Der Würfel. Bijan Moini

Der Würfel - Bijan Moini


Скачать книгу
ihren Treffen noch seine Smarts herausnehmen, weil es ihnen zu umständlich war und ihre Pred-Scores reduzierte. Außerdem belohnte der Würfel immer stärker den Kontakt zu Menschen, die einen hohen Score hatten, und zog Punkte ab, wenn man Gaukler und damit Chaos in sein Leben ließ. Wer dennoch zu ihm hielt, wurde von den anderen so lange mit Misstrauen und Unverständnis gestraft, bis auch er nachgab und den Kontakt zu Taso abbrach. So hatte er einen Freund nach dem anderen verloren, bis niemand mehr übrig geblieben war. Außer Tim.

      Auch Fremde sprachen nicht gerne mit Taso. Ihre Konvohilfen warnten, dass sie wegen seines niedrigen Pred-Scores keine Gesprächsthemen empfehlen könnten. Die meisten suchten dann das Weite, denn wer hatte schon Lust auf steifen Small Talk, selbst erfundene Witze oder unangenehme Gesprächspausen, wenn er sich mit anderen sofort über per Konvohilfe eingeblendete Gemeinsamkeiten unterhalten konnte? Früher hatte Taso sich eingeredet, dass ihm all das nichts ausmache, dass es ein Opfer sei, das er zu bringen bereit war. Er hatte sich durch seine Gaukelei stark und unabhängig, im Grunde auch überlegen gefühlt. Aber inzwischen war sein selbstbewusster Auftritt nur noch Fassade. Wenn er in seiner oft lachhaften Kleidungskombination inmitten erfolgreicher, geslifteter Rhetorikgenies stand, die mit ihm höchstens über den täuschend echten Geschmack ihres Kunsthähnchenspießes oder die eindrücklichen Farben der Wandinstallationen sprechen konnten, wollte er allem am liebsten den Rücken kehren, um zurück in seiner Wohnung seine Smarts herauszureißen und laut in ein Kissen zu schreien. Er wollte schon gar keine neuen Menschen mehr kennenlernen. Früher hatte er in Windeseile Bande zu anderen geknüpft und sogar Spaß daran gehabt, aber nun machte ihn jede Kontaktaufnahme nervös. Er hatte Angst, dass seine Themen nicht spannend genug waren, seine Witze nicht lustig oder seine Äußerungen deplatziert. Und seit einer Weile bohrte sich eine Frage immer tiefer in seinen Kopf: Wie wäre es wohl, wieder dazuzugehören? Wieder unbeschwert mit seinen alten Freunden reden und lachen zu können, wieder gerne auf ihre Partys zu gehen und vor allem, dazu eingeladen zu werden?

      Zugleich schämte er sich für solche Gedanken. Er hatte sich nicht ohne Grund für dieses Leben, für ein selbstbestimmtes Leben entschieden. Er wollte dazugehören, ja – aber auf keinen Fall wollte er nachgeben und so berechenbar und fremdgesteuert werden wie die anderen. Außerdem war er mit seinen Überzeugungen nicht allein. Er überprüfte seinen E-Mail-Eingang. Wieder nichts.

      Er war schon auf dem Weg zur Wohnungstür, als Roya nach ihm rief. Mit geröteten Wangen kam sie auf ihn zu, dicht gefolgt von einem unsicher lächelnden Mittdreißiger. Der Mann hatte schütteres Haar und schiefe Schneidezähne. Ein selten natürlicher Anblick. »Taso, ich möchte dir Fritz vorstellen. Seine Tochter Lin ist eine Freundin von Lisa. Vielleicht wollt ihr euch ein bisschen unterhalten.« Sie lächelte zufrieden und rauschte davon.

      »Glückwunsch«, sagte Fritz. Er hielt kurz sein Sektglas hoch und trat zögerlich einen Schritt näher.

      »Danke«, antwortete Taso. »Offliner?« Es konnte nur einen Grund geben, weshalb Roya sie zusammengeführt hatte: Auf jeder Party gab es mindestens zwei Offliner. Die Gastgeber sorgten stets dafür, dass sie sich fanden.

      Fritz wirkte überrascht. »Ja, aber eher unfreiwillig. Ich hab die letzten zehn Jahre in Afrika gelebt und bin mit meiner Tochter erst vor zwei Wochen wieder nach Deutschland zurückgekommen.«

      Taso horchte auf. Das Gespräch versprach interessanter zu werden, als er gedacht hatte. »Wo habt ihr gelebt?«

      »Simbabwe.«

      Taso überlegte. »Ist das nicht unter harmonistischer Kontrolle?«

      »Ja.«

      Taso konnte nicht anders, als die Stirn zu runzeln. Wenn er irgendetwas noch weniger mochte als den Kubismus, war es der Harmonismus. Der Würfel belohnte zwar Vorhersehbarkeit, was Taso rundheraus ablehnte – aber immerhin schrieb er niemandem vor, wie er sich zu verhalten hatte. Man konnte vor dem Würfel ein egoistischer Vollidiot sein, Hauptsache, man war konsequent darin. Xi hingegen, sein harmonistisches Pendant, erzwang Vorhersehbarkeit, indem es mit Permasmarts die Einhaltung langer Verhaltenskataloge kontrollierte, die die Kommunistische Partei Chinas verfasste. Jeder Bewohner eines harmonistischen Staats startete mit einem »Sozialkredit« von eintausend, der bei Wohlverhalten stieg, bei Verstößen sank. Der Gedanke an diese extreme Form der Fremdbestimmung änderte manchmal sogar Tasos Blick auf den Kubismus. Wenn auch nur kurz.

