Fjorgaar - Der rote Vogel. Dorothea Bruszies

Fjorgaar - Der rote Vogel - Dorothea Bruszies


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sich bei den Lehrkräften beliebt zu machen oder danach strebten, der Beste unter den Besten zu sein. Ebenso wenig gehörte er zu jenen, die überhaupt ein nennenswertes Interesse an ihrem Studium zeigten. Ben war schon immer ausgesprochen gut im Lösen mathematischer Probleme gewesen und für jeden, der ihn kannte, hatte es außer Frage gestanden, für welche akademische Karriere er sich entscheiden würde. Und tatsächlich hatte Ben auch nicht einen Moment lang gezögert, sich für ein Mathematikstudium einzuschreiben. Was sonst hätte er tun sollen? Es war der nächste logische Schritt in seinem Leben.

      Bestimmt würde es ihn irgendwann auch weniger Überwindung kosten, die Vorlesungen aufzusuchen, sich auf Prüfungen vorzubereiten und Hausarbeiten zu schreiben. Dieser Tag war definitiv noch nicht gekommen, auch wenn der Anschein ein anderer sein mochte. Ben brauchte schlichtweg eine Möglichkeit, sich abzulenken.

      Um ihn herum lagen etliche geschlossene, teilweise auch aufgeschlagene und achtlos zur Seite gelegte Bücher, die er sich in einem spontanen Entschluss aus der Stadtbibliothek geholt hatte. Dazwischen lugte das eine oder andere Blatt Papier hervor. Zerknüllte, mehr oder weniger beschriebene Zettel zierten das Chaos, als wären sie soeben aus den Wolken gefallen. Dass sie jedoch nicht von dort, sondern aus Bens Hand kamen, bewies sich in diesem Augenblick, als ein neues Papierknäul seinen Platz zwischen den Büchern fand. Verärgert griff Ben nach einem leeren Blatt. So sehr er sich auch anstrengte, voranzukommen, gelang es ihm doch noch nicht einmal, eine halbwegs vernünftige These zu formulieren. Alles schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Immer wieder verschwammen Wörter, Formeln und Zahlen vor seinen Augen und vermischten sich zu einem unkenntlichen Wirrwarr, das mit dem Chaos in seinem Zimmer beinahe gleichzusetzen war. Gähnend griff Ben erneut mit der rechten, unverletzten Hand nach seinem Kuli und startete einen erneuten Versuch. Doch wieder entzogen die Zahlen sich ihm und vergingen sich in unsinnigen Possen und Narreteien.

      Schließlich gab Ben frustriert auf und schaltete den Fernseher an, in der Hoffnung, eine interessante Sendung zu finden oder zumindest irgendeine, mit der er sich die Zeit vertreiben konnte. Als endlich die Sonne am Horizont ihre Rückkehr ankündigte, hatte Ben sich etliche Male durch alle Sender gezappt und hing inzwischen mehr in seinem Sessel, als dass er saß, zu träge, um den Sender erneut zu wechseln. So kam er in den Genuss einer Dauerwerbesendung, die ihn soeben voller Begeisterung von einem unglaublich praktischen und beeindruckend einzigartigen Topfset überzeugen wollte. Ben schielte in Richtung Uhr. Die Zeiger standen auf halb sieben. Montagmorgen. Ob er zu dieser Zeit schon bei Liz auftauchen konnte? Immerhin gehörte sie zu diesen unerträglichen Frühaufstehern. Ein kleines Lächeln stahl sich auf Bens Züge. Vermutlich wäre sie sogar schockiert über sein morgendliches Erscheinen, würde mit dem anstehenden Ende der Welt rechnen und … Das Lächeln verlor sich in missmutigem Stirnrunzeln. Und sie würde ihm nicht ein Wort glauben, wenn er ihr versicherte, gerade zufälligerweise in der Gegend gewesen zu sein. Klüger wäre es, noch mindestens zwei Stunden verstreichen zu lassen. Doch damit stieg die Gefahr, wieder einzuschlafen und seine Anstrengungen der vergangenen Nacht, eben das zu verhindern, wären zunichte. Zudem würde Liz ihn darauf ansprechen, dass er eigentlich eine Vorlesung habe und warum er nicht dort sei und so weiter und so fort. Und, gut, er würde heute ohnehin nicht zur Uni gehen, aber dafür rechtfertigen wollte er sich nun wirklich nicht.

      Mit fast unmenschlicher Willensanstrengung kämpfte Ben sich aus dem Sessel ins Badezimmer, wo ihn eine eiskalte Dusche qualvoll und nur ungenügend von der Trägheit befreite. Zudem tat eine Tasse Kaffee, in der die dunkle Flüssigkeit ausnahmsweise deutlich überwog, ebenfalls nicht das Ihrige.

      Ben konnte sich nicht des Gefühls erwehren, schon seit unerträglich langer Zeit nicht mehr wirklich wach gewesen zu sein, und er hasste es.

      Kurze Zeit später war er weder dazu bereit, die Wohnung zu verlassen, noch dazu, sich in den frühen Morgen zu stürzen. Er ging dennoch los.

