Der Würfel. Bijan Moini
den Ausgang eines Würfel- oder eines Münzwurfes voraussagen könnten. An besseren Tagen sah er klarer und erkannte die enge Verwandtschaft zu seinem Vater, der leidenschaftlich Überraschungseierfiguren sammelte und bis heute in seinem Arbeitszimmer ausstellte.
Taso prüfte rasch seinen Goldvorrat in einem kleinen Fach oben im Spind. Er tauschte sein Armband gegen ein anderes mit kleinem Display, mit dem er sich ausweisen und bezahlen konnte. Schließlich entledigte er sich seines kratzigen gelben Wollkragenpullovers und seiner grünen Cordhose und schlüpfte in eine Jeans, ein gut sitzendes schwarzes Hemd und eine Kunstlederjacke der gleichen Farbe. Er warf einen Blick in den Spiegel, der an der Innenseite der Spindtür hing. Was er sah, bestätigte, was er fühlte: sich selbst.
Die offizielle Bezeichnung des Gebäudes war WfZ13, die dreizehnte anerkannte Würfelfreie Zone des Landes. Aber jeder verwendete immer nur den Namen, den sein Eigentümer Hugo Faber dem Komplex im Scherz einmal gegeben hatte. »WfZ13«, hatte er in einem Interview gesagt, »ist Refugium, Treffpunkt und Handelsplatz für Humanisten in einer Stadt voller Kubisten – unsere Diagon Alley sozusagen.«
Bis vor fünfzehn Jahren war das Gebäude ein Einkaufszentrum gewesen. Es lief in U-Form um den alten Tempelhofer Hafen und mischte historische mit zeitgenössischer Architektur: Den südlichen Gebäudeteil bildete ein restauriertes Speichergebäude, das Parkhaus im nördlichen Teil hatte Hugo weitgehend umfunktioniert und aufgestockt, vier Etagen erhoben sich hier nun um einen lang gezogenen, überdachten Lichthof, der den Neubau mit dem alten Speicher verband. Von außen konnte man nirgends hineinsehen.
Taso betrat die nächstgelegene Rolltreppe und sah sich um. An den Glasfassaden einiger leerer Ladengeschäfte prangten Plakate von der letzten Bundestagswahl vor neun Jahren, die ein paar Nostalgiker hier aufgehängt hatten. Die Konterfeis der Würfelbefürworter waren völlig verunstaltet. Auch das Gesicht eines Würfelgegners hatten sie übel zugerichtet. Jemand hatte in dicken Lettern Verräter! darüber geschrieben. Hätte unten nicht der Name des Mannes gestanden, hätte Taso Matthias Kulic nicht erkannt. Er hätte schwören können, dass das Plakat bei seinem Besuch letzte Woche noch unversehrt gewesen war, was nur bedeuten konnte, dass Kulic gerade die Seiten gewechselt hatte.
Der Politiker war einer der lautesten Gegner des Würfels gewesen. Er hatte Taso unheimlich imponiert, weil er lange und unerbittlich gekämpft hatte. An eine Diskussionsrunde kurz vor dem Referendum konnte er sich besonders gut erinnern. Kulic hatte sich mit einer jungen Würfelbefürworterin duelliert.
»35 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, Herr Kulic!«, hatte sie auf dem Höhepunkt der Debatte gerufen. »Wie wollen Sie das je wieder in den Griff kriegen? Das Zeitalter der Arbeit ist vorbei, wir brauchen etwas Neues!«
»Ich bin ja auch für ein Grundeinkommen«, erwiderte Kulic, »nur nicht auf Kosten unserer Freiheit!«
»Reden Sie keinen Quatsch – unsere Freiheit steht überhaupt nicht auf dem Spiel. Im Gegenteil, erst im Kubismus werden wir frei sein … frei zu tun, wonach uns der Sinn steht!«
Kulic schüttelte den Kopf. »Und für dieses leere Versprechen wollen Sie unseren besten Unternehmen ihre Daten klauen? Das ist Kommunismus der übelsten Sorte!«
»Jetzt machen Sie sich doch nicht lächerlich.« Die junge Frau lehnte sich betont langsam in ihrem Stuhl zurück. »Wenn das Kommunismus wäre – hätten dann ausgerechnet die Amerikaner den Würfel erdacht und eingeführt? Hätte in den letzten Monaten die halbe EU mit deutlichen Mehrheiten zugestimmt und würden die Umfragen zeigen, dass bis zum Sommer auch der Rest nachziehen wird? Die Daten haben schon immer uns gehört, wir holen uns diesen Schatz nur zurück. Und das ist bitter nötig, schauen Sie nach Asien: Unsere Konzerne haben dem gigantischen Datenpool der Chinesen nichts entgegenzusetzen! Die Monopolisierung unserer Daten ist die einzige Chance, auf diesem Planeten überhaupt noch eine Rolle zu spielen.«
Nach dieser Diskussionsrunde hatte Taso zum ersten Mal daran gezweifelt, dass die Würfelgegner das Referendum gewinnen würden. Denn plötzlich galten sie irrwitzigerweise als die Freunde des Großkapitals, die Chinas Machtübernahme tatenlos zusehen wollten.
