Der Würfel. Bijan Moini
Fragen stellen. Taso mochte schon damals keine Öffentlichkeit und lehnte ab, woraufhin Rosie so lange seinen Charme spielen ließ, bis Taso schließlich nachgegeben hatte. Nach dem Referendum hatte Rosie seinen Beruf aufgegeben und war nach einem bitteren Streit mit seinem damaligen Freund offline gegangen. Über die Jahre hatte Taso in ihm einen verlässlichen Wegbegleiter gefunden. Sie sahen sich regelmäßig, denn Taso verließ Diagon Alley nie ohne einen Besuch bei ihm, so kurz er auch sein mochte. In den letzten Monaten war Rosie allerdings nie da gewesen, wenn Taso die Bar besucht hatte.
»Wo warst du denn die ganze Zeit?« Taso wollte freundlich klingen, konnte einen gewissen Vorwurf in seiner Stimme aber nicht unterdrücken. Er setzte sich auf einen Barhocker, Rosie machte sich hinter der Theke weiter an dem Whiskykarton zu schaffen und versuchte zu retten, was noch zu retten war. Er lächelte und machte eine wegwischende Handbewegung. Das hatte er in solchen Situationen schon öfter getan. Rosie sprach sehr offen über alles, nur über seine Rolle im Widerstand schwieg er. Taso wusste nur, dass er wie Tim Mitglied der Humanistischen Allianz war und von allen sehr respektiert wurde. Während Tim allerdings immer mal wieder etwas erzählte und Taso auf Augenhöhe begegnete, hielt sich Rosie auch nach wochenlangem Verschwinden bedeckt. Wenn er dann wieder aufgetaucht war, hatte er sich abwehrend verhalten wie heute.
Taso bohrte nicht weiter. Er bestellte einen Atwood, Rosies alkoholfreie Alternative zum Bloody Mary, und unterhielt sich eine Weile mit seinem Freund über teure Whiskysorten. Dann schnappte er sich den aktuellen Gaukler vom Tresen und setzte sich an einen Tisch mit Blick nach draußen. Er schlug die Zeitung auf und wollte gerade die neusten Offlinernews studieren, als er hinter sich eine vertraute Stimme hörte. An der Bar stand Tim und begrüßte Rosie. Wie immer trug er eine blaugraue Jeans und ein weißes T-Shirt, darüber eine enge schwarze Stoffjacke. Auf seiner hellen Haut und in Kontrast zu den kurzen blonden Wuschelhaaren sprang Taso das neue Tattoo an seinem Hals sofort ins Auge: das Symbol der Allianz, Leonardo da Vincis Zeichnung eines Mannes, um dessen gespreizte Glieder sich ein Kreis spannte.
Tim drehte sich um und blickte suchend durch den Raum, Taso winkte ihm zu. Mit dem gehetzten Schritt eines Ruhelosen eilte Tim zu ihm herüber. Taso erhob sich und lächelte. Es tat ungemein gut, seine Freude offen zeigen zu können. Sie hatten sich drei Monate nicht gesehen, die letzten beiden Verabredungen hatte Tim kurzfristig abgesagt, was sonst so gut wie nie vorkam.
»Na du Sesselfurzer«, rief Tim, »bist ja ganz schön fett geworden.« Grinsend kniff er Taso in die Hüfte.
Taso umarmte ihn lachend. Er rümpfte die Nase und verzog das Gesicht. »Besser fett als ein ungeduschter Revolutionär.«
»Ich rieche nach Sex, Freundchen – aber woher sollst du das auch wissen!« Tims dunkelblaue Augen blitzten schelmisch.
Grinsend versetzte Taso seinem Freund einen leichten Hieb gegen die Brust, bevor sie sich setzten. »Alles Gute nachträglich, der nächste Tomatensaft geht auf mich«, sagte Tim und deutete spöttisch auf Tasos Drink. »Wie läufts im Schlaraffenland? Was macht der Pred-Score?« Tim hatte nie richtig verstanden, warum Taso weiter unter Kubisten lebte und arbeitete, anstatt sich wie er am Widerstand zu beteiligen.
Routiniert ignorierte Taso den unterschwelligen Spott. Nicht ohne Stolz nannte er seinen aktuellen Score.
Tim riss die Augen auf. »Wow! Du bist wieder unter 20? Ich steh gerade bei 35 oder so – dabei sieht mich der Würfel kaum.«
Taso lächelte. So wenig Tim ihn verstand, so sehr nötigte sein Pred-Score ihm Respekt ab. »Disziplin, mein Freund, Disziplin«, sagte Taso mit gespielt strengem Blick.
Tim winkte ab. »Wenn ich schon ab und zu unter Kubisten muss, will ich wenigstens was essen, das mir schmeckt.« Er lachte. »Man müsste dich mal mit diesem Hubert Grantler zusammenstecken.«
Taso sah ihn fragend an.
