Das Glück ist immer da! Heitere Geschichten und Plaudereien. Otto Ernst Schmidt

Das Glück ist immer da! Heitere Geschichten und Plaudereien - Otto Ernst Schmidt


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ein reines Kinderspiel, und vollends für mich, der ich von jeher mäßig zu leben gewohnt sei.

      Morgen, gleich morgen, solle ich mit der Kur beginnen, hatte der Arzt befohlen. Dieser Abend war also noch mein. Ich traf in der Kaiserstraße einen alten Freund, der mir ein Lokal bezeichnete, in dem er jeden Abend mit einigen vergnügten Leuten zusammentreffe und wo es ein vorzügliches Pilsner Bier gebe. »Pilsner Bier hat nämlich eine mild laxierende Wirkung,« erklärte er mir. Und in der Tat: Pilsner Bier hatte mir ja sogar mein Arzt gestattet. Außerdem wäre es mir als unnötige Schroffheit erschienen, die Einladung dieses lieben Menschen abzulehnen; ich ging also mit und trank einige Krügel. Ich fühlte wirklich, wie mir immer leichter wurde, und wie auf Flügeln schwebte ich um Mitternacht nach Hause.

      Um sechs Uhr war ich auf den Beinen, um halb sieben am Brunnen. In langer Prozession wallten die Kurgäste, jeder ein Glas in der Hand, zur Quelle. Wo eine Lücke war, wollte ich mich anspruchslos und unauffällig dem Ganzen einfügen; aber sofort bedeutete mir ein Aufseher, daß ich mich ganz am Ende anschließen müsse. Nach zehn Minuten kam ich zur Quelle und erblickte dort ein merkwürdiges Naturspiel: einen Mann, der fortwährend pumpte und dabei untertänig grüßte. Die Leute, die pumpen, grüßen sonst ganz anders. Ich erhielt mein wohlgefülltes Glas, schüttete das vorgeschriebene Salz hinein und setzte es an den Mund. Mit ungeheurer Spannung kostete ich dies Getränk. Es schmeckte wie Niedertracht mit Gemeinheit. Es ist mir immer Grundsatz gewesen, widrige Dinge, die geschluckt werden müssen, mit zugedrückten Augen und mit einem Schluck und Druck hinunterzusetzen. Aber das war hier verboten. Zehn Minuten lang solle ich an dem Becher trinken, hatte der Arzt befohlen. In solchen zehn Minuten büßt man vieles ab. Freilich macht eine recht gute Kurkapelle Musik dazu. Aber es ist nicht das Richtige, wenn man Mozarts Champagnerlied mit auf die Weste herabhängenden Mundwinkeln anhört; es ergibt eine falsche Auffassung, wenn man sich bei dem Seufzer

      »O–o–o De–li–la!«

      nach dem Bauche greift. Nach dem ersten Glase trank ich ein zweites und ein drittes. Sehr sinnig schließt das Konzertprogramm regelmäßig mit einem Galopp.

      Dann kam der anderthalbstündige Spaziergang in die allerdings höchst anmutige und erfrischende, berg- und waldgeschmückte Umgebung Marienbads. Der Reiz der unbekannten Landschaft ließ mich die materiellen Dinge dieser Welt vergessen, bis ich durch ein nahes Gebüsch das Geklapper von Tassen und Teelöffeln vernahm. Die Umgebung von Marienbad ist mit verführerischen Cafés geschwängert; »freudig hingezogen« trat ich ein und bestellte mein Frühstück. Auch hier wurde Musik gemacht, aber nicht zur Milderung, sondern zur Verschärfung der Kur. Nach einer äußerst regellosen Carmen-Phantasie wollte ich gerade mein Ei und meinen Zwieback genießen, als ich inne ward, daß ich sie schon verzehrt hätte. Mit männlicher Entschiedenheit sprang ich auf und wanderte meiner Wohnung zu, um ein wenig zu ruhen, ein wenig an meinem Trauerspiel »Ugolino« zu arbeiten und mich auf das kohlensaure Bad mit kalter Abwaschung und Massage vorzubereiten.

      Beim Mittagessen saß mir gegenüber ein Mann, der jedes Mitgefühls bar ein Menü von sechs Gängen aß. Um mich zu kasteien, las ich das ganze Menü durch, einem Athleten gleich, der, mit Kopf und Füßen auf zwei Stühlen liegend, sich immer neue Zentnergewichte auf die Brust legt. Ueber dem Menü stand geschrieben:

      »Ohne weitere Auswahl!!!!!!!«

      Mit sieben Ausrufungszeichen; ich habe sie gezählt.

      »Kann ich für den Kalbsbraten auch was andres haben?« fragte mein Gegenüber.

      »Aber natierlich!« versetzte der Kellner.

      Da fragte ich mich: Wieviele Ausrufungszeichen macht man in diesem Lande hinter einem Gesetz, das wirklich unumstößlich ist?

      Den ausfallenden Mittagsschlaf mußte ich nach Anordnung des Arztes durch eine vierstündige Fußwanderung ersetzen. Sie durfte unterbrochen werden durch eine Tasse Tee. »Mit einem Zwieback,« hatte der Arzt in einer Anwandlung von Schwäche hinzugefügt.

