GRAHAMS PRÜFUNG (Survivor). A.R. Shaw

GRAHAMS PRÜFUNG (Survivor) - A.R. Shaw


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dass ich dich dieses Mal nicht retten werde, weil du nicht auf mich gehört hast. Verstanden?«

      Bang weinte, aber sein angstvoller Blick richtete sich auch nach draußen in die zunehmende Dunkelheit. Graham hoffte, dass die Warnung ausreichte, um ihn vom Weglaufen abzuhalten. Es hatte nicht viel gefehlt, und der Junge wäre schon vorhin zerfleischt worden.

      »Jetzt zieh die Schuhe aus«, befahl er noch einmal.

      Bang setzte sich auf den Teppich und schnürte seine Schuhe auf. Er schniefte weiter, tat aber immerhin, was ihm gesagt wurde.

      »Hast du Hunger?«, fragte Graham in freundlicherem Ton.

      Der Junge reagierte nicht.

      Auch Graham verspürte kein Bedürfnis, etwas zu essen. Er sah auf seine schmutzigen Hände. Graham machte sich Sorgen, Bang könnte wieder versuchen davonzulaufen, sobald er ihm den Rücken zukehrte, also sagte er: »Okay, hör zu. Ich muss duschen gehen. Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder kannst du mir versprechen, dass du hierbleibst und dich benimmst. Oder du kannst dich von den Hunden draußen fressen lassen. Entscheide dich, was willst du? Ich habe nämlich keine Zeit für Spielchen.«

      Schluchzend sagte der Junge: »Bleiben.«

      »In Ordnung«, sagte Graham. »Es wird dunkel hier im Flur. Lass uns nach hinten gehen.« Bang hob seinen Rucksack auf, der neben der Tür lag. Graham bemerkte erst jetzt, dass der Junge überhaupt einen Rucksack dabei hatte. Bang folgte ihm.

      Seit die Krankheit ausgebrochen war, hatte Grahams Familie das Haus in der Nacht meist dunkel gehalten. Er nahm eine Taschenlampe, um den Weg zur anderen Seite des Hauses auszuleuchten. Dort öffnete er die Schlafzimmertür und richtete das Licht der Taschenlampe auf zwei Betten.

      »Das dort am Fenster ist meins. Du kannst hier schlafen«, sagte Graham und zeigte auf das Bett neben der Tür. Dann zeigte er in die andere Richtung. »Da ist das Bad, gleich über den Flur. Ich möchte, dass du aufs Klo gehst und dir die Hände wäschst.«

      Der Junge sah zu ihm auf. Graham begann sich schuldig zu fühlen, weil er ihn so hart anpackte, aber es ging nicht anders. Der Junge lief ins Badezimmer, in dem ein kleines Nachtlicht sanft leuchtete, und machte die Tür hinter sich zu.

      Graham gehört das Wasser laufen und wartete im Flur, bis der Junge fertig war. In der Zwischenzeit lehnte er seinen Kopf gegen eine Schranktür. Er hatte heute noch nichts gegessen. Aber selbst wenn er es versuchte, es würde nicht drin bleiben, soviel wusste er.

      Seine Gedanken wanderten zurück zum Beginn des Tages und zum Tod seines Vaters im Morgengrauen. Als er nach unten sah, stand dort Bang, der ihn stumm anblickte.

      »Bist du fertig?«

      Der Junge nickte.

      Graham ging mit ihm ins Schlafzimmer und zog die Bettdecke für ihn zurück. »Okay, rein mit dir«, sagte er.

      Der Junge kletterte ins Bett und ließ sich von Graham zudecken. »Ich gehe duschen. Du wirst hierbleiben, oder?« Bang nickte, aber seine Unterlippe zitterte. Graham versuchte, ihm über den Kopf zu streichen, aber der Junge schreckte vor seiner Berührung zurück.

      Graham schloss die Schlafzimmertür, ließ aber die Tür zum Bad offen, damit er alles mitbekam. Er betrachtete sich im Spiegel, das Gewehr noch immer über der Schulter. Er erblickte einen Mann, den er nicht kannte. Er sah verdreckt und völlig ausgebrannt aus, bar jeder Energie und Emotion. Graham schälte sich aus der schmutzigen Kleidung, drehte die Dusche auf und lehnte das Gewehr gleich daneben an die Wand. Den Duschvorhang ließ er halb offen, sodass er hinausblicken konnte. Er ließ das heiße, dampfende Wasser über seinen geschundenen Körper laufen und beobachtete, wie sich das Wasser braun verfärbte. Nachdem er den Schmutz der Gräber abgeduscht hatte, sah er im Schlafzimmer nach. Der Junge war eingeschlafen.