Man sah Diagon Alley an, dass es in die Jahre gekommen war. Hugo hatte zwar mächtig in die Restaurierung investiert, aber Innendesign und Substanz der unteren Etagen stammten erkennbar noch aus einer anderen Zeit. Mit abnehmenden Besucherzahlen sanken auch die Mieteinnahmen, sodass immer weniger Geld für Wartung, Energieversorgung und Reinigung blieb. Hier bröckelte der Putz, dort quoll der Mülleimer über, einige Rolltreppen fielen wochenlang aus, Licht und Klimaanlage blieben so oft wie möglich abgeschaltet. Taso scherte all das genauso wenig wie früher der Staub und das Chaos in seinem Kinderzimmer.
In der ersten Etage des Gebäudes fand man alles, was man zum Leben als Offliner brauchte: Zahlreiche Gauklerläden verkauften Masken, Stimmenwandler, Verkleidungen, Fingerkuppen- und Irisschutz, Störgeräte, Elektronikdetektoren, Drohnenfangnetze, extra stark deckende Farben und Milchglasfolie. Es gab Buchläden für klassische und moderne Literatur, die sich draußen nicht mehr verkaufte, mit unzähligen Ratgebern zum Leben unter Kubisten und mit Fachbüchern zu Psychologie, Philosophie und Religion. Es gab Antiquitätenhändler mit alten Computern, Fernsehern, Kameras und Spielkonsolen, die außerhalb von WfZs niemand mehr brauchte. Andere Geschäfte verkauften Schminkutensilien und Kleider, die noch von Menschen entworfen und hergestellt worden waren und weder die Menge noch die Zusammensetzung von Körperausdünstungen maßen. Wieder andere Läden verkauften alte Filme und Musik, echte Instrumente und Spielzeug, das nie einen 3-D-Drucker von innen gesehen hatte.
Die zweite Etage bildete das Herz von Diagon Alley: Hier hatten unzählige Vereine und Organisationen ihre Zentralen. Jeden Tag, vor allem aber am Wochenende, gab es Arbeitssitzungen, Diskussionsrunden, Seminare, Vorträge, Lesungen oder Filmvorführungen. Die beiden größten politischen Widerstandsgruppen operierten von hier aus: die säkulare Humanistische Allianz – meist nur »Allianz« genannt – und die Bekennenden Christen. Taso schlenderte gern durch diese Etage und schaute mal hier, mal dort hinein, um sich mit Gleichgesinnten zu unterhalten und neueste Entwicklungen zu diskutieren.
Die dritte Etage füllten Restaurants, Cafés, Bars und ein paar Clubs. Hier halfen keine Smarts beim ersten Kontakt mit Fremden. Jeder hörte dieselbe Musik in derselben Lautstärke, sah die gleiche Umgebung und wusste genauso wenig von den anderen wie die anderen von ihm.
Ganz oben hatte Hugo achtzig Wohnungen gebaut. Die Hälfte von ihnen konnte man mieten. Reiche Offliner zahlten Unsummen für ihre eigene Wohnung in Diagon Alley, aber nur die wenigsten nutzten sie durchgängig. Zwanzig Wohnungen wurden jedes Jahr aufs Neue verlost. Taso stand seit ihrem Bau auf der Kandidatenliste und war jedes Mal wieder enttäuscht, wenn sein Name nicht gezogen wurde.
Die übrigen Wohnungen waren reserviert für »Personen mit besonderer Bedeutung für die humanistische Bewegung«. Taso kannte nur zwei Menschen aus diesem Kreis persönlich: Pascale Bellaxa, die Chefin der deutschen Sektion der Allianz, und seinen alten Freund Ronny Sieg alias »Rosie«.
Rosies Bar war eher ein Café als eine Bar und hatte fast immer geöffnet. Sie lag an der Außenseite des alten Speichers, mit Blick auf Hafen und Kanal, aber durch die abgedunkelten Scheiben konnte man kaum etwas davon erkennen. Die Inneneinrichtung war ebenso charmant wie chaotisch: Kein Stuhl, Tisch, Glas oder Löffel glich dem anderen. Überall standen und lagen kleine und große Erinnerungsstücke an die präkubistische Zeit, platziert nach einer allenfalls Rosie selbst verständlichen Logik. Diverse Steh- und Hängelampen schafften ein unregelmäßiges Gemisch aus Licht und Schatten, in dem man sich je nach Stimmung für alle sichtbar amüsieren oder aber verstecken konnte.
Heute waren nur zwei Tische besetzt. Am ersten spielten zwei Rentner Schach, ein dritter saß mit gewichtiger Denkerpose daneben. Etwas abseits war eine alte Frau in ein Buch vertieft, neben ihr stand eine halb leere Kaffeetasse. Hinter der Bar versuchte eine vertraute Gestalt den Karton einer Whiskyflasche zu öffnen, ohne ihn zu beschädigen. Rosie fluchte, als es misslang und der Karton einriss. Er hatte dunkle Augenringe und sah noch müder aus als sonst. Als er aufblickte, hellte sich sein Gesicht auf. »Taso!« Der gut aussehende Endvierziger kam freudestrahlend hinter dem Tresen hervor und umarmte ihn mit der gewohnten herzlichen Übertreibung.
Er