Fjorgaar - Der rote Vogel. Dorothea Bruszies

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formte sich zwischen ihnen, bis Liz schließlich auf Bens Hand deutete. »Lass mal sehen«, sagte sie, und er folgte der Aufforderung.

      Die Wunde war schmerzhaft, nun viel schlimmer sogar, da er sie wieder bewusst wahrnahm.

      Liz legte ihre Finger vorsichtig unter die seinen. »Du standest ziemlich lange regungslos da«, sagte sie, während sie Bens Hand musterte.

      »Tatsächlich?« Ben erinnerte sich an seinen Wutausbruch, erinnerte sich daran, wie er völlig die Kontrolle verloren hatte. Und dann musste der Unfall mit der Scherbe passiert sein. »Ich war in Gedanken«, log Ben. Zumindest fühlte es sich an, als würde er lügen. Was genau war passiert, nachdem er die Vase zerbrochen hatte? Ein unbehagliches Gefühl begleitete diese Frage, und Ben lenkte seine Gedanken wieder in eine andere Richtung.

      »Kannst du den Splitter herausziehen?«, fragte er und widerstand dem Drang, seine Hand schützend hinter seinem Rücken zu verbergen.

      »Die Frage ist vielmehr, ob ich es tun sollte.« Liz legte ihren Daumen auf Bens Finger, so dass sie seine Hand nun in einem vorsichtigen Griff hielt. »Ich will es nicht versehentlich schlimmer machen«, stellte sie fest.

      Und war dies nicht ein Satz, den sie häufiger für sich verwenden könnte? Ben entzog ihr seine Hand und trat einen Schritt zurück.

      »Was hast du vor?«, fragte sie sofort.

      »So schön es auch sein mag, einen Glassplitter aus der Handfläche ragen zu haben …«

      »Ben …«

      Er ignorierte ihren Einwurf. »Irgendjemand muss das Ding entfernen und ich werde es bestimmt nicht selbst tun.« Ungebeten entfaltete sich das Bild von Liz’ umweltschützendem Superman vor Bens Augen. Der Kerl mochte gesichtslos sein, hatte jedoch die Ausstrahlung ungemeiner Attraktivität und vor allem Heldenhaftigkeit, während er eine klaffende Wunde in seiner sonst perfekten Haut zunähte. Selbstverständlich tat er dies mit einer stumpfen Nadel.

      Ben schüttelte den Kopf und vertrieb die Vorstellung, die in einen schlechten Actionfilm gehörte. Nicht in seine Fantasie und schon gar nicht in die Realität.

      »Ich gehe zum Arzt«, sagte er und machte sich daran, zu gehen.

      Liz folgte ihm nicht nur, sondern war vor ihm an der Tür. »Ich komme mit.«

      Während Ben ihr nachkam, war er sich nicht sicher, was genau er empfinden sollte. Auf jeden Fall schien ihm Liz sein vorheriges Verhalten vergeben zu haben, auch wenn er sich nicht entschuldigt hatte. Ich sollte es dennoch tun, dachte er und wollte an sich nur vergessen, was geschehen war, und am besten nie darüber sprechen.

      ****

      Liz davon abzuhalten, ihn nach dem Arztbesuch wieder nach Hause zu begleiten, wäre Ben vermutlich kaum möglich gewesen. Aber er wollte, wenn er ehrlich war, auch erst gar nicht den Versuch unternehmen.

      So, wie der akute Schmerz in seiner Hand einem langsamen, dumpfen Pochen gewichen war, schien auch seine vorherige Aufgebrachtheit in die Ferne gerückt zu sein. Ben war sich absolut sicher, keine Beruhigungstablette zu sich genommen zu haben, doch er fühlte sich, als hätte er es getan.

      Und das war in Ordnung. Sein momentaner Zustand erschien ihm sehr viel angenehmer als das Bedürfnis, seine Wohnungseinrichtung in Kleinteile zu zerlegen. Wenn nur nicht die Müdigkeit gewesen wäre, die nun an ihm zerrte.

      »Hey«, sagte Liz aus dem Nichts heraus und gab Bens Schulter einen Stoß mit der ihren. Sie stand schon seit geraumer Zeit neben ihm inmitten seines Wohnzimmers, wurde ihm auf einmal bewusst. Ben musste in Gedanken versunken gewesen sein. Was seltsam war, denn er konnte sich an keine spezifischen Gedankengänge erinnern.

      »Wenn du willst, kannst du ihn lesen«, hörte Ben sich selbst sagen.

      Liz fragte nicht, ob er von dem Brief spreche. »Bist du dir sicher?«, hakte sie stattdessen nach, als sei dies die Frage mit einer weniger offensichtlichen Antwort.

