Der Würfel. Bijan Moini

Der Würfel - Bijan Moini


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als plötzlich Frau Aydin den Raum betrat. Herr Richter schien ihre Anwesenheit zu spüren, denn er drehte sich blitzschnell um und zog die Hand zurück, bevor Taso sie ergreifen konnte.

      Alltagsgespräche starben in Frau Aydins Gegenwart einen schnellen Tod und wurden entweder ersetzt durch andächtige Stille oder bemüht intellektuelle Unterhaltungen. Selbst David unterbrach seinen Julia ertränkenden Redeschwall.

      Taso war immer wieder beeindruckt, welche Wirkung die zierliche Mittfünfzigerin auf andere hatte. Anders als Taso und seine Kollegen war sie Richterin und leitete eine der wenigen verbliebenen Berufungskammern des Landgerichts. Als Taso vor ein paar Jahren im Rahmen eines Minderheitenprogramms für Offliner ans Landgericht gekommen war, hatte sie ihn rasch unter ihre Fittiche genommen. Er hatte nie herausgefunden, ob sie eine glühende Kubistin mit Missionarseifer oder eine heimliche Offlinersympathisantin war. Auf entsprechende Fragen hatte sie ausweichend geantwortet. Alle würden von Programmen wie diesem profitieren, hatte sie gesagt, außerdem sei ihr der Schutz von Minderheiten wichtig, und auch das Grundgesetz gelte schließlich noch. Mit der Zeit hatte er das Gefühl, dass sie ihn einfach mochte, und das war ihm eigentlich am liebsten. Er hatte früh eine ihrer Gerichtsverhandlungen verfolgt und gestaunt, wie spielerisch sie Kläger, Beklagte und deren Anwälte im Griff hatte, wie souverän sie überzeugende von schwachen Argumenten trennte und wie selbstbewusst sie schließlich ihr Urteil begründete, als hätte sie nicht über mehrere Millionen Euro, sondern über den Schadensersatz für ein abgeschossenes Ped entschieden. Seither bat sie Taso alle paar Wochen um Rat zu ihren Fällen – ohne dass sie ihn wirklich bräuchte, denn er kannte keine bessere Juristin als sie. Dankbar und fasziniert diskutierte er die Fälle mit ihr, genoss es jedes Mal, wenn sich sein hungriges Hirn auf ihre Fragen stürzte wie ein Hund auf sein Stöckchen und er sich zur Abwechslung mit der Urteilskraft eines Menschen auseinandersetzen konnte statt mit der einer Software. Um dieses Vertrauensverhältnis und seine hohe Meinung von Frau Aydin nicht zu gefährden, hatte er nie gefragt, warum sich ein so kluger und reflektierter Mensch wie sie mit dem Kubismus arrangiert hatte. Er wusste ohnehin, dass ihn die Antwort nur enttäuschen konnte. Taso hatte schon zu viele Ausflüchte gehört.

      Frau Aydin musterte irritiert die Bürodekoration. Die billigen Farben und das Zubehör standen in starkem Kontrast zu ihrer Erscheinung: Mit petrolfarbenem Rollkragenpullover und edlem schwarzen Jackett passte sie eher auf eine Vernissage als in diese unmotivierte Geburtstagsversammlung. Amüsiert beobachtete Taso den Überschwang, mit dem Herr Richter sie begrüßte und ihr für ihr Kommen dankte. Frau Aydin nickte nur höflich und ging rasch weiter zu Taso. Ihr Lächeln war nicht besonders herzlich, das war es nie, aber er wusste, dass es nicht aufgesetzt war.

      »Herzlichen Glückwunsch. Haben Sie schön gefeiert?«

      Taso lächelte. »Danke, ja.«

      Sie runzelte die Stirn und sagte halblaut: »Ich hoffe, die Musik auf Ihrer Feier war besser als die hier.«

      Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. David fuchtelte sofort in der Luft herum, worauf die Musik kurz lauter wurde, bevor sie endlich verstummte. Taso lachte in sich hinein. Er hätte nicht gedacht, dass er diese Zusammenkunft doch noch genießen würde.

      Frau Aydins Gesicht entspannte sich. »Ich habe eine Kleinigkeit mitgebracht.« Sie hielt eine Champagnerflasche hoch. »Haben Sie ein paar Gläser?«, fragte sie Herrn Richter. Der nickte nur, eilte aus dem Büro und kehrte kurz darauf mit ein paar Wassergläsern zurück. Als Frau Aydin kurz darauf allen eingeschenkt hatte, hob sie ihr Glas. »Auf unseren geschätzten Kollegen Taso!« Sie sah ihn etwas länger an als gewöhnlich. »Auf seine sicher große Zukunft!«

      Taso zögerte kurz, setzte ein schmales Lächeln auf und stürzte seinen Champagner hinunter.

      Als endlich alle gegangen waren, zog er die Bürotür zu und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Er schloss die Augen, atmete tief durch und widerstand dem Impuls, die schreckliche Deko abzuschalten. Stattdessen drehte er sich so, dass er Fußballspieler und Supermodels nicht mehr sah. Hätte David eine kostenpflichtige App gewählt, würden sich die Simulationen jetzt mit ihm unterhalten wollen.

      Taso startete seine Arbeitssoftware »Insta-Supervision«.