»Stand im Gaukler. Ein Österreicher, der jetzt den höchsten Pred-Score der Welt hat. 91,02!«
Taso schüttelte ungläubig den Kopf und trank einen Schluck von seinem Cocktail. »Was war eigentlich los die letzten Male?«
»Ach, ich war ziemlich viel mit Pascale unterwegs. Dauernd spontane Änderungen im Terminplan.« Als persönlicher Assistent der Allianzvorsitzenden hatte Tim schon seit Jahren wenig Freizeit. Seit er auch mit Pascale schlief, waren Beruf und Privates fast gänzlich miteinander verschmolzen. Taso hatte stets den Eindruck, dass Tim tiefere Gefühle für sie hegte als sie für ihn, fragte ihn aber nicht direkt danach. Tim schien gut damit zurechtzukommen. Heute jedoch lag bei der Nennung ihres Namens ein trauriger Ausdruck in seinen Augen. Er blickte zur Seite, und der Ausdruck war verschwunden.
Taso wartete kurz, aber sein Freund blieb still. »War Rosie auch mit?«, fragte er schließlich und nickte in Richtung Bar.
Tim zuckte mit den Schultern und seufzte. »Muss er dir selber sagen.« Er drehte sich um und hob einen Finger in die Höhe, woraufhin Rosie hinter der Bar nickte. Taso ärgerte die Geheimnistuerei. Aber irgendwie war es auch seine eigene Schuld. Er hatte seine Chance gehabt. Er hätte einer von ihnen werden können. Tim ließ ihn das immer wieder spüren. Nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Enttäuschung.
Als Tim nach dem Gaukler griff, wusste Taso, dass er sich in sichere Gewässer retten wollte. Es war für Tim einfacher, über Politik zu sprechen als über seine Arbeit oder Pascale. Angewidert betrachtete er das Foto von Mark Finder auf der Titelseite. »›Wir müssen Offliner bestrafen!‹«, zitierte er den radikalsten Kubisten des Landes. Er fasste sich an die Stirn. »Spinnt der jetzt völlig?« Entgeistert überflog er das Interview und teilte Finders Kernaussagen lautstark mit Taso und den umstehenden Tischen: »›Wir müssen Offliner aggressiver regulieren. Eine Visumspflicht wie in den USA ist längst überfällig … Der Würfel sollte keine Vertreter von Offlinern mehr ins Parlament berufen – wer sich nicht am öffentlichen Leben beteiligt, braucht auch keine Interessenvertreter …‹« Er machte eine Pause, um dann noch aufgebrachter fortzufahren: »›WfZs sind Schutzzonen für Schwerverbrecher und Terroristen und müssen sofort geschlossen werden … Ohne Offliner würde das Grundeinkommen um satte 16,5 Prozent steigen, deshalb wäre es nur fair, ihnen keins mehr auszuzahlen …‹« Tim ließ die Zeitung sinken und sah Taso ernst an. »Wenn das zur Mehrheitsmeinung wird, sind wir am Arsch. Genau das befürchtet Pascale seit Jahren: Dass sie eine Garantie für Offliner nach der anderen zurücknehmen … Das ist doch Aufstachelung zum Hass oder so was!«
Tim war nicht immer so politisch gewesen. Als sie sich im Jurastudium kennengelernt hatten, war Taso der Mann der großen Überzeugungen und Tim nur an Mädchen interessiert. Trotz aller Unterschiede freundeten sie sich an, was Taso für einen der größten Glücksfälle seines Lebens hielt. Gleich auf einer der ersten WG-Partys hatte Tim ihn lautstark gegenüber den Gastgebern verteidigt, als Taso einen damals noch zulässigen Störsender aktivierte, der ihn auf Handyaufnahmen verfremdete. Solche Loyalität hatte Taso seit seiner Jugend nicht mehr erlebt. Kurz vor dem Referendum hatte sich Tim zu Tasos großer Freude in einem Wahnsinnstempo politisiert. Taso war sich sicher gewesen, dass sie Seite an Seite für ihre Überzeugungen kämpfen würden, komme, was wolle. Aber der Ausgang des Referendums hatte Taso in ein schwarzes Loch gestürzt. Seine Welt war untergegangen, er fühlte sich kraft- und orientierungslos. Und er hatte Angst. Angst, den halbwegs normalen Kontakt zu Peter wieder zu verlieren, wenn er sich dem neuen System verweigerte, und Angst, dass der Widerstand der neuen Ordnung nichts anhaben konnte. Er verharrte regungslos, während Tim sein Studium schmiss und sich der gerade entstehenden Allianz anschloss. Zum Entsetzen seines Freundes seilte sich Taso an eine Schweizer Uni ab. Das Land hatte sich dem Kubismus damals noch verweigert, wodurch er dort das unbeschwerteste Jahr seines Lebens verbrachte. Als die Schweiz kurz vor Ende von Tasos zweitem Semester dem Druck der EU nachgegeben und ebenfalls den Würfel eingeführt hatte, war er zurück nach Deutschland gegangen, das sich während seiner Abwesenheit völlig verändert hatte. Alle, die er kannte, hatten sich mittlerweile für eine Seite entschieden, waren Kubisten oder Offliner geworden. Ihre Entscheidungen hatten abrupt Lebenswege und sie selbst verändert, Familien und Freundschaften zerstört, tiefe Gräben durch das ganze Land gezogen. Es war schlimmer, als es sich Taso je vorgestellt hatte. Er wollte da nicht mitmachen. Er wollte sich selbst und seinem Umfeld beweisen, dass beides möglich war: