Der Würfel. Bijan Moini
nicht viel, was ihn an sein jetziges Leben band.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. In dem dicken Wintermantel war ihm obenherum viel zu warm, in den Ledersandalen an den Füßen viel zu kalt. Nur die neongelbe Cordhose war einigermaßen wettertauglich. Gedankenversunken ging er die Straße hinunter, als ihn seine Smarts mit einem schrillen Ton an die Demoversion des Jedi-Spiels erinnerten, das ihm den Weg zur Arbeit erleichtern sollte. Er hatte überhaupt keine Lust darauf, also startete er das Spiel.
Kurz darauf schwebte eine Drohne neben ihm und öffnete ihren Bauch. Taso nahm einen großen, schweren Gürtel heraus. In zwei Halftern steckten Joysticks in der Form von Staffelstäben, die durch die SmEyes des Spielers aber je nach Bedarf wie Tennisschläger, Pistolen oder Schwerter aussehen konnten.
Taso legte sich den Gürtel um wie früher seine Cowboyverkleidung, nur dass er sich jetzt albern dabei vorkam. Sofort veränderten seine Smarts die Welt um ihn herum. Häuser, Straßen, Autos und Menschen verschwanden. Er stand allein in einer Schlucht aus rotem Sandstein. Hinter ihm loderte eine gigantische Feuerwand, zu seiner Linken kroch ein zäher Strom glühender Lava, rechts ragte eine von Ruß geschwärzte Felswand in den rauchverhangenen Himmel, vor ihm wand sich ein schmaler Pfad durch eine lebensfeindliche Landschaft.
Er zog aus dem Gürtel einen Joystick, der jetzt aussah wie ein Schwertgriff. Aus dem oberen Ende schoss eine armlange blaue Lichtsäule, das Lichtschwert begann eintönig zu brummen.
Taso spürte etwas am Arm und erschrak: Ein vielleicht fünfjähriges Mädchen klammerte sich an ihn und sah flehend zu ihm auf. Sie hatte Ähnlichkeit mit seiner Nichte Lisa. Natürlich. Am liebsten hätte er ihre Hand abgeschüttelt – oder eher das Metallstück, das sich aus dem Gürtel geschlängelt haben musste –, riss sich aber zusammen. Das Mädchen trug einen sandfarbenen Mantel und kniehohe braune Stiefel. Taso sah an sich herunter und stellte fest, dass er selbst ebenso gekleidet war.
Plötzlich stand eine Gestalt in einem weiten schwarzen Mantel vor ihm. Die Kapuze hing weit über ihr Gesicht, die Hände hatte sie wie ein Mönch in die gegenüberliegenden Ärmel gesteckt.
»Taso«, flüsterte das Mädchen, »hilf mir!« Taso seufzte. Sie klang sogar wie Lisa.
Aus dem Dunkel unter der Kapuze zischte eine unnatürlich hohe Männerstimme: »Meister Taso … es ist lange her!« Über dem Kopf der Gestalt poppten Informationen auf: Sarko Juĝisto, Shadow Hand der Sith, Schüler von Darth Rugal.
Taso wusste, was er tun sollte. Er löste den Arm des Mädchens, trat einen Schritt vor und hob sein Schwert. Sofort zog Juĝisto die Hände aus den Ärmeln und aktivierte zwei rot leuchtende Lichtschwerter.
Die Steuerung war intuitiv, und Taso startete gut in den Kampf. Mal hieb er, mal wehrte er ab, mal nutzte er seine freie Hand für Gesten, mit denen er das Tempo steuern und mit Zauberkraft Lava auf seinen Gegner werfen konnte. Er trieb den zunächst lachenden, dann fluchenden Sith vor sich her, verfolgte ihn durch die Schlucht. Er wich vorbeieilenden Zivilisten aus, überquerte den Lavastrom über einige große Steine, die nur wenige Sekunden aus der dampfenden Glut herausragten, bis er endlich zu einer langen, breiten Steintreppe kam. Die Treppe führte zu einem Plateau, auf dem ein Raumschiff stand. Juĝisto wartete auf einer der unteren Stufen. Er hatte die Kapuze abgenommen, dunkle Tattoos übersäten sein Gesicht, hasserfüllt fixierte er seinen Verfolger.
»Hier wird es sich entscheiden, Meister Taso!«, rief der Sith, bevor Taso losstürmte, ihn in einem wilden Kampf entwaffnete und dann mit einem glatten Hieb enthauptete. Juĝisto kippte zur Seite, sein Kopf rollte die Stufen hinab, bis er im glühenden Lavastrom versank. Das kleine Mädchen jubelte und tanzte lachend auf und ab, bevor es sich in respektvoller Entfernung vor ihm aufbaute und rief: »Vielen Dank, der Herr!«
Taso zögerte kurz, lächelte dann und sagte: »Es war mir eine Ehre, Frau … Zauberfackel!«
Lisa lachte auf, rannte die Treppen hinauf und kletterte in das Raumschiff. Das Gefährt erhob sich in den Himmel, und als Taso wieder nach vorn blickte, sah er die großen Türen des Landgerichts. Der Schweiß troff ihm vom Gesicht, er pellte sich aus seinem Mantel und wedelte Luft unter das T-Shirt. Ein vorbeigehender Mann sah ihn irritiert an, als wäre Taso soeben aus dem Nichts erschienen.
