der von ihm gegangen war. Graham überlegte, ob er den lärmenden Luftkompressor nehmen sollte, um die Reifen aufzupumpen. Aber wahrscheinlich war es das Risiko, zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nicht wert. Er entschied sich für die Handpumpe, die sie immer auf ihren langen Radtouren mitgenommen hatten.
Die Stille aus der Küche ließ Graham unruhig werden, also ging er zurück zur Tür, um nachzusehen. Der Junge war damit beschäftigt, die letzten Reiskörner ganz unten aus dem großen Sack herauszuholen. Graham sagte: »Komm in die Garage, wenn du fertig bist.«
Ein paar Mal hatte er auf seine Nichte aufgepasst, aber die komplette Verantwortung für ein Kind zu haben war neu. Er stellte fest, dass er die Pflicht gleichermaßen mochte, wie er davor zurückschreckte. Ganz genau konnte er nicht sagen, weshalb er die Aufgabe als Behinderung wahrnahm. Vielleicht, weil er sich dadurch auf bestimmte Weise verletzlicher und angreifbarer fühlte. Graham war gerade einmal seit vierundzwanzig Stunden Bangs Vormund, aber er war bereit, jeden zu töten, der versuchen würde, dem Jungen wehzutun. Das schockierte ihn, denn er hatte die Harte-Kerl-Nummer immer abgelehnt, und doch empfand