Fjorgaar - Der rote Vogel. Dorothea Bruszies

Fjorgaar - Der rote Vogel - Dorothea Bruszies


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      Erneut fand Ben sich am Ufer des silbern schimmernden Sees wieder, blickte auf die Bäume und spürte den Wind auf seiner Haut. Auch der Vogel war da. Doch diesmal saß der direkt vor Bens Füßen und blickte mit schräg gehaltenem Kopf aufmerksam zu ihm auf. Tiefschwarze Augen blitzten aus dem roten Gefieder. In ihnen lag ein Schimmer, der der unwirklichen Oberfläche des Sees glich. Der schmale, filigrane Schnabel des Tieres krümmte sich in einem schwungvollen Bogen nach unten. Am auffälligsten jedoch war der weiße Fleck auf seinem Kopf, dessen scheinbar willkürlich ausgebildete Form in Ben an einem Gefühl rührte, das er nicht zuzuordnen wusste.

      Gebannt betrachtete Ben den Vogel, der ihm fremd und vertraut zugleich erschien. Und als er sich vorsichtig zu ihm hinunterbeugte, schoss dieser mit einem lauten Kreischen in die Luft, verschwand mit schnellen Flügelschlägen hinter den Baumwipfeln. Vor Schreck war Ben einen Schritt zurückgewichen und dabei mit der Ferse an einer hervorstehenden Wurzel hängen geblieben. Mit den Armen rudernd, versuchte er sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, doch die Schwerkraft gewann.

      Mit dumpfem Knall landete Ben auf dem Boden. Der Aufprall drückte ihm jäh den Atem aus der Lunge und ließ ihn keuchend nach Luft schnappen. Dabei fiel sein Blick auf ein kleines Gebäude zu seiner Rechten, das etwas entfernt auf einer Lichtung stand. Es erinnerte verblüffend an ein altes Hexenhaus, wie es in Märchen beschrieben wird, und hätte jedem Geschichtenerzähler zweifellos Freude bereitet. Das Gefühl, etwas Entscheidendes vergessen zu haben, nagte an Ben.

      Er rappelte sich auf und ging in Richtung des Häuschens. Doch mit jedem Schritt fiel es ihm schwerer, sich fortzubewegen. Verbissen kämpfte er gegen eine unsichtbare Wand, die ihn immer stärker zurückdrängte, seinen Körper lähmte. Bald schon bewegte Ben sich nur noch in Zeitlupe voran, im Nacken das Gefühl einer zunehmenden Bedrohung. Verzweifelt versuchte er seine Glieder wieder unter Kontrolle zu bekommen, musste jedoch zu seinem Entsetzen feststellen, dass er mit diesen Bemühungen genau das Gegenteil erreichte. Je intensiver er sich anstrengte, desto langsamer schien er sich zu bewegen. Höhnisch und lockend zugleich blickte ihm das Hexenhaus entgegen. In einer letzten, verzweifelten Anstrengung warf er sich mit dem gesamten Gewicht seines Körpers in Richtung des Hauses, als auf einmal der Boden unter seinen Füßen verschwand. So plötzlich stürzte Ben ins Nichts, dass ihm der Schrei im Hals stecken blieb.

      Er wusste nicht zu sagen, ob er fiel oder schwebte, wusste nicht, wo oben war und unten. Es herrschte Finsternis, undurchdringlich und absolut. Er tastete um sich, ohne Halt zu finden, lauschte und hörte noch nicht einmal sich selbst. Nur eines wusste er mit instinktiver Sicherheit: Er war nicht alleine. Ben spürte die Gefahr wie eine kühle Berührung auf seiner Haut. Eine alles beherrschende Bedrohung, die ihn bis ins Innerste erschauern ließ. Sein Atem ging schnell und flach, das Herz hämmerte, als wolle es aus seiner Brust springen.

      Dann sah er auf einmal etwas: Das verzweifelte Gesicht eines Mannes. In den Augen einen Ausdruck unbeschreiblicher Trauer starrte er Ben an und zugleich durch ihn hindurch. Höhnisches Gelächter brach die Stille und das Gesicht des Mannes zerfiel zu Staub. Entsetzt wollte Ben dorthin eilen, wo der andere eben noch gewesen war, doch unsichtbare Hände griffen brutal nach ihm und zogen ihn nach unten.

      Ben schlug um sich, wollte schreien und brachte keinen Ton hervor. Erbarmungslos dröhnte das Gelächter in seinem Kopf. Ungekannte Angst und Hoffnungslosigkeit ergriffen Ben, zerrissen ihm die Seele. Völlig unkontrolliert liefen Tränen über sein Gesicht. Lautes Schluchzen mischte sich mit dem Lachen zu einer schrecklichen Symphonie.

      Und auf einmal war es still. Sehr still. Die Hände gaben Ben frei. Er fiel. Haltlos und blind raste er in die Tiefe. Immer weiter und weiter, und die Finsternis um ihn herum wurde zunehmend kühler. Beklemmende Feuchtigkeit legte sich auf seine Haut, hinterließ einen ekelhaft fauligen Geschmack auf seiner Zunge. Und auf einmal umgab ihn Wasser. Sehen konnte er es nicht, aber spüren. In einem erschütterten Keuchen öffnete Ben den Mund und schnappte nach Luft. Eisige Wogen drangen in seine Lunge, schmerzhaft, endgültig. »Gleich habe ich dich«, flüsterte es an Bens Ohr und ein brennend heißer Finger drückte sich schmerzhaft auf seine Brust.