Hat dir das Spiel gefallen?, fragten seine Smarts. Eine Drohne hielt neben ihm und öffnete die Bauchklappe, Taso legte den Gürtel hinein. Das Spiel hatte ihm sogar verdammt gut gefallen, weshalb er die Demoversion kündigte und das Spiel mit nur einem von fünf Sternen bewertete, bevor er beschwingt das Gericht betrat.
Als er die Tür zu seinem Büro öffnete, verpuffte Tasos gute Laune. Schlagartig erklang laute Schlagermusik, über seinem Schreibtisch explodierte ein virtuelles Feuerwerk. Sein Kollege David stand mit ausgebreiteten Armen vor ihm und strahlte ihn an. Taso zwang sich zu einem begeisterten Lächeln und fügte sich steif der unausweichlichen Umarmung. Unaufrichtige Reaktionen wie diese hatten im Verlauf der letzten beiden Jahre dazu geführt, dass David Taso für seinen besten Freund hielt. Nachdem dann eine App errechnet hatte, dass Davids Chancen auf eine feste Freundschaft mit Taso höher als mit jedem anderen waren, hatte sich David kaum noch abschütteln lassen. Er war nie auf die Idee gekommen, dass die App durch Tasos Gaukelei ein völlig falsches Bild ihrer »Beziehung« hatte. Eigentlich wäre David prädestiniert gewesen für imaginäre Freunde, wie sie viele sozialunverträgliche Kubisten nutzten, aber er hatte ja Taso.
Taso konnte David nicht leiden. Manchmal sah er den Würfel schadenfroh grinsen, während er sich, wie heute, um eine gute Miene zum grausamen Spiel bemühte.
»Alles, alles, alles Gute nachträglich, mein Bester«, keuchte David und drückte Taso viel länger an sich als nötig. Davids beträchtlicher Bauch und penetranter Schweißgeruch raubten Taso den Atem. »Gefällt dir meine Überraschung?«
Endlich lockerte David seinen Griff und schwang den Arm mit großer Geste durch die Luft. Er hatte offensichtlich eine kostenlose Party-App verwendet, die Tasos Büro in einen Festsaal verwandelt hatte: Von der Decke baumelten gesmalte Girlanden und ein Banner mit der Aufschrift »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, [bitte Namen einfügen]!«. Die Wände waren in grellen Farben gestrichen, und in einer Zimmerecke stapelten sich drei gigantische Torten. In einer anderen Ecke standen ein paar berühmte Fußballspieler in den Trikots ihrer Mannschaften und plauderten mit zwei leicht bekleideten Supermodels. Auf Tasos Schreibtisch lag ein virtueller blauer Briefumschlag, der sich nach einem Klick als Gutschein für einen Bauernhofausflug entpuppte.
Taso schüttelte sich innerlich. Am liebsten hätte er David samt Fußballer und halb nackter Frauen brüllend rausgeworfen.
»Da kommen wir endlich mal raus aus der Stadt«, sagte David zwinkernd. »Wird Zeit, dass wir mal was zusammen unternehmen.« Tasos Kopf war kurz davor, zu zerspringen, während er sich überschwänglich bedankte.
»Die Deko hab ich komplett selbst ausgesucht!« David betrachtete zufrieden sein Werk. »Obwohl ich nach dem Date gestern eigentlich gar keine Zeit mehr hatte.« Sein Gesichtsausdruck trübte sich. Taso hätte lieber den Schlager voll aufgedreht oder sich zu den Fußballern gestellt, als dem zuzuhören, was nun unweigerlich folgte: Davids detaillierter Bericht eines weiteren gescheiterten Dates.
Nach ein paar Minuten erschien zu Tasos Glück sein Chef in der Tür. Für den aufrechten Kubisten und leidenschaftlichen Beamten war Taso sicher das größte Rätsel seiner Karriere. Taso wandte sich von David ab und schüttelte Herrn Richters ausgestreckte Hand, der ihm sogleich gratulierte. Taso musste an Juĝisto denken, hatte der nicht ganz ähnlich geklungen? Dem Chef folgten ein paar weitere Kolleginnen und Kollegen, die schuldigst ihre Pflicht taten und Taso die Hand schüttelten, bevor sie sich fernab von David einen Platz im Büro suchten. Die einzige weitere Umarmung kam von Julia, die nach der vorletzten Weihnachtsfeier bei Taso zu Hause gelandet war, um dann fluchend wieder abzuziehen, als er ohne Smartsunterstützung mit ihr ins Bett wollte. Als alle um ihn herumstanden und ihn erwartungsvoll ansahen, schwärmte Taso angestrengt von der Geburtstagsfeier seines Bruders, von den vielen alten Freunden und den hervorragenden Fenchelküchlein. David ergänzte lautstark, dass er natürlich gekommen wäre – eingeladen hatte Taso ihn nicht –, hätte seine Mutter nicht ihren Sechzigsten gefeiert.
Die