Das Glück ist immer da! Heitere Geschichten und Plaudereien. Otto Ernst Schmidt

Das Glück ist immer da! Heitere Geschichten und Plaudereien - Otto Ernst Schmidt


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Junge und keine Ziege. Sie harrte geduldig bis in den sinkenden Abend und sagte dann: »Na, er hat wohl keine Zeit gehabt: er kommt morgen gewiß; er hat es mir ganz fest versprochen.«

      Allein der meineidige Bube kam auch am folgenden Tage nicht. Roswitha suchte ihn durchs ganze Dorf, viele Stunden lang, aber vergebens; nach seiner Wohnung hatte sie im Taumel der Freude nicht gefragt. Sie ging schweigend zu Bett; aber als meine Frau sie in der Frühe weckte, war ihr Kopfkissen naß von Tränen.

      »Hast du heute nacht geweint, Kind?« fragte die Mutter.

      »Ich weiß nicht,« antwortete Roswitha. Sie wußte es wirklich nicht.

      Inzwischen war ein provisorischer Stall gezimmert worden, und es war die Nachricht eingetroffen, ein Bauer im Dorfe habe Ziegen zu verkaufen. Da zogen Herta, Roswitha und Männe mit einem Blockwagen aus, um eine Ziege zu suchen, und fanden ein Königreich. Eine gute halbe Stunde später – Männe als Läufer mit fliegender Zunge vorauf – hielt Höppli (so wurde er der Kürze wegen genannt), von den beiden Mädeln gezogen, im Triumphblockwagen seinen Einzug. Seinen Einzug; Höppli war nämlich ein kleiner Bock.

      Ich muß gestehen, daß mich bald ein Reuegefühl über meine lange, hartnäckige Weigerung ergriff. Es war ein schneeweißes und wirklich allerliebstes Tierchen; Roswitha hängte ihm ein seit Jahren bereit gehaltenes, gesticktes Halsband mit einem Glöckchen um, und in seinen Sprüngen war der ganze, entzückend ahnungslose Humor eines jungen Mannes. Und wenn Roswitha das Tierlein auf den Schoß nahm und ihm die Saugflasche gab, und Männe die vorbeifließenden Tropfen leckte, dann versammelte sich nicht nur die ganze Familie zu dieser feierlichen Handlung, nein, die Leute auf der Straße blieben staunend stehen und riefen: »Nein, wie ist das reizend!« Dann sprang Roswithas Herz genau wie das Böcklein.

      Wenn aber Höppli durch die Straßen spazieren sprang, dann folgte ihm ein Ehrengeleite von 23 Nachbarskindern, ganz wie bei einem Kaiser oder König, und besonders dekorativ wirkte Peter Petersen in Helm und Panzer der Gardekürassiere und mit dem Daumen im Munde. Höppli war die Sensation der Straße, war der Clou der Saison, und als das 23er-Kollegium erklärte, Höppli sei noch viel schöner als jene Nachbarsziege, die inzwischen eine alte Ziege geworden war, da stand Roswitha auf dem Gipfel ihres Glückes.

      Indessen: Roswitha hatte täglich drei oder vier Stunden Unterricht bei der Mutter, mußte außerdem Klavier spielen, gelegentlich zum Turnen oder Zeichnen gehen und auch sonst allerlei außer dem Hause besorgen. Es fiel Höppli nicht im Traume ein, sich das stillschweigend gefallen zu lassen; er verlangte Gesellschaft. Zwar widmete Männe sich ihm mit der weisen Nachsicht und Güte eines gereiften Pädagogen; aber Höppli verlangte Damengesellschaft. Und wenn die nicht da war, so begann er augenblicklich in Zwischenräumen von vier Sekunden zu meckern. Das fanden wir während der ersten zehn Minuten furchtbar komisch, während der zweiten langweilig, während der dritten lästig und während der vierten zum Rasendwerden. Und Höppli wuchs, und mit ihm wuchs seine Stimme. An der Hand meines Chronometers stellte ich fest, daß er 15 mal in einer Minute meckerte, das macht in der Stunde 900; wenn man täglich nur sechs Stunden des Alleinseins rechnete, für den Tag 5400, für die Woche 37 800 mal.