      Klar. Warum auch nicht. Die Worte lagen auf Bens Zunge. Ebenso wie: Nein, ich bin mir nicht sicher. Keine Ahnung, warum ich es dir überhaupt angeboten habe.

      »Lies ihn«, sagte er schließlich. »Aber ich werde nicht darüber sprechen.« Bitte belasse es dabei.

      Liz schürzte die Lippen. »Irgendwann wirst du darüber reden müssen.«

      »Oder du kannst auch einfach wieder gehen.« Ben gab seine ohnehin grundlose Position in der Mitte des Wohnzimmers auf, stieg über die Scherben der Vase hinweg und ließ sich auf das Sofa fallen. Seine Wortwahl hätte eine Drohung oder eine Anschuldigung in sich tragen können, doch, ehrlich gesagt, wusste er selbst nicht, was er hatte ausdrücken wollen. Mit einem Zucken seines Mundwinkels gab er Liz ein vorsichtiges Lächeln.

      Und sie bückte sich wortlos nach dem Brief und hob ihn auf.

      Ben legte den Kopf auf die Rückenlege des Sofas. Er schloss die Augen. Müdigkeit hielt ihn unverändert umschlossen, doch er glitt nicht in einen kurzen Schlaf hinüber. Stattdessen erschien die Gestalt seines Großvaters vor seinem inneren Auge.

      Abgemagert war der alte Mann kurz vor seinem Tod gewesen. Alt und zerbrechlich, die Haut wie dünnes Pergament. Der Geist immer wirrer und die Augen verschleiert vom Grauen Star, hatte er Tag um Tag im Krankenbett gelegen.

      Manchmal hatte er seinen Enkel erkannt, manchmal nicht und der leere Blick des Großvaters war Ben unerträglich gewesen.

      Niemand hatte damals die ausschlaggebende Ursache für das Sterben des alten Mannes benennen können. Es hatte keine zugrunde liegende Krankheit gegeben. Vielmehr hatte sein Körper den Anschein erweckt, als altere er mit unnatürlicher Geschwindigkeit.

      »Ich will nicht, dass du stirbst«, hatte Ben seinem Großvater einmal gesagt. »Ich hasse dich!«, hatte er ihm ein anderes Mal entgege geschleudert.

      Letztendlich hatte niemand, schon gar nicht Ben, das Unvermeidliche abwenden können. An einem Abend hatte sein Großvater nur noch mit starrem Blick, mit rasselndem Atem und dem Keuchen einer zerstörten Lunge dagelegen. Am darauffolgenden Tag war er tot gewesen.

      Auch als das Sofa unter dem Gewicht eines zweiten Körpers nachgab, hielt Ben seine Augen weiterhin geschlossen.

      »Ich bin fertig«, hörte er Liz’ Stimme neben sich.

      »Ich auch.«

      In seinem Wortspiel klang offensichtlich kein Amüsement mit und Liz’ Antwort ließ untypischerweise einige Zeit auf sich warten. Ben spürte die Unruhe seiner Freundin in den leichten Bewegungen der Sofasitzfläche.

      »Soll ich bleiben, oder wärst du lieber alleine?«, fragte sie schließlich.

      »Ja.«

      »… was –«

      »Alleine klingt gut«, stellte Ben klar. Auch wenn er sich nicht gänzlich sicher war, ob diese Antwort der Wahrheit entsprach.

      Vielleicht würde er sich nun einfach hinlegen und versuchen, etwas Schlaf zu finden.

      ****

      Bevor Ben zu Bett ging, legte er sich aus einem plötzlichen Impuls heraus das Amulett um den Hals. Es hat meinem Vater gehört.

      Wenige Momente später versuchte er, es wieder abzunehmen, aber der Verschluss rutschte immer wieder aus dem Griff seiner Finger. Ben fluchte lauthals, riss an der Kette und fluchte erneut, als sie in die empfindliche Haut seines Halses schnitt. Tief einatmend zwang er sich zur Ruhe, widmete sich noch einmal dem Verschluss. Und auch als in ihm das irrationale Gefühl, ersticken zu müssen, aufstieg, zwang er sich dazu, nicht schon wieder die Kontrolle zu verlieren. Letztendlich dauerte es nicht lange, bis Ben Erfolg hatte und das Amulett mitsamt Kette zu Boden fiel. Er bückte sich danach, nahm es in die Hand und hielt inne. Mit dem Daumen strich er über das Blau des gemalten Kreises und über den gleichfarbigen Edelstein, spürte den Widerstand und die minimalen Übergänge von glatt zu uneben und wieder zurück zu glatt.

      Ben blieb in der Hocke, bis seine Beine zu schmerzen anfingen. Dann stand er auf und legte sich das


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