Der Würfel. Bijan Moini

Der Würfel - Bijan Moini


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Als sie den Oberkörper zu ihm beugte, blieb Taso steif stehen, obwohl er sie gern umarmt hätte. Dalia trat zurück, verlegen blieben sie voreinander stehen und sahen sich an. Die Ansätze von Krähenfüßen um Dalias Augen waren neu, auch ihre Haare waren dunkler und deutlich länger als früher, ihre Lippen leuchteten knallrot. So manche gesliftete Frau würde neidisch bei ihrem Anblick.

      Peinlich berührt blickte Taso an seinem Wintermantel hinunter auf die Ledersandalen. Selbst nackt sähe er besser aus.

      Die Drohnen über ihnen sanken tiefer, ihre gierigen Linsen brannten sich in Tasos Kopfhaut. Die kleinere flog zur Seite, um sein Gesicht zu filmen, als spürte sie, dass daran gerade etwas Interessantes abzulesen war.

      Er griff nach Dalias Rucksack. »Darf ich?«

      Dalia wirkte irritiert. Sie hatte offensichtlich eine herzlichere Begrüßung erwartet. Dann nickte sie aber und trat beiseite. Taso warf den Rucksack mit einer betont lässigen Bewegung über die Schulter, unterschätzte das Gewicht und geriet kurz ins Straucheln.

      »Alles okay?«, fragte Dalia, die Arme ausgestreckt, als wollte sie ihn auffangen.

      »Danke, alles im Griff.« Er grinste unwillkürlich, öffnete die Haustür und bedeutete ihr vorauszugehen.

      Auf dem Weg nach oben schüttelte er ungläubig den Kopf. Es kam nicht oft vor, dass er Besuch aus Humaning bekam. Und schon gar nicht von einer Namischen. Dalias und seine Eltern waren eng befreundet – so eng, dass er zeitweise Angst gehabt hatte, seine Eltern würden unter die Religs gehen. Denn Dalias Mutter leitete die Humaninger Namischen-Gemeinde, und auch ihr Vater ließ keine Gelegenheit für ein Glaubensbekenntnis aus. Als Taso die vier das erste Mal zusammen erlebte, staunte er über seinen Vater, der still dasaß und die Augen niederschlug, während Herr Bartas ein Tischgebet sprach. Als Taso klein gewesen war, hätte sein Vater bei solchen Gelegenheiten mit den Augen gerollt oder sein Missfallen noch deutlicher ausgedrückt. Aber das Leben in einer WfZ im Nirgendwo hatte ihn verändert.

      Als Taso vor etwa zwei Jahren mal wieder seine Eltern besucht hatte, waren die Bartas vorbeigekommen und hatten Dalia mitgebracht. Taso hatte Dalia zuletzt als störrischen Teenager erlebt und war ziemlich überrascht, beim Mittagessen einer jungen Frau gegenüberzusitzen. Durch die anwesenden Eltern fühlte er sich wie ein Schuljunge, während er immer wieder heimlich Augenkontakt zu ihr suchte. Später hatte er sich zu ihr aufs Sofa gesetzt. Sein Vorhaben, sie in ein lebhaftes Gespräch zu verwickeln, scheiterte kläglich, denn er wusste einfach nicht, worüber er mit einer sechs Jahre jüngeren Namischen reden sollte. Schließlich begann sie die Unterhaltung und fragte ihn mit großen Augen über sein Leben »da draußen« aus: wie hoch sein Pred-Score sei, was der überhaupt messe, wie das mit dem Grundeinkommen funktioniere und wer es bekomme, was er arbeite und ob er viele Freunde – und eine Freundin – habe, wie Kubisten ihre Freizeit verbrächten und wohin er schon alles gereist sei. Im Gegensatz zu den allermeisten anderen Einwohnern von Humaning brannte sie förmlich darauf, jedes Detail der Würfelwelt zu erfahren. Ihre Neugier und Direktheit waren Taso zunächst unangenehm, aber je mehr sie nachfragte, desto bereitwilliger gab er Auskunft, schmückte seine Antworten aus wie ein neuzeitlicher Seefahrer seine Berichte aus fernen Ländern. Dalia amüsierte sich prächtig. Vielleicht verschwieg er ihr deshalb, dass er ein Gaukler war, und genoss lieber die Leichtigkeit, mit der er, ganz gegen seine Gewohnheit, über das Leben im Kubismus sprach, ja beinahe von ihm schwärmte. Mit einer Anekdote über Davids Freundschaftsschwüre brachte er sie sogar zum Lachen. Sie warf den Kopf zurück und schüttelte sich so ungehemmt, wie er es selten gesehen hatte, wischte sich eine Träne von der Wange und sah ihn erwartungsvoll an. Er bemerkte, dass sie auf einmal ziemlich dicht beieinandersaßen, und geriet wieder ins Stocken. Instinktiv sah er sich nach Dalias Eltern um, die eine solche Nähe zu einem ungläubigen Beinahe-Kubisten – mehr war er in ihren Augen nicht – sicher missbilligen würden. Aber Dalia schien entspannt, und er erkannte, dass sie doch etwas Wichtiges verband: Dalia widersetzte sich ihrer Welt auf dieselbe Weise wie er sich seiner – direkt unter den Nasen der Obrigkeit, mit offenem Visier. Nur dass er gegen einen Computer kämpfte und sie gegen ihre Eltern.

      Natürlich war Dalias Eltern nicht verborgen geblieben, was sich auf dem Sofa abgespielt hatte. Als Taso bei späteren Humaning-Besuchen auf die beiden getroffen war, war Dalia nie dabei gewesen. Herr Bartas hatte Fragen nach seiner Tochter nur mit todernstem Blick und seltsam anmutenden Zuckungen seiner beeindruckenden Schultern beantwortet, während sich ihre Mutter zumindest noch um Ausreden bemüht hatte.

      Taso hatte Dalia schließlich einen Brief geschrieben, in dem er einfach nur wissen wollte, wie es ihr ging. Er hatte es lange aufgegeben, auf eine Antwort zu warten, und nun bekam er sie doch, mit zwei Jahren Verspätung und von ihr persönlich.

      Taso führte Dalia in den Flur seiner Wohnung und verstaute rasch seine Smarts. Als er sich lächelnd zu ihr drehte, zögerte er. So anstrengend es war, ständig seine wahren Gedanken und Gefühle zu verbergen, manchmal war es ein willkommener Schutz. Jetzt zum Beispiel war er unsicher, wie er sich verhalten sollte. Schließlich gab er sich einen Ruck und umarmte sie. »Schön, dich zu sehen.«

      Etwas perplex, aber auch erleichtert erwiderte Dalia die Umarmung. Das ganze Gewicht des Tages fiel von Taso ab. »Entschuldige die Zurückhaltung vor der Tür, aber ich bin in der Öffentlichkeit immer etwas … reserviert.«

      Dalia winkte ab. »Macht nichts. Du musst ja auch ganz schön überrascht gewesen sein. Gott sei Dank hast du mich überhaupt erkannt.«

      »Natürlich! Du hast dich kaum verändert … Also schon, du bist älter geworden, aber du siehst dir immer noch verdammt ähnlich.« Taso grinste und fuhr sich durch die Haare. Bevor ihm ein weiterer doofer Spruch rausrutschen konnte, zog er den Vorhang am Ende des Flurs zur Seite und ließ sie in sein dunkles Zimmer treten. Er schaltete das Licht ein. Es roch muffig. Wie gern hätte er die Fenster aufgerissen.

      Dalia sah sich um. Taso vermied es, ihrem Blick zu folgen, und ging zum Kleiderschrank. Den irritierten Gesichtsausdruck beim Anblick seiner schwarzen Fenster kannte er schon von den wenigen früheren Besuchern. Er entledigte sich seiner Sandalen, streifte den Mantel ab und zog sich eine ausgewaschene Kapuzenjacke über das T-Shirt. Die gelbe Cordhose würde Dalia verkraften müssen, im Vergleich zur Namischen-Kleidung war sie sogar beinahe modisch.

      »Sieht ein bisschen wild aus hier, ich weiß«, entschuldigte er sich mit Blick auf das ungemachte Bett. »Ich habe selten Gäste.«

      »Nicht schlimm. Ich habe mich ja auch nicht angemeldet.« Dalia lächelte. Taso war dankbar, dass sie ihr Befremden so gut versteckte. Sie zeigte auf den Stapel Pakete vor dem Vorhang. »Warum sind die alle noch zu?«

      Jedem anderen hätte Taso vermutlich geradeheraus gesagt, dass er mit der Münze entschied, welche Pakete er öffnete, welche er ungeöffnet stehen ließ und welche er zurückschickte. »Ach, da ist nichts Wichtiges drin, ich bin einfach noch nicht dazu gekommen, sie zu öffnen … Tee?« Dalia nickte. Er ging in die angrenzende Küche, setzte Wasser auf und lehnte sich an den Türrahmen zum Wohnbereich. Eine Zeit lang sah er Dalia an, ohne etwas zu sagen. Sie hatte sich an den Esstisch gesetzt und erwiderte stumm seinen Blick. Dann verschränkte sie die Arme auf der Tischplatte und legte den Kopf darauf. »Nein, sie wissen nicht, dass ich hier bin«, murmelte sie. Langsam hob sie den Kopf wieder.

      Taso nickte, ging zurück in die Küche und holte zwei Tassen aus dem Schrank. Als er den Tee abmaß, hörte er plötzlich Dalia an einem Fenstergriff herumhantieren. »Halt!«, schrie er und hechtete zurück ins Zimmer. Der Messlöffel fiel mit einem schrillen Klirren auf die Küchenfliesen.

      Dalia zuckte erschrocken zurück und sah ihn verwirrt an. »Sind die Fenster kaputt?«

      »Nicht direkt.« Er spürte, wie er rot wurde. »Ich mag offene Fenster nicht so gern. Jedenfalls nicht tagsüber.«

      Er wusste, dass er ihr früher oder später die Wahrheit sagen musste. Sonst würde sie ihn für einen Wahnsinnigen halten. Nervös schob er die Hände in die Hosentaschen. Wahrscheinlich würde sie ihn so oder so für wahnsinnig halten. »Mir gehts um die Drohnen«, sagte er leise und begann seufzend zu erklären. »… und wenn dann jemand bei mir ist, den der Würfel nicht kennt, wollen sie erst recht herein«, schloss er.


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