      Graham blieb an der Tür stehen und beobachtete das schlafende Kind. Dann bemerkte er das Buch mit Ledereinband, das oben auf dem Kinderrucksack lag. Er nahm es in die Hand und setzte sich auf sein Bett. Unter dem hellgelben Schein der Taschenlampe holte er das Buch aus dem Einband. Die ersten beiden Seiten zeigten einen Stammbaum. Ein Foto von Bang war an einem Ast ganz oben eingeklebt. An den Ästen darunter waren die Bilder und Namen seiner Vorfahren zu sehen. Unter dem, was er für koreanische Namen hielt, war sorgfältig die Übersetzung ins Englische eingetragen. Die tapfere Frau, der Bang so ähnlich sah, war eine Schönheit gewesen. Grahams Magen verknotete sich bei dem Gedanken, dass der Junge seine Mutter verloren hatte. Langsam blätterte er die Seiten um, bis ein lose gefalteter Brief zum Vorschein kam. Der Brief war an ihn gerichtet.

      Lieber Mr. Graham,

       ich schreibe Ihnen diesen Brief mit glücklichem Herzen. Ich weiß, dass Sie ein guter Mann sind und sich um meinen Sohn Bang kümmern werden. Bitte beschützen Sie ihn, und erinnern Sie ihn an seinen Vater und mich.

       Wenn er traurig ist, bitten Sie ihn, Ihnen über seine Familie zu erzählen und darüber, wer wir waren. Im Geiste werden wir mit Ihnen beiden sein.

       Ich will Ihnen ein wenig über Bang erzählen, damit Sie sich gut um ihn kümmern können.

       Wir sind koreanische Amerikaner. Mein tapferer Vater entkam den Todeslagern in Nordkorea. Bang kennt die Geschichte. Er ist fünf Jahre alt, sein Geburtstag ist der 15. Juli. Er ist in Seattle geboren.

       Er mag Autos und Tiere, hat Angst vor der Dunkelheit, und manchmal hat er böse Träume. Ich habe ihm beigebracht, dass er bei Ihnen tapfer sein muss. Er ist ein guter Jäger, was Kleinwild angeht.

      Als er das las, hob Graham den Kopf und sah zu dem Jungen hinüber. Dann wandte er sich wieder dem Schriftstück zu.

      Sein Vater und ich haben ihn gut trainiert. Er fängt Fische, jagt Enten, Hasen und Eichhörnchen. Er weiß, wie man kleine Fallen baut. In seinem Rucksack ist eine Steinschleuder, und er kann gut mit Pfeil und Bogen umgehen.

       Bang ist meist ein ruhiger Junge, aber er kann für sein Alter gut lesen und schreiben. Das Wichtigste ist, glaube ich, dass Sie ihn so sehr brauchen wie er Sie. Sie beide sind jetzt allein. Deshalb habe ich mich für Sie entschieden.

      Da war es, als wäre es die Antwort auf die Vorahnung seines Vaters: Du wirst einen Grund finden, oder der Grund wird dich finden. Offensichtlich hatte Hyun-Ok den nächsten Abschnitt zu einem späteren Zeitpunkt geschrieben, denn die Handschrift lief nun nicht mehr so weich und ruhig.

      Bitte hören Sie auf meine Warnung!

       Wenn Sie Bang mit sich nehmen und diesen Ort verlassen, muss ich Sie vor einem sehr bösen Mann namens Campos warnen. Ich habe alle, die hier noch leben, nächtelang beobachtet, um meine Entscheidung zu treffen. Campos hat zwei der wenigen Überlebenden, die die Stadt betreten haben, getötet. Wenn Sie fortgehen, dann gehen Sie bitte bei Nacht. Halten Sie sich von der Highway-Auffahrt fern. Campos lebt in dem kleinen, blaubemalten Haus neben der Tankstelle. Ich denke, er hat den Verstand verloren. Er spricht laut in verschiedenen Stimmen zu sich selbst. Er ist sehr gefährlich, und Sie sollten ihn meiden. Er hat Schusswaffen und trägt stets ein Beil am Gürtel. Er ist es, der das Feuer in dem großen Müllcontainer am Brennen hält. Er hat sogar einen der Überlebenden lebendig hineingeworfen. Wenn Sie diesen Ort verlassen, dann nehmen Sie kein Auto. Das wäre viel zu laut, Campos würde Sie finden. Er darf Sie nicht entdecken.

       Verzweifeln Sie nicht wegen derjenigen, die gestorben sind, Mr. Graham. Sie haben nun jemanden, für den Sie leben müssen.

       Ich danke Ihnen als Mutter aus tiefstem Herzen,

       Hyun-Ok

      Graham faltete den Brief zusammen und steckte ihn in das Buch zurück. Dann packte er das Buch wieder in den Ledereinband. Er war sich nicht sicher, was er von dem Jungen halten sollte. Von der Warnung war er nicht überrascht. Oft hatte er das ferne Hallen von Schüssen gehört und den schwarzen Rauch gesehen, der beinahe jeden Abend herüberwehte. Bisher hatte er keinen Grund gehabt, sich in diese Richtung vorzuwagen. Außerdem hatte sein Vater die Regel aufgestellt, dass jeder Kontakt mit der Außenwelt strikt zu meiden war. Die Familie war immer in der Nähe des Hauses geblieben, bis sie einer nach dem anderen gestorben waren. Graham hatte bis jetzt nicht einmal darüber


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