      Ich wanderte viereinhalb Stunden, trank ein Glas Kreuzbrunnen und genoß zu Abend eine Fleischspeise, ein Gemüse oder Kompott und ein Krügel Pilsner. Gehorsam ist des Christen Schmuck.

      Ein unvergleichlicher Trost in solchen Zeiten der Depression ist eine gute Hamburger oder Bremer Zigarre. Leider hatte ich mir nur einen winzigen Vorrat mitnehmen können, weil Zigarren an der österreichischen Grenze einen ungeheuren Zoll kosten.

      Wie ein artiges Kind schlüpfte ich gegen zehn Uhr ins Bett, und diese Lebensweise setzte ich fünf Tage lang ohne nennenswerte Schwankungen fort. Nur hatte ich mir am dritten Tage beim Frühstück gesagt: »Die paar Tropfen Sahne, die zum Tee serviert werden, könntest du eigentlich mitnehmen. Zwar: Sahne macht fett. Aber ich erinnere mich vollkommen deutlich, daß der Arzt nicht gesagt hat: »ohne Sahne«. Der Mann war sehr genau in seinen Vorschriften; hätte er die Sahne verbieten wollen, so hätte er es zweifellos getan. Er hat sie also erlaubt, und da ich mich strengstens nach seinen Vorschriften richten will, so muß ich sie eigentlich nehmen. Es ist zwar nur ein Fingerhütchen voll; aber es ist etwas mehr.« Seit diesem Tage nahm ich Sahne zum Tee.

      Als fünf Tage herum waren, sollte wieder gewogen werden. Ich habe in meinem Leben verschiedene Examina durchgemacht; aber mit so feierlicher Spannung, mit so freudig-banger Erregung bin ich keiner Prüfung entgegengegangen wie dieser. Ich schwankte lange, welcher Wage ich mich anvertrauen solle; endlich trat ich in einen Laden, legte Hut, Ueberzieher, Handschuhe, Gummigaloschen, Portemonnaie, Taschenmesser, Uhr und Schlüsselbund ab und bestieg den Schicksalsstuhl.

      »92 Kilo,« sagte die wägende Themis.

      »Den Zettel!« stotterte ich.

      Da stand es schwarz auf weiß: »92 Kilo!« Also ein Gewichtsverlust von 3,1 Kilo, von 6⅕ Pfund, von 3100 Gramm! Die Tugend hatte ihren Lohn gefunden; Geist und Wille hatten über die Erdenschwere gesiegt! »Hurra!« flüsterte ich auf der Straße vor mich hin. »Hurra! Darauf kann ein vergnügter Abend stehen!«

      Ich suchte meinen Freund auf und das famose Pilsner-Lokal. Ich konnte mein Glück nicht für mich behalten; ich mußte mich mitteilen, und noch eh' ich Hut und Mantel abgelegt hatte, rief ich: »Sechs Pfund! Sechs Pfund verloren! Der ehrliche Finder soll sie behalten! Wie steh' ich nun da?«

      »Was?« schrie mein Freund. »Sechs Pfund in fünf Tagen? Menschenskind, sind Sie denn des Deubels? Wissen Sie auch, daß Sie sich dabei den schönsten Herzklaps holen können?«

      Ich erschrak und griff unwillkürlich nach der Speisenkarte. Mein Auge fiel auf: Filetbraten mit Makkaroni. Und mir ward, als spräche der Herr: »Es sammle sich alles Wasser unter dem Himmel,« und mein Mund wäre der Sammelplatz. »Donnerwetter,« stöhnte ich, »Makkaroni ess' ich so gern; aber sie setzen Fett.«

      »Nanu?« machte mein Freund, »Makkaroni? Sie sind doch in Italien gewesen. Wo sieht man schlankere, sehnigere Gestalten als in Italien? Und das lebt den ganzen Tag von Polenta und Makkaroni.«

      Ich muß gestehen: ich hatte einen Augenblick den Argwohn, daß mein Freund mich verführen wolle; aber ich schämte mich sofort dieser häßlichen Regung und bestellte mir Filetbraten mit Makkaroni und reichlichem Käse.

      Als ich schwankte, ob ich mir ein drittes Glas Pilsner bestellen dürfe, fragte mich mein Freund:

      »Wieviel hat Ihnen denn Ihr Arzt erlaubt?«

      »Einen Krug,« versetzte ich.

      »Macht vier,« sagte er.

      »Wieso?«

      »Nun, wenn er Ihnen einen gestattet, so nimmt er an, daß Sie zwei trinken; ein guter Arzt gestattet seinem Patienten aber nur dann zwei Krüge Bier, wenn er weiß, daß ihm auch viere nicht schaden.«

      »Ja, ein guter Arzt ist er,« rief ich, »er hat auf mich den Eindruck eines sehr intelligenten und gewissenhaften Mannes gemacht.«

      »Na also!« rief mein Freund, und ich bestellte zunächst das dritte Glas. –

      Am nächsten Morgen erschien ich erst um halb neun am Brunnen, weil ich erst um acht Uhr aufgestanden war. Der Morgenspaziergang fiel daher aus; das Gefühl der Sättigung


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