Der Würfel. Bijan Moini

Der Würfel - Bijan Moini


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sind sicher, dass dem Würfel Ihr geplanter Besuch in Diagon Alley längst bekannt ist. Sie brauchen keine Verschlüsselung. Verlassen Sie jetzt das Gebäude.« Die Roboter machten einen Schritt auf die Männer zu. An deren Stelle hätte Taso längst das Weite gesucht. So aber fühlte er sich stark, als hätte er den Angreifern selbst Einhalt geboten.

      »Verlassen Sie das Gebäude, oder wir sehen uns gezwungen, Maßnahmen gegen Sie zu ergreifen.« Beide Roboter sprachen nun im Chor und bewegten sich weiter auf die Männer zu.

      Der Dunkelhaarige zischte seinen Freunden etwas zu und hob beschwichtigend die Hände. »Okay, okay«, rief er, »wir gehen ja schon!« Er drehte sich um und war als Erster der Gruppe am Ausgang. »Rückzug, Männer!« Unter lautem Protestgejohle folgte die Herde ihrem Leithammel. Als sie fort war, blieben die Roboter noch eine Weile im Eingangsbereich stehen. Taso atmete auf. Innerlich triumphierte er, dabei mochte er Sicherheitsroboter gar nicht.

      Als er endlich an der Reihe war, rief ihn ein Blinklicht zum Schließfach 307. Wie stets wurde ihm dort auf einem kleinen Bildschirm erklärt, dass die WfZ nicht mit dem Würfel verbunden war und außer einer Abfrage des Pred-Scores keine Daten mit ihm austauschte.

      Die Garantie der damaligen Regierung, Würfelfreie Zonen mit derlei Privilegien zuzulassen und auch Offlinern ein Grundeinkommen auszuzahlen, hatte viele Skeptiker dazu bewegt, beim Referendum für den Würfel zu stimmen. Sosehr Taso den Ausgang der Abstimmung verdammte, so dankbar war er heute für die verbliebenen Zufluchtsorte und die finanzielle Sicherheit. Ohne sie wäre er vermutlich längst wahnsinnig geworden – oder, schlimmer noch, Kubist.

       Bist du einverstanden, dass das Shields-Kryptocenter A1 zur Berechnung des Zimmerpreises und der Inter-WfZ-Transferkosten deinen aktuellen Pred-Score abruft?

      In allen Shields-Einrichtungen subventionierten Menschen mit hohem Pred-Score jene mit niedrigem. Taso zahlte für eine Verschlüsselung etwa ein Achtel des Preises, den zum Beispiel sein Bruder zahlen müsste.

      Er tippte auf »Ja«.

       Ein Zimmer kostet für dich 10 Euro und 32 Cent, der Transfer 19,4 Cent pro Kilometer. Möchtest du eine Buchung vornehmen?

      Taso bejahte auch diese Frage, und das Schließfach öffnete sich. Er nahm ein verstellbares Gummiarmband heraus und streifte es über das Handgelenk. Darauf war nun sein aktueller Pred-Score – 19,93 – und eine temporäre Identifikationsnummer gespeichert; beides zusammen würde ihm Zugang zu Zimmer 307 und später zu Diagon Alley verschaffen. Außerdem zeichnete das Armband mit dem ersten Anlegen das Profil seines Herzrhythmus auf, sodass kein anderer es benutzen konnte.

      In der Umkleide verstaute Taso in einem weiteren Schließfach, das er mit dem Armband öffnete, seine Smarts und ließ sich auf versteckte und implantierte Aufzeichnungsgeräte scannen. Dann nahm er den Aufzug nach oben.

      Zimmer 307 sah aus wie jeder andere Warteraum im Krypto One: Wände, Decke, Boden waren weiß, die Einrichtung funktional und anonym. Bis auf ein einfaches Holzbett mit weißer Bettwäsche, einen Stuhl, Schrank und kleinen Kühlschrank mit Erfrischungen war das Zimmer leer. Das angrenzende Badezimmer war ebenso karg und spartanisch eingerichtet. Er legte sich auf das Bett und schaltete mit einem Winken den Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand ein. Seine Identifikationsnummer würde nun mit denen der übrigen Besucher des Kryptocenters durchmischt. Irgendwann würde er für die anonyme Weiterfahrt gezogen. Gäbe es weniger Drohnen, Smarts und Sensoren, wäre ein unbeobachteter Ortswechsel einfacher. So aber gab es nur diese zeitraubende Methode.

      Taso reckte sich und gähnte genüsslich. Der Würfel würde nie erfahren, was er heute noch tun oder mit wem er sprechen würde.

      Taso war über einem alten Spielfilm eingeschlummert, als ihn eine freundliche Frauenstimme weckte.

      »Lieber Besucher«, schallte es aus der Wand gegenüber, »Sie wurden soeben für den Transfer gelost. Bitte begeben Sie sich in die Tiefgarage. Vergessen Sie Ihr Armband nicht.«

      Taso stützte sich auf und sah ungläubig auf die Zeitangabe an der Wand. Nur 35 Minuten. Er hatte hier oft schon länger gewartet. Einmal hatte er sogar zwei Teile einer alten Fantasysaga angeschaut, bis er nach über fünf Stunden das Zimmer verlassen konnte.

