Der Würfel. Bijan Moini
immerhin mehr Zeit füreinander hatte, eher zusammengeschweißt als entzweit.
Bis Luke in ihre Klasse kam. Peter war auf einmal wie verwandelt, hing an dem Labersack wie ein Hund an seinem Herrchen. Was immer Luke ausheckte, Peter wollte dabei sein. Heimlich kaufte er sich eine Datenbrille und schlich abends zu Luke und seinen anderen neuen Freunden in den Wald, um dort Krieg zu spielen. Gemeinsam testeten sie die Anmachsprüche einer Dating-App an den Mädchen der höheren Klassen und schmiedeten Pläne für eine Weltreise nach dem Abitur. Lange redete Taso sich ein, dass ihm Peters Luke-Verehrung egal war. Aber als sich sein Bruder auf Lukes Drängen an ihrem achtzehnten Geburtstag einen Soulbookaccount einrichtete, platzte etwas in Taso, und er verpetzte ihn bei ihren Eltern, die von Peters Abtrünnigkeit bislang nichts mitbekommen hatten. Es war fast zehn Jahre her, aber Taso erinnerte sich noch genau an den Streit, der folgte. Ihre Eltern fielen aus allen Wolken, es gab Geschrei und Tränen, Türen knallten und Bande rissen. Ein paar Wochen später zog Peter aus. Ihr Vater schloss sich aus lauter Hilflosigkeit in seinem alten Arbeitszimmer ein und verabschiedete sich nicht einmal von ihm, während ihre Mutter unentwegt auf Peter einredete, der von einer Ecke seines Zimmers in die nächste eilte und seine Habseligkeiten zusammensuchte. Taso hatte teilnahmslos herumgesessen, unfähig zu begreifen, was vor sich ging, und voller Schuldgefühle.
Er verstand bis heute nicht, wie Peter sich vom Rest der Familie so hatte entfernen können – und das noch vor dem Referendum, als es weder Offliner noch Kubisten gab. So konnte Taso es nicht einmal auf den Würfel schieben.
Er sah wieder zu Fritz und brauchte einen Moment, um sich an dessen Frage zu erinnern. »Unsere Eltern leben in Humaning.«
Fritz sah ihn fragend an.
»Einer Würfelfreien Zone auf dem Land.«
Als Fritz ihn nur weiter mit großen Augen ansah, fuhr Taso fort: »In den letzten Jahren sind viele Offliner in WfZs auf dem Land gezogen, Humanisten wie unsere Eltern, aber auch sogenannte Religs, die den Würfel aus religiösen Gründen ablehnen. Die Radikalsten unter ihnen nennen wir Namische, Neue Amische.«
»Von den Namischen hab ich schon gehört.« Fritz nippte mit abwesendem Blick an seinem Sektglas. Taso vermutete, dass ihm seine Smarts eine etwas längere Beschreibung von WfZs eingespielt hatten. »Wie viele Offliner gibt es denn noch?«, fragte er nach einer Weile.
Taso überlegte. »Ich glaube, es haben noch etwa sechs bis sieben Prozent der Bevölkerung einen Pred-Score von unter 50. Ich weiß aber nicht, wie viele ihn aus Überzeugung dort halten.«
»Fritz!«, unterbrach sie Peter vom Sofa und kam leicht schwankend zu ihnen herüber. »Unterhalt dich bloß nicht zu lang mit dem, sonst steigt dein Pred-Score nie!« Er lachte und sah mit glasigen Augen von einem zum anderen. Es versetzte Taso einen Stich, dass Peter ausgerechnet heute noch angriffslustiger als sonst war.
»Schon okay, hier komme ich dafür ja nicht gleich ins Gefängnis«, sagte Fritz lächelnd.
»Das ist gar nicht okay!« Peter ließ ein Rülpsen in der Faust verschwinden. »Tasos Gaukelei kostet meine Kinder verdammt viele Preds – von mir selbst ganz zu schweigen!« Er wusste, dass sich Taso nicht öffentlich provozieren ließ. Trotzdem versuchte er es ständig. Taso spürte heiße Wut in sich aufsteigen, Wut, die nicht ausbrechen durfte. »Heute musste er schon wieder zur Polizei! Das war das vierte Mal dieses Jahr, oder?«
Taso antwortete nicht. Peter warf die Arme in die Luft. »Ein Wiederholungsgefährder! Mein eigener Bruder!«
Taso widerstand dem Impuls, eine Hand zur Faust zu ballen. Die umstehenden Gäste sahen zu ihnen herüber. Fritz fühlte sich sichtlich unwohl. »Hast du die Kinder gesehen?«, fragte er mit suchendem Blick, aber Peter ignorierte ihn.
»Ich musste Taso sogar mal aus dem Gefängnis abholen!«
»Nach einer Demo«, sagte Taso so ruhig wie möglich.