      Die Klavierstunden mußten abgebrochen werden; ein Musizieren war natürlich nicht möglich. Meine Frau mußte mit ihrer Schülerin in den bombenfesten Vorratskeller flüchten. Ich zog mich, um arbeiten zu können, ins hintere Turmzimmer zurück, allein vergeblich; wenn ich auch physisch kein Meckern vernahm, mein inneres Ohr hörte pünktlich jede vierte Sekunde ein deutlich vernehmbares »Mäh!« Drei lyrische Produkte dieser Zeit kamen tot zur Welt; ein Roman starb als Embryo, ein Trauerspiel bereits im Keime. Nicht jeder Bocksgesang wird zur Tragödie: das hatte ich schon vorher an der erotischen Dramatik unserer Tage wahrgenommen.

      Aber das alles war noch Kinderspiel. Hübsch wurde es erst, als die Nachbarschaft – und mit Recht – sich empörte. Der Nachbar zu unserer Linken holte sein Grammophon, das er mir zu Gefallen eingewickelt hatte, wieder hervor, stellte es ans offene Fenster und ließ es zehnmal stündlich »Das Herz am Rhein« singen. Ein anderer brannte allabendlich Kanonenschläge ab, die sehr gut gearbeitet sein mußten. Ein dritter, der ein fabelhaft stimmbegabtes Baby hatte, stellte es in seinem Kinderwagen hart an den Zaun meines Gartens. Es schrie etwas abwechslungsvoller als der Ziegenbock, und das erfrischte vorübergehend; aber auf die Dauer wurde es doch eintönig und so lästig, daß ich verzweiflungsvoll zu meiner Frau sagte:

      »Jetzt haben wir uns gefreut, daß wir kein Babygeschrei mehr um die Ohren haben; aber wenn's doch den ganzen Tag brüllt, dafür können wir selbst eins haben!«

      »Ja,« sagte meine Frau.

      Ich hätte ja das Tier während der Nacht heimlich wegbringen und am Morgen sagen können, es sei entlaufen; aber vor den Augen eines Kindes Komödie spielen – das ist schwer und schlimm. Es war auch nicht nötig: Roswitha hatte bereits eingesehen, daß Höppli sich durch sein Benehmen unmöglich mache. Eine ihrer Freundinnen erklärte sich mit Freuden bereit, das Böcklein zum Geschenk zu nehmen – kein Augenblick meines Lebens hat mich freigebiger gefunden. Unverzüglich wurde Höppli zur Bahn befördert; wer schnell gibt, gibt doppelt.

      Als aber durch den Novembernebel von weitem das Weihnachtsfest herandämmerte, da schrieb Roswitha auf ihren Weihnachtswunschzettel:

       Ein Kaleidoßkob.

       Ein Indianer-Anzug.

      ×××××××Das Versprechen, das ich im Sommer wieder auf 14 Tage eine Ziege haben darf.

      (Die sieben Kreuze sollten diesen Wunsch entsprechend hervorheben.)

      Ueber eines bin ich vollkommen beruhigt: Dieses Kind wird in seinem Leben etwas erreichen, wenn auch vielleicht keine vollkommen tadellose Orthographie.

      Und über noch eines bin ich mir vollkommen klar: Sie ist ein Weib. Wenn es nicht ohnedies feststünde – ihr Kampf um die Ziege macht ihre Weiblichkeit evident. Ich habe erwogen, ob ich diese kleine Geschichte nicht überschreiben solle:

      »Die Ziege« oder »Das Weib«.

      In Roswithen ist jenes Weibliche der Lady Macbeth, das einen rauhen Kriegsmann herumkriegt, jenes Weibliche der Gräfin Terzky, das ein Loch in einen Wallenstein bohrt, jenes Weibliche der Kriemhild, das einen Attila bezwingt. Gewiß: Roswithens gutes, weiches Herz wird niemals zum Hochverrat, wird niemals zum Königs- und Burgundenmord aufstacheln; aber »formal« ist sie eine Lady Macbeth. Natürlich ist ihre Weibnatur noch unentwickelt. Sie würde noch unumwunden zugeben, daß sie sich sehnlichst eine Ziege gewünscht habe. Ein vollkommenes Weib wird sie erst dann sein, wenn sie auf die entsprechende Vorhaltung weit aufgerissenen, starr blickenden Auges und nach zehn Sekunden staunenden Verstummens ausrufen wird:

      »Ich mir eine Ziege gewünscht? Ich? Aber keine Idee, Liebling! Wie kommst du nur darauf?!«

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