      In der Garage stieg er in ein Sefa mit getönten Scheiben und gab sein Ziel an. Langsam setzte es sich in Bewegung und fädelte sich draußen in den Straßenverkehr ein. Lächelnd sah Taso aus dem Fenster. Niemand wusste, dass er in diesem Wagen saß. Er war da und doch von der Bildfläche verschwunden. Ein verdammt gutes Gefühl.

      Zehn Minuten später stand er im Parkhaus von Diagon Alley, der größten der knapp hundert Würfelfreien Zonen der Stadt und Tasos Lieblingsort. Er sog die abgestandene Luft ein. Sie roch nach Freiheit. Zur nächstgelegenen Schleuse ging er so leichtfüßig, als verließe er nach einem gelungenen Auftritt die Theaterbühne. Auch hier musste er sein Armband an einen Sensor halten, denn nur Menschen mit einem Pred-Score von unter 50 oder einer Ausnahmegenehmigung erhielten Zutritt. Durch die geöffnete Schleuse trat Taso in eine hohe Halle mit Backstein an den Wänden und hellem künstlichen Licht an der Decke. Sofort durchströmte ihn ein vertrautes Wohlgefühl.

      Es war kein Vergleich zu der Zeit direkt nach Eröffnung des Komplexes, aber Diagon Alley war noch immer einer der wuseligsten Orte der Stadt. Der einzige wuselige Ort, den Taso mochte. Überall begrüßten sich gelöst wirkende Menschen, lachten und umarmten sich. Er konnte förmlich dabei zusehen, wie die Lasten der vergangenen Woche von ihren Schultern fielen, und warf seine eigenen mit Freude ab.

      Er war nur wenige Schritte gegangen, als auch er auf einen alten Bekannten traf. Kevin begrüßte ihn mit einer kurzen, aber festen Umarmung. Sie kannten sich über Tim, zu dritt hatten sie schon oft einen über den Durst getrunken. Auch heute wollte Kevin einen draufmachen, was Taso dankend ablehnte. Er klopfte Kevin auf die Schulter und ging weiter.

      Auf der anderen Seite der Halle führte eine Tür in einen Raum mit den Kleiderspinden der Stammgäste. Taso hatte seinen gleich bei Diagon Alleys Eröffnung vor sechs Jahren gemietet. Auf Brusthöhe waren eine kleine Kamera und ein Mikrofon in den Spind eingelassen. Taso ließ seine Augen scannen und flüsterte: »Nieder mit dem Kubismus!«

      Er vernahm ein Klicken und öffnete die Tür, wie immer sehr behutsam. Hier verwahrte er seine wertvollsten Habseligkeiten: eine Bananenkiste, die gerade so hineinpasste, wenn man sie senkrecht stellte, mit Erinnerungsstücken an seine Kindheit, Fotos, Urkunden, ein paar selbst geschriebenen Kurzgeschichten und Gedichten, Speicherkarten und einem uralten Laptop. Auf der Kiste stapelten sich ein paar Bücher, darunter die vierte Auflage von Besiege den Dämon, dem Standardhandbuch für Gaukler, und die Originalausgabe eines Comicbuchs von 1953 mit seiner liebsten Donald-Duck-Geschichte, Flip Decision. Darüber hingen eine Maske mit dem Konterfei der Comicfigur »Two Face«, die er seit dem Referendum auf Demos trug, und zwei Outfits, die tatsächlich seinem Geschmack entsprachen. In einem Fach auf Augenhöhe schließlich stand ein kleiner schwarzer Arztkoffer, der Tasos größten Schatz enthielt: die Würfelsammlung. In ihrer Kindheit hatten Peter und er Spielwürfel gesammelt. Kleine und große, mit vier, sechs, siebzehn oder sechzig Seiten, bunte und einfarbige, alte und neue. Darunter waren handgeschnitzte Würfel, Präzisionswürfel, Polyeder, Prismen, Spindeln, Walzen und sogar Kugeln. Würfel aus Holz, Ton, Metall, Elfenbein, Kristall, Knochen und Glas. Mit Augen, Symbolen, Buchstaben und Bildern. Sie stammten von überall auf der Welt. Wann immer sie konnten, hatten Peter und Taso auf den Reisen mit ihrem Vater außergewöhnliche Würfel gesucht. Wenn sie zu Hause waren, hatten sie stundenlang das Internet nach ihnen durchsucht. Über dreihundert Stück hatten sie so in dem Koffer angesammelt, und zu fast jedem kannten sie die Geschichte. Zumindest Taso kannte sie noch, gelegentlich kaufte er sogar noch Würfel hinzu. Peter hatte die Sammlung vermutlich an dem Tag vergessen, als er ihr Elternhaus verließ. Manchmal nahm Taso den Koffer heraus, legte ihn auf den Schoß und öffnete mit leichtem Druck die Klickverschlüsse. Nach und nach besah und befühlte er die Würfel, dachte zurück, lächelte, fluchte. Ab und zu nahm er einen mit nach Hause, um komplexere als schlichte Ja-oder-nein-Fragen zu klären.

      Was ihn seit jeher an Würfeln so faszinierte, hatte Taso nie genau benennen können.


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