»Peter!« Roya war offenbar von ihrer Gastgeber-App alarmiert worden. Sie ergriff sachte den Oberarm ihres Mannes. Als Peter seinen harten Blick nicht von Taso löste, wiederholte sie noch bestimmter: »Peter!« Er drehte sich zu ihr. »Gehst du mal bitte zu Thomas und Jasmin auf die hintere Terrasse? Die haben nach dir gefragt.«
Peter stand einen Moment unentschieden herum, bevor er sich abwandte und davonging. Auf dem Weg zur Terrasse holte er sein Cocktailglas vom Couchtisch und nahm einen ausgiebigen Schluck.
Taso entspannte sich etwas, Fritz atmete hörbar aus. »Ich schaue mal nach Lin«, murmelte er und verschwand ebenfalls.
Roya sah Taso entschuldigend an. »Tut mir leid, er ist nicht gut drauf.«
»Was ist denn los mit ihm? So heftig war es schon lange nicht mehr. Das kann doch nicht nur an den Cocktails liegen.«
»Yasin hat immer noch keine Spezialisierungskurse.«
Taso sah sie fragend an.
»Kurse, in denen gezielt die Stärken der Kinder entwickelt und gefördert werden.« Er hatte davon noch nie gehört, war aber auch nicht überrascht, dass der Würfel schon Sechsjährige in Schubladen stopfte. »Er ist jetzt der Letzte in der Klasse, der nur Allgemeinkurse besucht.« Zu Tasos Überraschung klang auch Roya nun verärgert. »Sein Profil sei noch nicht klar genug, sagt die Schulleitung.«
Plötzlich verstand Taso. »Und Peter denkt, das ist meine Schuld.«
»Ja.«
»O Mann …« Dass Peter ihn für die vermeintlich verkorkste Ausbildung seines Sohnes verantwortlich machte, war neu.
Wie auf Kommando rannte Yasin um die Ecke, mit einem kleinen Vogel in der Hand. »Guck mal, Taso, hat Papa mir geschenkt!«, rief er und warf das Tier in die Luft. Es entpuppte sich als ein Kolibri, der munter im Wohnzimmer umherflog.
Taso wollte schon den Kopf einziehen, als seine SmEyes neben dem Vogel ein Fenster mit Informationen anzeigten, die den Kolibri als »Ped« auswiesen, als personalisierte Drohne, Eigentümer Yasin Aziz-Doff, Hobbynutzer. Peds waren erst seit Kurzem für die breite Masse erschwinglich und schon jetzt der letzte Schrei. Die Werbung bezeichnete sie als »das dritte Auge für Klein und Groß«. Man konnte mit ihnen um die Ecke, nach hinten oder aus der Totalen blicken, in einem Menschenauflauf den Überblick bewahren und bei Konzerten seinen Schwarm oder bei Fußballspielen seinen Helden aus der Nähe bestaunen. Wenn man irgendwo anstand, erkundete das Ped die Lage am Anfang der Schlange, beim Bergsteigen die nächsten Griffe oder ganze Routen, oder es hielt bei Übernachtungen im Freien Wache. Außerdem schnappten Peds mit etwas Glück wertvolle Daten auf, die sonst niemand erhob. Sie flogen autonom, ihre Besitzer mussten nur Ladeports auf den Schultern tragen. Die meisten Peds nahmen für Smartsträger eine besondere Gestalt an, häufig die eines kleinen Vogels. Aber mit entsprechendem Zusatzabo konnte man ihnen auch jederzeit ein anderes Aussehen smalen. Besonders beliebt waren Feen, Superhelden oder weiße Engelchen.
Für Taso waren Peds eine weitere Ausgeburt des Teufels. Es wunderte ihn nicht, dass Peter seinen Kindern ein Ped gekauft hatte, trotzdem ärgerte es ihn in diesem Moment sehr. Er schluckte und atmete tief ein, bevor er sprach. »Wie schön, ihr habt Yasin ein Ped geschenkt!«
Roya sah ihn unschlüssig an. Offenbar hatte es doch ironisch geklungen. Taso biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht war das Ped sogar ihre Idee gewesen. Er hätte es einfach ignorieren sollen.
»Ist er nicht schön?«, fragte Yasin lachend.
Bevor Taso antworten konnte, kam Peter von der Terrasse zurück. Er blickte immer noch missmutig drein.
Bevor er sich einen anderen Gesprächspartner suchen konnte, winkte Roya ihn heran. »Taso hat gerade Yasins neues Ped bewundert.«
»Taso, Taso, du musst gucken!«, rief Yasin wieder.
Taso hielt einen Daumen hoch und lächelte. Diese kleine Geste reichte offenbar, um Peter wieder auf hundertachtzig zu bringen. Seine Miene verfinsterte sich, Roya wischte hektisch vor sich in der Luft herum – wahrscheinlich aktivierte sie die Kindersicherung. Yasin würde sie über seine Smarts nun mit freundlich lächelnden Gesichtern sehen und zu einem belanglosen Thema wie Arbeit