      Fritz bemerkte Tasos Unbehagen sofort: »Ich bin aber kein Harmonist«, beteuerte er. »Im Gegenteil – das System ist mir völlig zuwider! Ich hab etliche Bekannte, die Job, Freunde und sogar ihre Freiheit verloren, weil sie sich nicht konform verhalten haben. Das geht unheimlich schnell: Für jeden Pups gibt es Punktabzug, also bildlich gesprochen.« Fritz lachte kurz auf und beeilte sich weiterzureden, als Taso keine Reaktion zeigte. »China behauptet zwar immer, dass jedes Partnerland selbst definiert, welches Verhalten es belohnt oder bestraft, aber natürlich machen sie als Erfinder des Sozialkredits ihren ›Partnern‹ ununterbrochen ›Vorschläge‹. Also verliert auch in Simbabwe jeder, der China kritisiert, sofort zwischen 15 und 75 Punkten. Da rutscht man schnell mal unter 600. Und dann wirds ernst.«

      Taso freute sich über die kritischen Worte. »Aber warum bist du dann dorthin gezogen?«

      »Ausländer aus nicht harmonistischen Staaten genießen Privilegien, dafür haben die Chinesen ebenfalls gesorgt.« Fritz schüttelte den Kopf. »Ist Teil ihrer Expansionsstrategie. Vor allem aber stammte meine Frau aus Simbabwe. Sie wollte nach dem Studium dorthin zurück, und ich bin mit.« Sein Blick wurde leer, er sprach nicht weiter.

      Taso wechselte das Thema: »Und mit dem Pred-Score des Würfels hast du kein Problem?«

      Fritz zuckte mit den Schultern. »Immerhin schreibt mir hier niemand vor, was ich zu sagen und zu tun habe. Und der Kubismus ist demokratisch.«

      »Na ja … es gibt zwar noch ein Parlament, aber keine Wahlen mehr.«

      »Aber dafür ernennt der Würfel Abgeordnete, die unsere Gesellschaft widerspiegeln.«

      »Und zementiert so bestehende Verhältnisse. Ohne Wahlen kämpft niemand mehr für neue Ideen. Und unabhängig sind die Damen und Herren Volksvertreter auch nicht, denn ohne den Segen des Würfels trifft sowieso niemand mehr Entscheidungen.«

      Fritz trat von einem Fuß auf den anderen. »Wie ist es denn bei dir? Du bist ein Gaukler, oder?«

      Taso blickte spöttisch an sich herab, ohne etwas zu sagen.

      »Das heißt, du lügst immer?«

      Die direkte Frage überraschte ihn. »So würde ich es nicht sagen … Ich täusche! Mal entspricht mein Verhalten meiner Einstellung, aber oft eben auch nicht.«

      Fritz nickte und blickte zu Peter, der es sich gerade mit Luke auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. »Aber dein Bruder …«

      »… ist überzeugter Kubist, ja.« Und bevor die Nachfrage kam, ergänzte Taso etwas leiser: »Das war nicht immer so. Früher war er genauso kritisch wie ich.«

      »Und eure Eltern?«

      Diesmal war es Taso, der keine Lust hatte, seine Familiengeschichte zu erzählen. Er sah zu Peter hinüber, der sein Cocktailglas klirrend gegen Lukes Bierflasche stieß. Er erinnerte sich noch gut an die manchmal interessierten, meist aber irritierten Blicke von Schulfreunden, die früher bei Familie Doff zu Besuch gewesen waren. Tasos Eltern hatten sie stets gebeten, ihre Smartphones und Datenbrillen in einen Safe zu legen, der erst am Ende des Besuchs wieder geöffnet wurde. War die Familie draußen unterwegs gewesen, hatte sie große Hüte mit Schleiern gegen die Videokameras getragen, später auch Masken und Sonnenbrillen. Taso hatte sich oft gefragt, warum die anderen Kinder sie nicht schon damals komplett gemieden hatten. Vielleicht, so erklärte er es sich später, weil Peter und er unzertrennlich gewesen waren: immer zu zweit, immer doppelt so stark, lustig und selbstbewusst wie die anderen. Vielleicht hatte ihm fremder Spott deswegen so wenig ausgemacht. Er hatte seinen besten Freund immer bei sich gehabt, egal, wohin sie reisten, weil sein bester Freund sein Bruder gewesen war. Und sie waren häufig verreist. Schon als junger Journalist hatte ihr Vater viel Zeit im Ausland verbracht und nahm später die Brüder oft mit, während ihre Mutter in Deutschland ein Architekturbüro aufbaute.


Скачать книгу