      Als er vor zehn Jahren mit dem Jurastudium begonnen hatte, hatte er sich seine künftige Arbeit anders vorgestellt. Er hatte von leidenschaftlichen Plädoyers und aufreibenden Zeugenvernehmungen geträumt, von Gerechtigkeit und spannenden Geschichten aus dem prallen Leben, die er erzählen oder über die er urteilen würde. Nach dem Referendum hatte er im Recht zumindest noch eine Bastion gegen die technisierte Welt gesehen, einen Widersacher des ungezügelten Fortschritts, für den der Menschenverstand noch etwas zählte. Dann aber wurde »Instalaw« eingeführt. Das Programm entschied Rechtsstreite ad hoc: Aus Smartsaufnahmen und allen anderen Daten des Würfels ermittelte es, was passiert war, und fällte ein Urteil. Sehr praktisch, sehr schnell, und die Beteiligten sparten Gerichts- und Anwaltskosten. Wer die Instalaw-App aktiviert hatte, sah in einer Schlägerei nach jedem Fausthieb, wie viel Schmerzensgeld ihn dieser kostete, welche Strafe ihm drohte und wie sich beides bei weiteren Schlägen entwickeln würde. Instaurteile konnte man nur anfechten, wenn der Streitwert über 50.000 Euro lag. Dann entschieden, wiederum unterstützt vom Würfel, Menschen über den Fall. Menschen wie Frau Aydin.

      Mit Instalaw nahm der Bedarf an Juristen rapide ab. Die wenigen offenen Richterstellen gingen an Kandidaten mit hohem Pred-Score, weil der Würfel ihre Eignung leichter einschätzen, sie effektiver einsetzen und besser durch das Berufsleben führen konnte. Taso hatte keine Chance gehabt. Auch Kanzleien waren für ihn nicht infrage gekommen, denn sie erhielten wie alle Unternehmen Steuervergünstigungen für hohe Pred-Scores ihrer Belegschaft. Ihm war nur eins übrig geblieben: Supervisor zu werden. Seine Aufgabe bestand in der Überprüfung von Instaurteilen, die keiner der Beteiligten angefochten hatte oder anfechten konnte, weil der Streitwert zu niedrig war. Dazu bekam er alle Informationen eines Falls auf seine Smarts gespielt. Bewertete er ihn anders als Instalaw, begründete er das und reichte die Sache weiter an die Instakammer des Gerichts. Selbst entscheiden durfte er nichts.

      Instalaw war schnell besser geworden. Inzwischen vergingen ganze Wochen, in denen Taso keinen Anhaltspunkt für eine Fehlentscheidung fand. Die meiste Zeit seiner Arbeit fühlte er sich nutzlos oder unfähig und langweilte sich zu Tode. Es half nicht gerade, zu wissen, dass viele Supervisoren dieselben Fälle parallel begutachteten – um Instalaw weiter zu verbessern, zur Arbeitsbeschaffung oder einfach, weil die Überprüfung ohnehin fast nichts kostete. Supervisoren waren billig.

      Trotzdem wollte Taso seine Arbeit nicht missen. Er verdiente etwas Geld zu seinem Grundeinkommen dazu, sah ab und an Frau Aydin und hatte unter der Woche etwas zu tun. Außerdem war er hier unbeobachtet: Der Würfel verknüpfte die Analysen der Supervisoren nie mit ihren digitalen Profilen, um die Unabhängigkeit der Justiz zu schützen. So konnte jeder infrage stellen, was Instalaw für richtig hielt – ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, was der Würfel von ihm erwartete und wie sich die Entscheidung auf den eigenen Pred-Score auswirken würde. Tasos Job war ein wenig wie eine Würfelfreie Zone im Auge des Kubismus.

      Am späten Vormittag erinnerte Tasos Kalender ihn an einen Termin beim Chef. »Ah, Herr Doff«, begrüßte ihn Herr Richter, als Taso an dessen Bürotür klopfte. »Die Evaluierung, richtig? Kommen Sie rein.« Er winkte Taso zu sich und bot ihm den Stuhl gegenüber an. »Ich brauche noch einen Moment.« Taso nahm Platz und sah sich um. Dafür hatte er zu Beginn ihrer Meetings immer genügend Zeit.

      Herr Richter hatte das Büro bei seinem Einzug aufwendig besmalt und es seither kaum verändert. Es war rundum vertäfelt und gab Taso jedes Mal das Gefühl, in einer alten bayerischen Gaststätte zu sitzen. Durch große Fenster in der Wand hinter dem Schreibtisch blickte der Besucher in einen sonnendurchfluteten Park, in dem Giraffen umherstolzierten. Die Wand daneben zeigte einige Gemälde berühmter Verfassungsrichter, zwischen ihnen hingen Bilder von Herrn Richter und seiner Familie. Auf die dritte Wand hatte er eine prachtvolle, offen stehende Flügeltür gesmalt, die sich zu einem Salon mit großem Kamin, schweren roten Polstersesseln und einem edlen Perserteppich öffnete. Die einzige Veränderung seit Tasos letztem Besuch war ein Zertifikat, das zu Herrn Richters Rechten an der Wand hing: Der Wächterrat gratuliert Herrn Egon Richter zum Erreichen eines Pred-Scores von


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