      ****

      Schweißgebadet schreckte Ben hoch und wäre in einem panischen Aufbäumen beinahe aus dem Bett gefallen. Es dauerte einige Sekunden, bis er erkannte, wo er war und erleichtert aufatmete. Nur ein Traum. Es war nur ein Traum gewesen. Wenn auch sehr intensiv und erschreckend real. Er fuhr sich mit der Hand über die Wange. Sie war tränennass.

      Erschöpft ließ sich Ben auf die Matratze zurückfallen. Dem schwachen Lichtschein hinter den Rollladen zu urteilen, war es bereits Morgen – zum Glück. Ben hatte nicht das geringste Bedürfnis, jetzt noch einmal einzuschlafen. Faszinierend. Ein kleiner Albtraum und schon stehe ich freiwillig auf.

      Seine ersten Schritte führten ihn ins Badezimmer, wo er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, das unerbittlich seinen Weg über die Brust zum Bauch hinunter suchte. Unangenehm, aber durchaus effektiv. Beim Blick in den Spiegel entdeckte er etwas Seltsames auf seiner Brust: eine kreisrunde Rötung. Genau dort hatte ihn der Finger in seinem Traum berührt. Ben erschauderte. Unwillkürlich spürte er wieder den Druck auf seiner Haut und mit ihm ein erneutes Aufflammen der Furcht. Eine unsinnige und lästige Reaktion. Ben schüttelte den Kopf, schob das Unbehagen von sich und rief sich selbst zur Vernunft. Vergiss den Traum. Und was die Rötung angeht – das war ein Moskito oder sowas Ähnliches. Damit trocknete er sich ab und schlüpfte in seine Kleidung.

      Den morgendlichen Kaffee in der Hand rief Ben bei Arne an. Sie redeten über nichts im Bestimmten, schon gar nicht über den vergangenen Tag. Worte einer Entschuldigung brachte Ben nicht über die Lippen, denn diese schienen alleine in seinem Geist schon so Vieles mit sich zu bringen, das er nicht genauer betrachten wollte. Trotzdem schien Arne zumindest einen Teil dessen, was nicht ausgesprochen wurde, zu hören. Zwischen dem Beginn des Telefonats und dem Ende gewann die Unterhaltung deutlich an Leichtigkeit, und als Ben das Telefon schließlich wieder auf die Ladestation zurückstellte, lächelte er. Er wusste nicht, ob Liz inzwischen mit Arne gesprochen hatte, ob dieser vielleicht sogar den Inhalt des Briefes kannte. Und er wollte es auch gar nicht wissen.

      Ben würde sich nicht länger mit dem gestrigen Tag beschäftigen. Er würde die Albträume hinter sich lassen, und um den seltsamen Wunsch seines Großvaters konnte er sich irgendwann später kümmern. Wenn überhaupt.

      An diesem Abend ging er zuversichtlich ins Bett. Bald schon würde er sich an diesen unliebsamen Zwischenfall nur noch mit einem müden Lächeln erinnern.

      ****

      Wieder sah Ben das Gesicht des Mannes und er war hilflos gegen den Drang, dessen Züge zu mustern und jedes Detail in sich aufzunehmen. Freundliche blaue Augen, umgeben von zahlreichen Lachfältchen, eine unglaublich gerade Nase, schmale Lippen und ein kräftiges Kinn formten das Antlitz eines selbstbewussten, sympathischen Mannes mittleren Alters. Er wirkte auf seltsame Art und Weise vertraut. Fremd und doch wieder nicht. Mit dem Gefühl großer Nähe streckte Ben die Hand aus, um ihn zu berühren. Er spürte Nässe. Warm und klebrig. Blut. Es war überall. Entsetzt starrte Ben auf seine roten Finger.

      Und plötzlich stürzte er wieder, um sich herum Wasser und den quälenden Druck des Ertrinkens. Ben schloss die Augen, obwohl er sowieso nichts sehen konnte, kämpfte angestrengt gegen den Drang an, nach Luft zu schnappen. Er hielt durch bis zu dem Punkt, an dem glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, und darüber hinaus. Immer noch einen Moment, und noch einen danach. Sein Körper schrie nach Sauerstoff, der Kopf dröhnte und das Blut rauschte unerträglich laut in seinen Ohren.

      Und schließlich konnte er einfach nicht mehr anders. Ben öffnete den Mund, sog gierig Luft in seine Lunge, bis sie beinahe platzte. Er atmete und keuchte und atmete und …

      Langsam nur wurde ihm klar, dass er nicht ertrunken war, dass ihn noch nicht einmal mehr Wasser umgab.

      Zögernd öffnete Ben ein Auge und fand sich in seinem Bett wieder. Der Mond schien durch das Fenster und tauchte das Zimmer in ein beinahe höhnisch sanftes Licht.

      ****

      Wenig später, es war noch immer tiefste Nacht, saß Ben auf dem Boden seines Zimmers und war konzentriert mit dem Schreiben einer Facharbeit beschäftigt. Eine freiwillige


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