      Liz wohnte nur wenige Gehminuten entfernt im Keller ihrer Eltern, wo sie sich eine kleine gemütliche Wohnung eingerichtet hatte – natürlich mit eigener Haustür. Die Tatsache, dass sie, wenn auch räumlich getrennt, noch immer bei ihren Eltern wohnte, behielt Liz möglichst für sich. Auch wenn sie die deutlichen Vorzüge dieser Situation nicht von der Hand weisen konnte. Ben hingegen sah kein Problem in ihrer Wohnsituation, vor allem auch deshalb, da er durch die geringe Entfernung nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen war.

      Als er nach einem Fußmarsch von zehn Minuten vor Liz’ Tür stand und klingelte, wurden all seine Erwartungen übertroffen. Einige Zeit passierte gar nichts, dann hörte Ben ein Rascheln hinter der Tür, gefolgt von lautem Poltern und einem unterdrückten Fluch. Die Tür öffnete sich und Liz blickte ihm mit verschlafenem Gesicht entgegen. Es war ihm tatsächlich gelungen, sie aus dem Bett zu klingeln. Ben war hin und her gerissen zwischen Schuldgefühl und Triumph. »Einen wunderschönen guten Morgen!«, grinste er ihr trotz seiner eigenen Müdigkeit in typischer Liz-Manier entgegen und erntete einen vernichtenden Blick.

      Sie trat zur Seite und ließ ihn eintreten. »Setz dich hin und benimm dich«, befahl sie und verschwand im Badezimmer.

      Ben machte es sich auf ihrem Sofa bequem, legte den Kopf auf die Rückenlehne und starrte an die Holzdecke. In den Astlöchern und Maserungen ließen sich allerlei seltsame Figuren erkennen. Arne hätte seine Freude daran gehabt.

      Ben strich über den samtenen Stoff der Couch und genoss das leichte Kribbeln in seiner Handinnenfläche. Seufzend schloss er die Augen. Aus dem Badezimmer drang das Geräusch der Dusche zu ihm hinüber, ein gleichmäßiges Plätschern, unterbrochen von dem Poltern einer herunterfallenden Haarshampoo-Flasche. Zumindest vermutete er, dass es sich darum handelte. Er spürte, wie die Anspannung langsam aus seinem Körper wich. Das Plätschern des Wassers hörte sich plötzlich sehr fern an und seltsam dumpf. Und hinter seinen geschlossenen Augen bewegten sich Schatten und Formen wie vergessene Bilder ohne Dringlichkeit, ohne Sinn und –

      Auf einmal schreckte Ben auf. Liz saß ihm gegenüber, beobachtete ihn mit undefinierbarem Blick.

      »Was …?«, verwirrt griff er sich an den Kopf, blinzelte, runzelte die Stirn, »Habe ich etwa geschlafen?«

      »Ja, das hast du.«

      »Oh.« Verlegen rutschte Ben auf der Couch hin und her. »Lange?«

      »Etwa zwei Stunden«, erwiderte Liz und starrte ihn noch immer an. »Ben? Erst tauchst du hier frühmorgens auf, was du noch nie zuvor getan hast. Dann schläfst du auf meiner Couch ein.« Sowohl ihr Blick als auch ihre Stimme stellten all die Fragen, die sie nicht ausgesprochen hatte. Eine Erklärung war eindeutig vonnöten.

      Aber Ben war nicht hier, um Reden zu schwingen oder Geständnisse abzulegen. Und mit einem Mal wusste er nicht mehr, warum er überhaupt so verrückt gewesen war, seine Wohnung zu verlassen.

      »Wann musst du heute zur Arbeit?«, fragte er schließlich, um die Stille zu brechen und in der heimlichen Hoffnung, dass die Antwort: »Jetzt gleich«, lauten würde.

      »Gar nicht«, sagte Liz.

      »Oh, gut.« Ben wich Liz’ Blick aus. »Trifft sich ja perfekt.«

      »Allerdings«, sagte Liz. Mit einem Mal schien sie so kurz angebunden zu sein wie selten.

      »Dann sollten wir unbedingt was machen«, schlug Ben mit einem Enthusiasmus vor, den er nicht empfand. »Worauf hast du Lust? Sag was, und wir machen es.«

      Zu seiner ungemeinen Erleichterung nickte seine Freundin. Vielleicht würde sie ihn doch mit ungebetenen Fragen verschonen.

      »Okay«, unterstrich Liz ihr Nicken. »Was ich machen möchte … Reden. Ich würde gerne wissen, was mit dir los ist.«

      Vielleicht würde sie ihn auch nicht verschonen. Mit einem Mal konnte Ben ihren Blick nicht mehr ertragen. Wortlos stand er auf und ging in Richtung Küche. Er trat über die Türschwelle und hätte am liebsten die Tür hinter sich geschlossen. Betont ruhig öffnete er einen der Drehschränke und nahm eine Saftflasche heraus. Er holte ein Glas, goss sich Saft ein, nahm einen Schluck. All dies geschah mit langsamen, konzentrierten Bewegungen, die nichts weiter zeigen sollten als Gelassenheit.

      Dann zwang er sich dazu, sich umzudrehen. Liz war ihm nicht gefolgt. Erleichtert


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